Schliane (vorheriger Titel: Die Teufelsschlinge)

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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fenestra
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Beitragvon fenestra » 31.01.2011, 17:01

Schliane


Seit Generationen befindet sie sich in unserem Familienbesitz – sie ist Vorhang, Tür und Schranke, Brücke, Strickleiter und Netz. Behausung ist sie, Gefängnis und vielleicht irgendwann einmal Sarg. Ich glaube, Schliane ist unsterblich.


An dem Tag, an dem ich von zu Hause auszog, holte meine Mutter eine Gartenschere, nahm mich beiseite und berichtete, wie sie selbst an diese Pflanze gekommen war:

Es war in ihrer Studienzeit. Sie besuchte in den Semesterferien meine Großtante Eva in ihrem Häuschen an der Ostsee. Damals schon pflanzenverrückt, stand sie dort wie angewurzelt vor einem riesigen Blumenfenster. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm: Schweinsohrbegonien quiekten, als ob der Futterautomat ausgefallen war. Schwiegermutterzungen keiften, fleißige Lieschen quasselten und die Goethepflanzen studierten mit ihren zahlreichen Nachkommen Verse ein. Nur das Gottesauge schien sanft auf ihr zu ruhen, während sie plötzlich spürte, wie etwas von unten in ihre Schlaghosen griff und ihr ein feuchtes Blatt in die Kniekehle legte.

Auf ihr entsetztes Schreien hin war Tante Eva sofort zur Stelle, zog ein Tortenmesser aus einer Schublade und hieb eine mächtige Ranke der Schlingpflanze ab, die sich in das Hosenbein verirrt hatte. Tante Eva hüllte den Ableger in feuchtes Küchenkrepp und übergab ihn meiner Mutter. Dabei erzählte sie, dass „Schliane“, so nannte sie das Gewächs, sie schon von etlichen Einbrechern bewahrt hätte. Schliane sei äußerst sensibel und dulde keine Fremden in ihrer Nähe. So sollte sie nun auch meine Mutter beschützen!

Am nächsten Tag rief meine Mutter bei Tante Eva an, denn sie hatte in ihrem Schreck vergessen zu fragen, wie man es anstellt, dass Schliane einen nicht selbst angreift. Immerhin war auch der Gatte von Tante Eva vor einigen Jahren unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen – es hieß, bei einem Unfall im Garten. Große Bestürzung überkam meine Mutter, als eine Nachbarin sich am Telefon meldete und unter Tränen mitteilte, dass Tante Eva tot aufgefunden worden sei.

Dennoch brachte Mutter es nicht über sich, die geheimnisvolle Pflanze zu entsorgen. Sie nahm Schliane mit in ihre Wohngemeinschaft, wo sie am Hochbett emporranken durfte. Der eine oder andere ungeschickte Verehrer soll sich so darin verheddert haben, dass er die Verführungsversuche schnell aufgab. Nach und nach ergriff die Pflanze Besitz von der gesamten Wohnung. Am Tag, als einer der Mitbewohner auszog, nutzte sie sogar die offene Wohnungstür und sproß ins Treppenhaus, so dass man eine Katzenklappe einbauen musste, um Schliane bei der Benutzung der Tür nicht zu verletzen.

Später, als Mutter schon lange nicht mehr in der Wohngemeinschaft wohnte, erfuhr sie, dass die Pflanze heckenartig auf die andere Straßenseite gewachsen war. Nachdem sie einige Stadtgärtner verschlungen hatte, wusste man sich nicht mehr anders zu helfen, als die Straße an dieser Stelle in einer Sackgasse enden zu lassen.

Natürlich hatte Mutter beim Umzug ein Stück der Pflanze mitgenommen. Später soll Schliane mich und meine kleine Schwester unzählige Male davor bewahrt haben, die Treppe hinunter zu stürzen. Und tatsächlich erinnere ich mich an die kühlen Berührungen der großen Blätter, wenn die Schlingpflanze uns in die Arme nahm. Unsere Füße fanden Halt in den holzigen Schlingen, wenn wir auf den glatten Treppenstufen ausgerutscht waren. Und sobald wir auf den Balkon hinaustapsen wollten, schlossen sich die Ranken wie ein Vorhang vor der offenen Tür.

Nun also, als ich mich anschickte, die elterliche Wohnung zu verlassen, nahm meine Mutter die Gartenschere und ging auf Schliane zu. „Du wirst sehen, sie wird dir auch in deinem neuen Zuhause alle Unannehmlichkeiten vom Leib halten“, sprach sie.

Ich musste sofort an Tante Eva denken und schrie „Nein! Bitte tu’s nicht! Ich kann mit Pflanzen nicht umgehen, habe auch keine Zeit dafür! Außerdem werde ich sicher nicht lange an einem Ort wohnen bleiben. Ich nehme später eine mit, wenn ich mich endgültig niedergelassen habe.“

Zum Glück ließ meine Mutter von ihrem Vorhaben ab. Jedesmal, wenn ich sie jetzt besuche, wird es schwieriger, ins Haus zu gelangen, vor allem, seit Vater tot ist. Schliane hat alles umsponnen, Türen, Fenster, den Briefkasten. Meine Mutter sitzt in diesem Haus und scheint auf etwas zu warten. Wenn ich nur wüsste, auf was!


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Zuletzt geändert von fenestra am 01.05.2013, 22:39, insgesamt 2-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 05.02.2011, 13:12

Hallo Fenestra,

ich habe gerade wenig Zeit, wollte aber doch kurz dalassen, dass ich deine beiden Pflanzen-Menschen-geschichten sehr gern gelesen habe.

Ein paar kleine Anmerkungen hier:
Es herschte ein ohrenbetäubender Lärm: Schweinsohrbegonien quiekten, als ob der Futterautomat ausgefallen war. Schwiegermutterzungen keiften, fleißige Lieschen quasselten und die Goethepflanzen studierten mit ihren zahlreichen Nachkommen Verse ein.
Dieser Absatz stört mich, weil er nicht mehr "real" oder zumindest auf der Grenze zur Realität gelesen werden kann und somit auch die Teufelsschlinge ins Reich der Phantasie zurückverdammt, wo sie ja gerade herausgehoben wurde, und er mir auch zu betont "witzig" erscheint. Da würde ich mir lieber etwas "Pflanzenliebhabererzählen" wünschen, irgendwelche kleinen, feinen Details.
Pflanzenfreak
Das passt für mich nicht wirklich zur restlichen Sprache. Warum nicht "eine Pflanzenverrückte"?
die mir zu nahe gewachsen war.
Das gefällt mir sehr!
Denn eins war mir klar: Jede Verletzung der Pflanze konnte nur Böses nach sich ziehen.
Das würde ich weglassen, weil ich es schöner finde, wen man sich das selbst aus der Geschichte herauslesen kann.
Wenn ich nur wüsste, auf was!
Hier würde ich das Ausrufezeichen durch einen Punkt ersetzen. Ich höre das zumindest nicht als Ausruf oder wütend, sondern eher als murmelndes "Insichhineinfragen".

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 06.02.2011, 19:49

Liebe Flora,

dein Name sagt ja eigentlich schon, dass so ein Pflanzentext nicht unbemerkt an dir vorüber gehen wird! :)

Dieser Absatz stört mich, weil er nicht mehr "real" oder zumindest auf der Grenze zur Realität gelesen werden kann


Bist du sicher? Warum soll ein "Pflanzenfreak", in dessen Familie solche Pflanzen herumgereicht werden, die Pflanzen nicht auch anders wahrnehmen, als der Normalsterbliche? Es gibt ja auch Menschen, die Farben hören, warum nicht auch solche, die Pflanzen hören?

Den Freak kann ich auch in "pflanzenverrückt" umwandeln, falls es zu sehr herausfällt.

Dass jede Verletzung nur Böses nach sich ziehen kann, ist in der Tat vom Leser selbst erahnbar. Dieser Hinweis ist ein Zaunpfahl-Wink, ich sollte ihn weglassen. (Wie macht ihr sowas hier? Ändern und die Änderungen unten protokollieren?)

Mit den Ausrufezeichen gehe ich generell in Texten und Kommentaren zu verschwenderisch um, glaube ich. Nämlich nach dem Motto: Ist das grammatikalisch ein Ausrufesatz? Also muss !!! hin. Von der Intonation her gebe ich dir Recht, es ist ein nachdenklicher Schluss, bei dem man nicht aufgeschreckt oder aufgerufen werden möchte.

Herzlichen Dank für deine Anmerkungen! Viele Grüße
fenestra

Mucki
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Beitragvon Mucki » 06.02.2011, 23:23

Hallo fenestra,

ich mag deine skurrile Geschichte und auch den von Flora angesprochenen Absatz. Er passt da gut hinein, finde ich. Die ganze Story ist so herrlich verrückt, warum nicht auch dieses Pflanzenorchester á la fenestra, zumal diese Namen ja auch so wunderbar exotisch sind. Da bietet es sich ja wirklich an, damit herumzuspielen.
Der "Pflanzenfreak" fällt ein bisschen aus der Sprache heraus, sehe ich auch so.
Zum Ausrufezeichen am Schluss: ich habe den Satz mit lauter Betonung auf "was" gelesen, insofern passt es für mich.
Sehr gern gelesen!

Saludos
Gabriella
P.S. Wg. Änderungen:
Wenn du viel im Text änderst, ist es hilfreich eine 2. Version einzustellen und die 1. Version dann im Fade-Modus darunter.
Wenn es nur Kleinigkeiten sind, kannst du es in kleinerer Schrift unter dem Text mit etwas Abstand anmerken.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 07.02.2011, 13:56

Hallo Fenestra,

Dieser Absatz stört mich, weil er nicht mehr "real" oder zumindest auf der Grenze zur Realität gelesen werden kann

Bist du sicher? Warum soll ein "Pflanzenfreak", in dessen Familie solche Pflanzen herumgereicht werden, die Pflanzen nicht auch anders wahrnehmen, als der Normalsterbliche? Es gibt ja auch Menschen, die Farben hören, warum nicht auch solche, die Pflanzen hören?
Ja, ich bin mir sicher, .-) dass es mir so wie es im Moment dasteht, nicht glaubhaft erscheint, sondern es wie ein für den Text ausgedachtes "witziges" Element für mich klingt, das sicher beim schreiben Spaß gemacht hat. Ich könnte mir schon vorstellen, dass es so eine andere "Wahrnehmung" gibt, allerdings würde ich vermuten, dass sie nicht steuerbar ist, nicht "rational" begründet und sich von daher auch nicht in dem Maß an den Namen knüpft, sondern eben etwas ganz eigenes "erklingt". Und auch nicht so laut, sondern eher, wenn man sich darauf konzentriert, selbst ganz still ist, sonst würde die arme Protagonistin ja tatsächlich wahnsinnig werden, wenn sie den ganzen Tag das ohrenbetäubende Geschrei der Pflanzen ertragen müsste. .-)

Liebe Grüße
Flora
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fenestra
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Beitragvon fenestra » 07.02.2011, 21:01

Liebe Gabriella,

danke für das "herrlich verrückt" und für das "Pflanzenorchestra à la fenestra"! Es freut mich, dass dir das Spiel gefällt!

Liebe Flora,

ich verstehe, was du meinst, aber der ganze Text ist ja bewusst überzogen. Auch die ungeschickten Liebhaber, die von der Pflanze vermutlich erdrosselt werden und die Straße, die zur Sackgasse wird, gehören ja ganz offensichtlich ins Reich der Fantasie. Wenn ich einen subtilen Text von jemandem, der eine besondere Antenne für Pflanzen hat, hätte schreiben wollen, hätte das sicher anders ausgesehen (vielleicht ein Ansatz für meinen nächsten Pflanzentext). Wie schon angemerkt, war dieser Text als Kontrast zum "Baumfreund" entstanden. ;)

Danke für eure Beschäftigung mit meinem Wortgeschlinge und viele Grüße
fenestra

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 08.02.2011, 10:23

Liebe fenestra,

mir gefällt die Idee sehr gut, diese Pflanze, die Teufelsschlinge, die unaufhaltsam wuchert und verschlingt, was nicht "ins Haus gehört". Eine Art weibliche emanzipierte Dörnröschen-Familie. Das ist (immer noch?) ein starkes, einfaches Bild, sie zieht ihre Energie aus irgendwelchen diffusen Ideen/Anlehnungen (Filme/Literatur) ohne, dass ich einen klaren Verweis nennen köntne und wirkt eben doch eigen und nicht angegriffen.
Ich finde auch die Erzählung schon ziemlich gut, aber ich denke, dass sie nur funktioniert, wenn beim Leser die Pflanze in ihm auch Besitz ergreift, er anfängt ein Gefühl zu bekommen, für was die Pflanze steht/was sie einfangen soll. Für mich jedenfalls zieht sie ihre Energie daraus, dass sie einen Platz für etwas einnimmt, anstelle etwas wuchert, was sonst nicht so greifbar ist (unterdrückt wird, unaussprechbar), die Struktur wird sozusagen lebendig und übergriffig. Schön da auch am Bild der Pflanze, wie sie im Familienbesitzt gepflegt wird.
Aber irgendwie fehlt mir hier noch, dass es vollends klickt macht. Es ist schon Vorstellung da, aber ein bisschen hängt die Pflanze/ihr Stehen für etwas in der Luft, der Text wendet die Pflanze für meine Begriffe noch nicht genug an. Zugleich zieht der Text seine Stärke auch gerade aus seiner Offenheit, das heißt, zu sehr auf die Intention zugespitzt darf die Pflanze auch nicht gesetzt werden, dann würde es zu eindeutig, parabelhaft und dergleichen, die Leichtigkeit, der Witz würde verschwinden.
Ein Beispiel, wo das ganze für mich noch etwas in der Luft hängt ist etwa der mehrmalige Verweis auf die "ungeschickten Liebhaber", sie sind weder so auserzählt, dass sie nicht nur wie Requisiten wirken, noch ist die Sprache des Textes so angelegt, dass der kurze Verweis für mich aufgeht. Mir erscheinen sie dadurch eher wie ein netter Einfall, aber nicht bedeutsam für irgendetwas.
Der eigentliche Knackpunkt liegt aber vielleicht in der Position der Erzählinstanz/en. ich glaube, die beiden Erzähler Mutter und Tochter sind zu gleich angelegt. Klar, es soll sich auch einiges wiederholen (und sei es nur, um eventuell damit am Ende einen Unterschied zu erzählen), aber dadurch, dass beide erzählen, wie sie zu der Pflanze kommen, "beißen" sich die beiden Positionen irgendwie, ich meine: der Text wird dadurch erzähltechnisch unruhig und da er nicht sehr lang ist, geht dadurch irgendwie der Effekt verloren - ich weiß nicht, ob ich jetzt geschafft habe auszudrücken, was ich sagen wollte .~).

Und dann stört mich noch eine Kleinigkeit: Ist der Potterbezug am Anfang wirklich nötig? (ich kenne Harry Potter nicht). Ich habe nachgesehen, sie scheint tatsächlich eine Erfindung innerhalb des Romanes zu sein. Aber meines Erachtens hast du da eine ganz eigene Pflanze mit einer ganz eigenen Bedeutung erfunden. Dass dir die Idee vielleicht durch die Teufelsschlinge aus Harry Potter kam, ist doch auch ohne Verweis OK. Ich würde sie einfach anders nennen (ein Name fällt dir bestimmt ein) und dann ist es etwas eigenes?

Ich denke, wenn der Text an einigen Stellen noch etwas auserzählt wird und die Erzählstruktur noch etwas überdacht wird, wird das ein vollends anziehender, feiner, heiterer, böser Text werden (er gefällt mir jetzt ja schon gut).

liebe Grüße,
Lisa
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Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 10.02.2011, 18:24

Liebe Lisa,

erstmal ganz herzlichen Dank für deine einfühlsame Betrachtung. Ich finde das sehr spannend! Als ich den Text - relativ spontan und in einem Rutsch - geschrieben hatte, fiel mir hinterher selbst auf, dass er ein mächtiges Motiv in sich birgt, das aber kaum zum Vorschein kommt und erst vom Leser weitergesponnen werden muss. Und unter diesem Motiv betrachtet (s.u.), passt der Potter-Bezug dann auch nicht mehr. Ich werde über einen anderen Namen für die Pflanze nachdenken.

Die Parallelen zu Dornröschen sind unübersehbar - es handelt sich in beiden Fällen um eine Kletterpflanze als Symbol für die starke Familienbindung. Aber es gibt zwei wesentliche Unterschiede:

Bei Dornröschen verhindert die Pflanze die Loslösung von der Familie und das Erwachsenwerden. Dornröschen kommt in die Pubertät (Spindelstich, Blut = Menstruation), aber sie kann sich keinem Mann hingeben, wird noch nicht innerlich zur Frau. Die Eltern wollen sie nicht loslassen, sie hatten ja so lange auf ein Kind gewartet.

In meiner Geschichte dagegen verleiht die Pflanze den Frauen der Familie Stärke, und zwar erst dann, wenn die Frauen erwachsen sind und ausziehen. Das Gründen eines eigenen Haushalts ist dabei wesentlich, denn einer Vagabundin nützt ein Ableger der Pflanze nichts, er würde verkümmern. Die Kraft, die aus der Familienidentität (symb. aus der Pflanze) gespeist wird, ist an ein Haus gebunden, sie fesselt an Besitz. Leicht vorstellbar, dass neben der Pflanze auch noch Häkeldecken, Bücher, Geschirr, Möbel usw. weitergegeben werden. Ich denke, diesen Gedanken muss ich noch stärker entwickeln.

Der zweite Unterschied zu Dornröschen liegt darin, dass in meiner Geschichte Männer nur am Rande vorkommen. Männer sind zwar da, als Ehemänner, Väter, Liebhaber - so weit wie notwendig. Denn ohne Männer keine weiblichen Nachkommen. Aber wenn die Männer sich Un(ge)schicklichkeiten leisten, verschwinden sie von der Bildfläche, ohne dass ein Drama daraus gemacht wird. Insofern ist die etwas lieblose Erwähnung der Liebhaber vielleicht in dieser Form noch nicht gut gemacht (da gebe ich dir Recht), andererseits dürfen die Liebhaber aber auch keine zu deutlichen Konturen bekommen. Die Frauen meiner Geschichte können nicht von Männern erlöst werden. Sie können nur von ihren eigenen Töchtern (oder Enkelinnen, Nichten, Großnichten) erlöst werden.

Dass die ineinander verschachtelte Mutter-Tochter-Perspektive etwas unglücklich ist, habe ich auch bemerkt. Man verwechselt geradezu Mutter und Tochter. Ich bin da aber etwas ratlos, wie ich das besser voneinander absetzen könnte. Vielleicht müsste die Tochter etwas ausführlicher beschrieben werden am Anfang oder nicht in der ersten Person sprechen? Vielleicht könnte ihr Freund das erzählen? Für erzähltaktische Tricks und Tipps wäre ich sehr dankbar!

Viele Grüße
fenestra

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 11.02.2011, 11:23

Liebe fenestra,

spannend, was du zu Dornröschen schreibt und ja, so hab ich es auch gelesen (ohne alles so zu durchdenken, aber man liest den Text auf jeden Fall mit all diesen Bezügen, wie ein Fisch in einem Schwarm ja auch "voller" schwimmt, aber nicht beschwerter).

Auf den Namen der neuen Pflanze bin ich gespannt, ändern musst du da ja eigentlich gar nichts sonst, vielleicht das "krakenartig", weil deine Pflanze eher wuchernd rüberkommt.

Zur Mutter/Tochter-Perspektivvermischung: Mir ist gerade was ganz einfaches eingefallen, was glaube ich das ganze Probme lösen würde: Setz doch die komplette Passage der Mutter nicht in eine Ich-Perspektive sondern in indirekt widergegeben (wie es ja sowieso schon ist) in der dritten Person. Ich glaube nicht, dass dadurch (scheinbare) Lebensdigkeit verloren geht, die Eindrücklichkeit hängt hier an anderem. Ich glaube, das klappt!

liebe Grüße,
Lisa
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Klimperer

Beitragvon Klimperer » 01.05.2013, 11:41

Buon giorno, Fenestra,

erfrischend, hat deine Geschichte auf mich gewirkt.

Spontan musste ich an den "magischen Realismus" von García Márquez in "Hundert Jahre Einsamkeit" denken.

Viele liebe Grüße,

Carlos

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Beitragvon fenestra » 01.05.2013, 22:37

Danke fürs Heraufholen, lieber Carlos und für das tolle Feedback! Ich hatte immer noch im Hinterkopf, dass ich den Text nach der Diskussion mit Lisa überarbeiten wollte, bin es aber einfach nie konkret angegangen. Nun habe ichs einfach mal gemacht und stelle die überarbeitete Version ein:

- Die Einleitung mit dem Potter-Verweis ist komplett geändert, der Name der Pflanze auch.

- Die Erzählperspektive der Mutter ist geändert.

- Und noch ein paar Kleinigkeiten.

Ach ja: Die Pflanze wurde übrigens bei der Renovierung unseres Flurs radikal zurückgeschnitten. Sie ist im Moment völlig harmlos ...

Chaostom

Beitragvon Chaostom » 29.09.2013, 08:44

Schöne skurile Geschichte, habe ich gerne gelesen. (Danke für den link) So eine ähnliche Pflanze habe ich auch zu Hause, ist eine Monstera und war kurz dafür, mein komplettes Wohnzimmer zu überwuchern, bevor ich sie zurückgeschnitten habe. Leute hat sie aber - glaube ich- noch keine gefressen.

Als kleine Kritik möchte ich mich Lisa anschließen: Mutter und Tochten sind irgendwie ein bisschen viel für die Kürze des Textes. Das irritiert ein wenig beim lesen.

LG Thomas

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Beitragvon fenestra » 29.09.2013, 22:48

Hallo, Thomas,

schön, dass du hier vorbeigeschaut hast! Die Monstera wollte bei mir leider nie so recht wachsen, wir haben zu niedrige Decken, zu wenig Licht. Bei besagter Pflanze handelt es sich in Wirklichkeit um einen Philodendron.

Die Erzählperspektive habe ich übrigens auf Lisas Anregung hin bereits überarbeitet. Wenn du unter dem Text auf "Spoiler-Show" klickst, kannst du die alte Version lesen - die war noch verschlungener. ;)

Viele Grüße
fenestra


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