Seit Generationen befindet sie sich in unserem Familienbesitz – sie ist Vorhang, Tür und Schranke, Brücke, Strickleiter und Netz. Behausung ist sie, Gefängnis und vielleicht irgendwann einmal Sarg. Ich glaube, Schliane ist unsterblich.
An dem Tag, an dem ich von zu Hause auszog, holte meine Mutter eine Gartenschere, nahm mich beiseite und berichtete, wie sie selbst an diese Pflanze gekommen war:
Es war in ihrer Studienzeit. Sie besuchte in den Semesterferien meine Großtante Eva in ihrem Häuschen an der Ostsee. Damals schon pflanzenverrückt, stand sie dort wie angewurzelt vor einem riesigen Blumenfenster. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm: Schweinsohrbegonien quiekten, als ob der Futterautomat ausgefallen war. Schwiegermutterzungen keiften, fleißige Lieschen quasselten und die Goethepflanzen studierten mit ihren zahlreichen Nachkommen Verse ein. Nur das Gottesauge schien sanft auf ihr zu ruhen, während sie plötzlich spürte, wie etwas von unten in ihre Schlaghosen griff und ihr ein feuchtes Blatt in die Kniekehle legte.
Auf ihr entsetztes Schreien hin war Tante Eva sofort zur Stelle, zog ein Tortenmesser aus einer Schublade und hieb eine mächtige Ranke der Schlingpflanze ab, die sich in das Hosenbein verirrt hatte. Tante Eva hüllte den Ableger in feuchtes Küchenkrepp und übergab ihn meiner Mutter. Dabei erzählte sie, dass „Schliane“, so nannte sie das Gewächs, sie schon von etlichen Einbrechern bewahrt hätte. Schliane sei äußerst sensibel und dulde keine Fremden in ihrer Nähe. So sollte sie nun auch meine Mutter beschützen!
Am nächsten Tag rief meine Mutter bei Tante Eva an, denn sie hatte in ihrem Schreck vergessen zu fragen, wie man es anstellt, dass Schliane einen nicht selbst angreift. Immerhin war auch der Gatte von Tante Eva vor einigen Jahren unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen – es hieß, bei einem Unfall im Garten. Große Bestürzung überkam meine Mutter, als eine Nachbarin sich am Telefon meldete und unter Tränen mitteilte, dass Tante Eva tot aufgefunden worden sei.
Dennoch brachte Mutter es nicht über sich, die geheimnisvolle Pflanze zu entsorgen. Sie nahm Schliane mit in ihre Wohngemeinschaft, wo sie am Hochbett emporranken durfte. Der eine oder andere ungeschickte Verehrer soll sich so darin verheddert haben, dass er die Verführungsversuche schnell aufgab. Nach und nach ergriff die Pflanze Besitz von der gesamten Wohnung. Am Tag, als einer der Mitbewohner auszog, nutzte sie sogar die offene Wohnungstür und sproß ins Treppenhaus, so dass man eine Katzenklappe einbauen musste, um Schliane bei der Benutzung der Tür nicht zu verletzen.
Später, als Mutter schon lange nicht mehr in der Wohngemeinschaft wohnte, erfuhr sie, dass die Pflanze heckenartig auf die andere Straßenseite gewachsen war. Nachdem sie einige Stadtgärtner verschlungen hatte, wusste man sich nicht mehr anders zu helfen, als die Straße an dieser Stelle in einer Sackgasse enden zu lassen.
Natürlich hatte Mutter beim Umzug ein Stück der Pflanze mitgenommen. Später soll Schliane mich und meine kleine Schwester unzählige Male davor bewahrt haben, die Treppe hinunter zu stürzen. Und tatsächlich erinnere ich mich an die kühlen Berührungen der großen Blätter, wenn die Schlingpflanze uns in die Arme nahm. Unsere Füße fanden Halt in den holzigen Schlingen, wenn wir auf den glatten Treppenstufen ausgerutscht waren. Und sobald wir auf den Balkon hinaustapsen wollten, schlossen sich die Ranken wie ein Vorhang vor der offenen Tür.
Nun also, als ich mich anschickte, die elterliche Wohnung zu verlassen, nahm meine Mutter die Gartenschere und ging auf Schliane zu. „Du wirst sehen, sie wird dir auch in deinem neuen Zuhause alle Unannehmlichkeiten vom Leib halten“, sprach sie.
Ich musste sofort an Tante Eva denken und schrie „Nein! Bitte tu’s nicht! Ich kann mit Pflanzen nicht umgehen, habe auch keine Zeit dafür! Außerdem werde ich sicher nicht lange an einem Ort wohnen bleiben. Ich nehme später eine mit, wenn ich mich endgültig niedergelassen habe.“
Zum Glück ließ meine Mutter von ihrem Vorhaben ab. Jedesmal, wenn ich sie jetzt besuche, wird es schwieriger, ins Haus zu gelangen, vor allem, seit Vater tot ist. Schliane hat alles umsponnen, Türen, Fenster, den Briefkasten. Meine Mutter sitzt in diesem Haus und scheint auf etwas zu warten. Wenn ich nur wüsste, auf was!
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