Ich nahm also den Bus nach Nizza. Er las die Fahrgäste am Hafen auf. Ich wartete, bis die Damen eingestiegen waren. Sie sahen von hinten jung und von vorne alt aus. Sie hatten sich wie immer überschminkt und schienen im ständigen Streitgespräch mit der Zeit.
Der Bus raste an der Cote d´Azur entlang. Mir gegenüber befand sich eine der Damen. Sie war mager, ihr Haar so weiß und fein wie Spinnenfäden. Ihre Lippen rosa und auf ihrem Oberteil glitzerte ein silberner Playboy-Hase. Der Bus bremste rabiat an einer Kreuzung und die Dame taumelte mir an die Brust. Ich war benebelt von einer Wolke aus Puder und Parfum und half ihr erschrocken auf ihren Sitz zurück. Sie entschuldigte sich und hob ihr Handy vom Boden auf. Beschämt sah sie zu den anderen Damen herüber.
"Sind sie nicht gestürzt?"
"Nein, aber wenn, hätte das nichts ausgemacht. Ich bin schon behindert."
Die Damen kicherten und sahen wieder stumm aus dem Fenster. Ich spielte mit meinen kaputten Spitzen.
In Nizza angekommen schlenderte ich durch die Straßen. In einer engen belebten Gasse saßen drei Mädchen in einem Café. Der Ober stellte drei Sandwiches auf den Tisch. Die Mädchen unterhielten sich. Ein Penner kam zu ihnen, begrüßte sie höflich, nahm die Sandwiches und rannte davon. Ich freute mich. Das war ein schöner Tag. Ich hatte das Gefühl heute könnte ich mich allmählich wieder mit dem Leben vertragen, denn wir hatten uns gestritten. Manchmal ist es ziemlich unfreundlich zu mir. Wir wissen beide, dass es keinen Gott gibt und kein Schicksal, sondern nur uns beide. So eine lange Partnerschaft (mittlerweile sind wir schon zwanzig Jahre zusammen) birgt auch immer Konflikte in sich. Das ist natürlich. Jeder, der genauso lebt wie ich, kennt diese Probleme.
Aber heute, wie erwähnt, verstanden wir uns wieder besser. Ich fragte die Mädchen nach einem preiswerten Friseur.
"Immer geradeaus!" Ich steckte mir eine Zigarette an und befolgte den Ratschlag.
Die Friseursalons, bei denen ich ankam, hatten keine freien Termine mehr. Ich lief ziellos die blinkende, hupende und enge Gasse entlang und suchte nach weiteren Schildern mit der Aufschrift "Coiffeur".
Ein Mann in schwarzem Mantel kam mir entgegen. Seine Haut war zimtfarben und sein Haar kaffeeschwarz. Er lief so elegant über die Straße wie ein Modedesigner und rief mir zu: "Du hast Beine wie ein Star!" Ich bedankte mich geschmeichelt und sah an meinen Starbeinen herunter. Seine schwarzen Augen funkelten erfreut zurück.
"Danke, wissen sie wo hier ein Friseur ist? Nicht zu teuer."
Er breitete die Arme aus und rief voller Glück:
"Ich bin ein Friseur! Was möchtest du machen lassen?"
Er betastete neugierig meine kaputten Spitzen.
"Meine Güte, ich habe heute wirklich Glück! Also...ich wollte sie einfach abschneiden lassen. Die Spitzen sind splissig... Vielleicht bis zu den Schultern, ja das wäre gut."
"Ja, bis zu den Schultern!" Er sah mich an wie ein Bildhauer einen Steinklotz.
"Willst Du erst einmal einen Kaffee mit mir trinken?"
"Na fein."
Wir tranken einen Kaffee zusammen. Auf dem Weg in das Café hatte er diverse Friseure, die ich zuvor konsultiert hatte, begrüßt und mich vorgestellt. Er kannte den Namen unserer Kellnerin. Er erschien mir wie der König dieser Straße.
"Warum siehst du mich immer so genau an? Das bringt mich zum Lachen."
"Ach, nur so...Ich finde andere Menschen immer spannend. Besonders Männer."
Er grinste.
"Ich schneide Dir bei mir zu Hause die Haare, wenn Du willst. Du brauchst nichts zu bezahlen."
Ich überlegte und rührte in meiner Tasse. Er kannte alle Friseure dieser Straße. Wieso sollte er sie kennen, wenn er kein Friseur war? Wie erkennt man einen Friseur? Ich schaute auf sein Haar. Es war schwarz, einige Strähnen fingen an zu ergrauen. Es war kurz und zurück gekämmt. Nicht besonders einfallsreich.
Wir schwiegen eine Weile. Schließlich kamen wir über die grundlegenden Dinge ins Gespräch. Wie heißt Du? Woher kommst Du? Was machst Du hier? Wie lange bleibst Du noch? Gefällt es Dir?
Er hieß Guy. Seine Eltern waren Italiener, aber er war hier in Nizza geboren. Er war geschieden und suchte eigentlich eine Frau in seinem Alter. Er sang jeden Mittwoch in einer Bar und schrieb die Lieder auf englisch. Er fühlte sich einsam. Er wollte nur jemand, mit dem er manchmal ausgehen kann, mit dem er essen kann. Um fünf Uhr kommt eine Frau zu ihm und lässt sich die Haare schneiden.
Wir brachen auf. Seine Wohnung lag gleich um die Ecke. Er stand mir gegenüber im Fahrstuhl und rauchte. Ich überlegte, ob es an manchen Tagen immer so einfach sei, dass zu finden, was man sucht. Er war mit einer Frau zusammen und ich hatte meinen Friseur. Meinen singenden Friseur.
Seine Wohnung war chaotisch und klein. Auf dem Boden lagen eine rote Matratze, Koffer, Zeitungen, ein Aschenbecher, Hemden, ein Fernseher und ein alter Fön verstreut.
Wir begaben uns auf den Balkon. Man blickte auf einen Hof. Die Häuser schienen das Spiegelbild unseres eigenen, nur das gegenüber niemand auf dem Balkon saß. Der Ausschnitt des Himmels über uns war grau und vor unseren Köpfen wehte eine Palme.
"Wo wollen wir denn die Haare schneiden?"
"Einen Moment."
Er stand auf und durchwühlte sein Zimmer. Er kam mit einer blauen Papierschere, einer alten lila Plastikbürste, einem braunen Handtuch und dem alten kleinen Föhn wieder. Er deponierte die Utensilien auf dem Tisch. Ich schluckte.
"Alles, was wir brauchen."
"Fast! Du musst dir noch die Haare waschen! Hier, nimm das Handtuch! Die Dusche ist gleich da drüben!"
Ich betrat das winzige Badezimmer und wusch mir die Haare. Der Abfluss war voller Haare. Haare anderer Kunden, dachte ich und atmete auf. Während ich mir die Haare mit dem einzig vorhandenen Aprikosen-Shampoo von Lidl wusch spielte er im Wohnzimmer und sang:
"My lovely girl is washing her hair, lalala... My lovely girl is washing her hair...and I wait for her, and I wait for her..."
Ich lachte und kam mit einem Turban aus dem Badezimmer. Ich saß auf dem Balkonstuhl und legte das Handtuch ab. Er kämmte mein Haar glatt und nahm die Schere in die Hand. Er schnitt in Windeseile Zentimeter um Zentimeter ab. Er schien nicht einmal dabei nachzudenken. Ich hörte nur das Schnittgeräusch der Schere und sah die feuchten Strähnen auf meinen Rock fallen.
"Ist das nicht ein bisschen kurz?"
"Mach Dir keine Sorgen! Ich lasse das Wichtigste dran!"
Ich machte mir Sorgen und versuchte mich zu beruhigen, indem ich die Palme betrachtete, die gelassen im Wind schaukelte. Nach drei Minuten war er fertig und begann mich zu föhnen.
Mir geschahen andauernd skurrile Dinge, aber das war mit Abstand das eigenartigste erste Rendezvous, was ich je erlebt hatte.
Nachdem er einzelne Strähnen in Form gekämmt hatte, durfte ich mich in das kleine Badezimmer begeben und mich ansehen. Furchtsam sah ich in den Spiegel. Ich sah gut aus. Die Haaren fielen in perfekten leichten Stufen bis zu den Schultern. Er war ein kleiner Meister, dieser singende Friseur.
Wir standen auf meinen nassen Haarsträhnen und küssten uns zum Abschied.
Ich stieg belustigt in den Bus ein und strich mir noch etwas unsicher durch das gekürzte Haar.
"Eine Fahrkarte, bitte!"
Der Busfahrer sah mich an wie eine Fee und stotterte:
"Mit großer Freude, Madame."
Ich lachte und ein älterer Herr hinter mir murrte:
"Für mich auch eine Karte! Mit großer Freude, bitte!"
Änderungen:
1. man kÄmmt sich die Haare
2. Zentimeter und nicht Cent
