

Es war der Morgen des 30. Juni 2007. Monsieur Morgenrot stand am Fenster seiner Holzhütte und betrachtete zwei grauhaarige Damen, welche Erdbeerkörbe die holprige Dorfstraße entlang schleppten.
Was sollte Monsieur heute an seinem Geburtstag unternehmen? Das war jetzt schon sein 56. Sommer. Eigentlich ist es erschreckend, wie wenige Sommer so ein einzelner Mensch hat, dachte Monsieur gähnend.
„Wie schön, dass ich geboren bin / Man hätte mich sonst sehr vermisst / Wie schön, dass ich geboren bin / ich gratuliere mir / Geburtstagskind…“
Er wandte seinen Blick auf den rot funkelnden Sauerkirschbaum. Die Kirschen wirkten auf ihn wie kleine Blutstropfen in Mitten grüner Kinderhände. Auf einmal wurde er traurig. Im Frühling hatte der Obstbaum noch in voller weißer Blüte gestanden und nun waren die Blüten verschwunden, als hätte er den Frühling nur geträumt.
Andererseits gab es nun Kirschen, aber wieso kann der Mensch nicht beides zur selben Zeit genießen?
Blüten und Früchte hängen nie zur selben Zeit am Baum. Man muss sich immer für eine Sache entscheiden. Obwohl meine Entscheidung und meine Vorliebe nichts an der Jahreszeit ändern würde, überlegte Monsieur Morgenrot.
Will ich nun Kirschen oder weiße Gärten? Will ich mit einem Schiff reisen oder fliegen? Will ich den Kaffee schwarz oder mit einer der vielen <<geschmacksablenkenden Substanzen>> trinken? (<<Geschmacksablenkende Substanzen>> wie Zucker!)
Vielleicht gibt es diesen Zucker ja für alle Dinge dieser Welt. Wenn ich mit dem Schiff reise, werde ich mir die Fahrt versüßen, indem ich zu mir sage: „So ein Flugzeug könnte entführt werden. So ein Flugzeug könnte abstürzen. Im Flugzeug ist es eng und die Brötchen sind pappig.“
…und schon erfreut mich mein Dampfer! Aber im Grunde habe ich keine Ahnung wie es im Flugzeug gewesen wäre und was am Flughafen auf mich gewartet hätte.
Also sind meine Zweifel der Zucker!
All diese Überlegungen steigerten Monsieurs Melancholie, sodass er sich umwandte und zu seinem dunklen und schweren Sekretär schlenderte. Er kreiste den Schlüssel zur rechten Schublade, zog sie auf, griff tief hinein, drehte an einem kleinen Rädchen, das sich anhörte wie das einer Spieluhr, und zog ein Papier heraus.
In freudiger Erwartung entrollte Monsieur das Schriftstück und las:
Liste der aufheiternden Dinge:
1. Suchen sie sich zwei Zahnstocher, einen Absatz im neuen Testament, grüne Götterspeise und den Vorsitzenden des lokalen Wandervereins. Einen der Zahnstocher demselben reichen. Den anderen in ihr Lieblingswort im ausgewählten Bibelabschnitt…
„Das ist doch Schwachsinn!“ murmelte Monsieur Morgenrot. "Wo soll ich jetzt auch den lokalen Vorsitzenden des Wandervereins herbekommen? Haben wir in diesem Dorf überhaupt einen Wanderverein? Hat jeder Ort seine eigenen Wanderer?"
-Monsieurs Blick stieß auf einen der unteren Punkte.
26. Erfinden sie eine einfache Theorie, an Hand simpler Gegenstände und versuchen Sie diese an die Öffentlichkeit zu bringen, um so die Welt zu verändern und selbst berühmt zu werden.
Monsieur Morgenrot dachte über den Gegenstand nach. Er sah die vielen „Hefte für politische Bildung“ auf seinem Sekretär liegen und aus dem Bücherregal strömten hunderte tote Gestalten und Geschichten auf ihn zu. Er sah einen blauen Kugelschreiber, einen schwarzen Buntstift, Klebstoff, einen neonfarbenen Filzstift, einen Hemdknopf, eine Wanduhr…
Eine Uhr, die auf viertel nach drei stand! Sie war stehen geblieben. Monsieur Morgenrot holte zwei Batterien aus der Küche und legte sie ein.
„Batterien!“ dachte Monsieur voller Euphorie. „Jeder Mensch…jedes Tier…jedes Lebewesen ist eine Batterie! Ich kann die Zeit weiterlaufen lassen durch Batterien! Ohne Batterien bleibt die Zeit stehen!“
-Monsieur setzte sich an den Sekretär und schrieb: Die Theorie der Batterie
Zur selben Zeit saß Madame d´Oiseau zweihundert Meter entfernt in einer rauchigen Kneipe und versuchte (einmal wieder) den Aufenthaltsort von Monsieur Morgenrot heraus zu finden, da er auf ihre Briefe beharrlich schwieg wie eine Schildkröte.
An einem langen, hohen Holztisch saßen ihr der Seemann Lehmann, der Rentner Rainer und der immerzu schmunzelnde Gastwirt gegenüber. Ihre Gesichter waren allesamt vom Nebel der Zigaretten eingehüllt, als könnten sie gleich selbst in diesem Rauch aufgehen wie Geister…
„Na, watt machen wir denn hier?“ erkundigte sich der Rentner, den alle Rainer riefen.
„Ich fahre hier Fahrrad.“ entgegnete Madame etwas verlegen.
„Jemand besuchen, watt?“
„So ähnlich.“
„Wen denn? Vielleicht kenn wa den.“
„Ich glaube nicht, dass sie den kennen.“
Daraufhin starrten der Seemann Lehmann, der schmunzelnde Gastwirt und der Rentner Rainer erwartungsvoll in Madames Richtung. Diese rührte in ihrer Tasse und murmelte:
„Morgenrot.“
„Morgenrot?“ fragte Rainer lautstark und nippte an seinem dritten Bierkrug.
„Kennt ihr hier nen Morgenrot?“
„Nee…“
„Wo wohnt der denn?“
„Ähm…in der Dalmatienstraße.“
„Dalmatienstraße… Is did der aus der Stadt?“
“Ja.“
Plötzlich wussten der Gastwirt, der Seemann und Rainer sofort, wer Monsieur Morgenrot war und fingen an über seinen Beruf zu spekulieren. Dabei waren sie sich einig, er sei „irgend so ein Baumeister“, hätte eine Stahltür zu Hause, gegen die mit aller Kraft „gekloppt“ würde, sage nicht mehr als „Guten Tach“ (was Rainer sehr bedauerte) und würde sich sicherlich über Madame d´Oiseaus Besuch freuen, was diese allerdings verneinte.
Der schmunzelnde Gastwirt strich sich durchs graue Haar und fragte:
„Is did ne Überraschung?“
„Kann man so sagen.“ lachte Madame.
„Na, na, na…“ rief der Wirt und wedelte dabei mit dem Zeigefinger vor Madames Augen.
„Neulich bin ick an dem vorbei jeloofen.“ stieg Rainer in das Gespräch ein.
„Der hat in seene Garten gestanden und denn hab ick jesagt: Guten Tach. Und der ooch.“
-Traurig sah Rainer auf seinen Bierkrug. Madame nickte verständnisvoll.
Nachdem der schmunzelnde Gastwirt noch etwa vier Mal seinen Zeigefinger vor Madame schwenkte und „Na, na, na…“ bemerkt hatte, musste sie sich wieder auf den Weg zum Bahnhof machen, denn der Seemann Lehmann war Monsieur Morgenrot auf seinen Reisen des Öfteren am „Regener Hafen“ begegnet. Ob Monsieur wohl dort zu finden sei?
Währenddessen lenkte Monsieur Morgenrot sein neu erworbenes himmelblaues Elektroauto tatsächlich in Richtung des Regener Hafens, da dort, so vermutete er, besonders viele Touristen sein würden, welchen er seine Theorie vermitteln könnte. Der Weltruhm war also nur noch einige Kilometer entfernt, als er plötzlich einen Supermarkt am Straßenrand bemerkte.
Monsieur schob seinen Einkaufswagen bedächtig an Blumenkohl, Sellerie und Co vorbei, bis er schließlich in der Elektroabteilung ankam. Er drehte eine der Verpackungen um und las:
Achtung: Nicht aufladen, nicht ins Feuer werfen, nicht öffnen, korrekt einsetzen, Batterien bei Nichtgebrauch entnehmen
„Faszinierend.“ Dachte Monsieur und überlegte, dass so eine Batterie dem Menschen immer ähnlicher würde. Einen Menschen, der seine Energie verbraucht hat, kann man nur schwer wieder beleben, die Hexenverbrennung wurde abgeschafft...
Monsieurs Gedanken wurden durch die elektronische Melodie seines Handys unterbrochen.
„Pedro Morgenrot?“
„Pedro, mon ami! Was treibst Du in Deinem verregneten Heimatland? Wie sieht es aus mit den elenden Weibern?“
„Graver?“
„Natürlich ist es Dein Freund Graver! Weißt Du, ich saß gerade hier auf einer Holzbank vor der Universität, in der ich arbeite.“
„Du bist jetzt Dozent?“
„Nein, ich putze dort! Es ist ganz prächtig! Ich wische den Staub der großen Geister fort, um meine eigenen Fußspuren zu hinterlassen!“
„Aha.“
„So mein Freund, ich habe eine Bitte an Dich.“
„Was denn?“
“Ich möchte, dass Du jemanden für mich entführst.“
„Wie bitte?“
„Es handelt sich um eine Frau. Sie besitzt wichtige Abschnitte aus meinem noch unveröffentlichten Essay mit dem Titel Eva, Du warst ein Rippchen zuviel“
„Graver, ich halte Deine frauenfeindlichen Äußerungen für vollkommen abwegig.“
„Hör mir erst einmal zu, Pedro! Dieser Titel ist ja nur der meiner Arbeitsfassung. Das eigentliche Exemplar soll heißen: Glück war, bevor die Damen kamen.“-
„Wer ist denn die Frau, die Dich bestohlen hat?“
„Eine furchtbare Person. Sie hat in derselben Pension wie ich übernachtet und wir stritten uns einige Abende über die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft. Ich zeigte ihr mein letztes Werk, Die Verbindung des Weiblichen mit -“
„Ich kenne den Titel.“
„Natürlich. Sie hielt mir stundenlange Moralpredigten und hörte auf kein einziges Wort von mir. Sie nickte nur ständig wie ein Roboter mit Wackelkontakt und sie hatte eine wirre, kurze braune Mähne. Ich gab ihr mein Manuskript und sie muss das letzte Kapitel entwendet haben. Ich habe keine Kopie, Pedro. Ich denke, sie wird es uns nur unter großen Mühen zurückgeben. Also musst Du sie entführen und festhalten, bis ich eintreffe.“
„Wie heißt sie denn?“
„Madame Cheval.“
„Gut, ich werde sie suchen.“
„Merci, mon ami! Bis bald!“
Monsieur Morgenrot erwarb die Batterien als Anschauungsobjekte und notierte den Namen „Cheval“ in seinem Notizheft.
Madame d´Oiseau pflückte derweil eine weiße Blüte aus einem fremden Garten, die sie an eine kleine Trompete erinnerte. Sie steckte die Trompetenblume an einen fremden Briefkasten und sah auf die Uhr. Kurz nach eins und der Regener Hafen war immer noch so leer. Vielleicht ankern die Schiffe am Mittag und das Meer döst mit den Kapitänen.
Madame trat ans Ufer, beobachtete einige kleine Motorbote und warf Kekskrümel ins trübe, ölige Wasser. Es kamen einige graue Fische und tummelten in wilden Kreisen um die Kekse herum, als ob sie tanzten.
Vielleicht bin ich auch ein Fisch und Monsieur Morgenrot ein Maikäfer. Er fliegt und ich schwimme. Wir leben beide vor uns hin und keiner kennt die Welt des anderen, aber der Himmel und die fliegenden Tiere spiegeln sich im Wasser. So berührt seine Welt immer meine, ohne das wir uns wirklich näher sind. Ich wäre lieber auch ein Käfer und wenn es nur ein einziger Mai sein könnte, in dem wir auf einem Blatt schlafen.
Monsieur Morgenrot hatte in einem Touristen-Informations-Zentrum die Auskunft erhascht, dass es noch diesen Abend einen „philosophischen Kongress“ in der Stadt geben würde. Allerdings müsste man sich für diesen mit einer fertigen Denkschrift um spätestens 14 Uhr (das war in einer halben Stunde) angemeldet haben. Hastig begab er sich zum Hafen, denn dort wartete der Elektrowagen.
Als Madame d´Oiseau ihn zum Wagen schlendern sah, schlug ihr Herz schneller als ihre Armbanduhr und ihre Beine zitterten leicht. Sie traute wie so oft kaum ihren Augen und fragte Monsieur Morgenrot:
„Kann ich vielleicht einmal mit ihnen sprechen?“
„Wenn es nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt.“ Meinte Monsieur, in Gedanken an den Kongress.
Viel zu lange Sekunden vergingen, denn es hatte Madame wie jedes Mal die Sprache verschlagen, als sie seine blauen Augen sah. Jetzt war sie wirklich ein stummer Fisch.
Monsieur Morgenrot zog die dunklen Augenbrauen an und es lag eine Spannung in der Luft, als ob der Boden gleich brennen würde.
„Ich weiß, es klingt verrückt, aber seit wir uns das erste Mal sahen, in den gelben Fluren, habe ich sie gesucht und ihnen geschrieben. Ich dachte sie lesen es und reagieren…“
„Habe ich nicht gelesen.“ Meinte Monsieur Morgenrot, der fürchtete seine Anmeldung zu verpassen.
Etwas entgeistert und erschrocken stand Madame schweigend vor ihm. Monsieur Morgenrot brach das Schweigen.
„Sehen sie, ich erkläre es ihnen an Hand einer Theorie. Jeder Mensch, so auch sie ist vergleichbar mit einer Batterie. Sie haben gute und schlechte Seiten, einen Plus- und einen Minuspol. Sie haben viel Energie, aber sie müssen sie woanders hinleiten. Ich bin das falsche Objekt dafür.“
„Ich weiß… Aber ich bin trotzdem verliebt in Sie.“
Monsieur Morgenrot lächelte verlegen und eilte entschlossen zu seinem Wagen mit den Worten:
„Ich kann ihnen da nicht entgegen kommen, ich muss jetzt leider zu einem Kongress.“
Madame d´Oiseau fühlte sich in diesem Augenblick wie ein gestrandeter, zappelnder Fisch, der an seiner Umwelt erstickt. So traurig war die Welt ohne jeden Traum und jede Hoffnung, ohne Monsieur Morgenrot.
In der Nacht zum Kongress öffnete sich Madames Zimmertür mit einem lauten Knarren. Monsieur Morgenrot trat in den orangen Raum, setzte sich neben sie auf das Bett und beide schwiegen wie zwei leise Tiere. Madame umarmte und küsste Monsieur Morgenrot und fühlte sich so leicht und frei, als ob die beiden sich wirklich auf einem grünen Blatt im Mai lieben würden und wenn sie seinen Namen flüsterte, dann hörte er sich so weich und warm an wie eine Sommerdecke.
Bis Madame die Augen aufschlug und wieder begannen die Tränen zu laufen.
Aber Fische weinen ja nicht.
Forsetzung folgt - wenn ihr wollt !