Neben dem Verstand

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Perry

Beitragvon Perry » 30.10.2007, 16:47

Neben dem Verstand


Kaum öffnest du die Tür
schütten sie dir Sonne ins Gesicht
Verlässt du geduckt das Haus
verfolgen dich Schattenraben

Sie schmieden ein Komplott
mit den Kirchtürmen
deren Lautschlagen dich
durch Gräberreihen treibt

Schreiend schreckst du auf
erkennst ein Wegkreuz
Regen fällt auf deine Wangen
von fern Abendläuten

woitek

Beitragvon woitek » 30.10.2007, 17:31

Hallo Perry,

hier ist es dir gelungen schizophrene Wahnvorstellung bildsicher und sprachgewand einzufangen. Besonders gefällt mir das Wiederaufgreifen
des Kirchen/Tod/Gräber-Themas in der zweiten Strophe, durch das Wegkreuz in der dritten.

Gefällt mir.

Gruß
Woitek

Perry

Beitragvon Perry » 30.10.2007, 23:28

Hallo Woitek,
ja ich habe durch enge Bezugsschleifen (Gräber/Wegkreuz etc.) und Gegensätze (Sonne/Regen etc.) versucht eine dichte und widersprüchliche Atmosphäre zu schaffen. Das LyrIch findet sich in seinem Verfolgungswahn schließlich vor dem Wegkreuz wieder, vielleicht die letzte Chance zurück in die Realität zu finden.
Danke für die positive Einschätzung und LG
Manfred

woitek

Beitragvon woitek » 01.11.2007, 19:07

Hallo Perry,

ich habe mich noch eingehender mit deinem Text beschäftigt.

Der Titel scheint mir nun unglücklich gewählt.

"Neben dem Verstand"

Nach Kant ist der Verstand das Vermögen, Begriffe zu bilden und diese zu Urteilen zu verbinden. Dem Verstand gegenüber steht die Vernunft.

Nun ist es wichtig zu wissen aus welcher Perspektive der Titel wahrzunehmen ist. Ich gehe davon aus, dass es im Text um die Wahnvorstellungen eines Individuums geht. Bezieht sich der Titel nun auf dieses müsste es doch eher "Neben der Vernunft" heißen, oder? Bezieht sich der Titel auf die Wahrnehmung des LI müsste es doch "Neben dem Verstehen" heißen.

Jetzt möchte ich noch kurz auf die letzten beiden Verse zu sprechen kommen. Sie erscheinen mir doch etwas ungünstig formuliert.

Regen fällt auf deine Wangen
von fern Abendläuten


Die meisten Leser werden diese beiden Zeilen zwangsläufig aufeinander beziehen, da im letzten Vers das Prädikat fehlt. So "fällt" hier für mich "Abendleuten auf deine Wangen". Das ist nicht unmöglich nur sehr sehr ungewöhnlich ;)

So weit fürs erste, doch ich bin mit deinem Text noch nicht fertig :)

Gruß
Woitek

Mucki
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Beitragvon Mucki » 01.11.2007, 19:47

Hallo Manfred,

den Verfolgungswahn hast du stilsicher rübergebracht. Man hetzt als Leser selbst mit sozusagen. Nur die letzten beiden Zeilen passen nicht so recht dazu. Sie fallen m.E. ziemlich ab von den sonst ziemlich "dramatischen" Zeilen. Da würde ich noch einmal drüber nachdenken.
Zum Titel: M.E. verrät er zuviel. Aus dem Text geht ja deutlich hervor, dass LI paranoid ist. Daher würde ich einen ganz anderen Titel wählen, der nicht bereits auf den Inhalt verweist.
Saludos
Mucki

Perry

Beitragvon Perry » 01.11.2007, 20:10

Hallo ihr Beiden,
da ihr die gleichen Punkte ansprecht, will ich euch gemeinsam antworten:
Der Titel soll zwei Aspekte beleuchten. Zum einen ist er in seiner wörtlichen Übersetzung von Paranoia ein Hinweis auf den Textinhalt (Mucki, der Text braucht kein Verschleiern) und zum anderen in der abgebrochenen Lesart "Neben dem Verstand ... gibt es noch Anderes."
Was die beiden letzten Zeilen anbelangt, sind sie jeweils versöhnliche Bogenabschlüsse:
"ins Gesicht geschüttete Sonne"/"auf die Wangen fallender Regen bzw. "Lautschlagen der Kirchenglocken"/"von fern rufendes Abendläuten."
Beides soll versinnbildlichen, dass das LyrIch noch einmal den Weg zurück in die Realität gefunden hat.
Danke für euer Interesse und LG
Manfred

Maija

Beitragvon Maija » 02.11.2007, 09:53

Hallo Perry,

Diesmal fällt es mir schwer zu schreiben, da ich an Schizophrenie erkrankt bin und ich mich in deinem Text gut wieder erkannt habe. ;-)

Schreiend schreckst du auf


Hier wäre für mich das Wort: "Müde schreckst du auf" sinnvoller, obwohl ich dich auch so gut verstanden habe.

Gruß, Maija

Perry

Beitragvon Perry » 02.11.2007, 14:23

Hallo Maija,
Schizophrenie, lässt uns ein wenig von der Macht aber auch der großen Gefahr die dem Geist innewohnt spüren. Wobei ich mir durchaus der Tragödie und des Leides von Betroffenen bewusst bin.
Da das LyrIch noch sehr aktiv seinen Verfolgern zu entkommen versucht, ist "schreiend" mit der Lautwiederholung "schreckt" hier für mich passender.
Danke und LG
Perry

Maija

Beitragvon Maija » 02.11.2007, 16:35

Hallo Perry,

Scheint ja bei dieser Erkrankung viele Arten und Stufen zu geben. ;-)
Die Tragödie ist das Wissen über die Kunst und deren Spiele.

Gruß, Maija


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