Viel Spaß, ich freue mich auf eure Kommentare/Korrekturen/Anregungen/Vorschläge, besser etwas völlig anderes zu schreiben

Merlin
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I Grundsätzliches
Ein scharfsinniger Mann mit einem imposanten Schnurrbart legte vor einiger Zeit einem anderen Mann von noch schärferem Sinn, aber unbestimmtem Äußeren, das Wort in den Mund, jener Teil des Geistes, dem man gemeinhin unter dem Titel der Vernunft hofiere, sei in einer zurechtgerückten Perspektive nur eine "kleine Vernunft", die sich eine ganz andere, "große Vernunft", namentlich der zu Unrecht oft in die philosophische Unbedeutsamkeit abgeschobene Leib zum "Spiel- und Werkzeug" geschaffen habe zu hauptsächlich einem Ziel: Der Beförderung des Lebens.
Aus dieser Sicht heraus wird man mit verwundertem Kopfschütteln die vielen Arten, wie jene sich zu diesem verhält, als Verkehrung der Verhältnisse ansehen müssen: Vernunft als Verwalter, Erzieher, Lenker, Herrscher des Lebens, schließlich als dessen Ziel und Grund, ja, seine eigentliche Rechtfertigung. Wie die Majestäten für das Volk auch leicht zur Plage werden können und der Pädagoge als Gewaltherrscher auftreten kann, der in der Züchtigung Sinn und Genuß der Erziehung findet, tritt auch hier eine eigenartige Verselbständigung des Mittels auf: Das Leben als Vernunft gegen das Leben zurückgewendet, das Denken mit Ekel von Leib und Leben, ja von seiner eigenen wesenhaften Endlichkeit wie von einer Zumutung sich abwendend.
Bemerkenswerterweise legt eine nähere Betrachtung der Lebensumstände des eingangs Erwähnten die Vermutung nahe, jene Wendung sei ihm auch aus ganz persönlicher Erfahrung wohlbekannt gewesen und sei ihm als Mensch und Denker trotz der Klarheit, mit der er davon zu denken und zu schreiben wußte, zum Verhängnis geworden.
Es bleibt jedenfalls viel an "Bedenklichem", jener schwindsüchtigen Schwester des Bedenkenswerten, an dieser Wendung, und so lohnt sie allemal den näheren, in unserem Fall den exemplarischen Hinblick.
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der nicht zu leben wußte, und zwar in so ungeheurem Ausmaß, daß er sich zum Schluß gezwungen sah, den wohl wertvollsten Moment, die größte aller denk- oder auch nur erträumbaren Möglichkeiten - nicht einmal zu verschwenden, nicht einmal zu vergeuden, sondern ungenützt verkommen zu lassen, von sich zu werfen und jenes Licht, das einen kurzen Augenblick in der finsteren Geschichte des menschlichen Geschlechts aufflackerte, mit Eile auszulöschen. Genauer gesagt bescheiden wir uns, die wir uns nicht rühmen dürfen, den langen und verwickelten Weg seines Werdens und Wirkens befriedigend zu kennen oder gar berichten zu können, mit einigen Einblicken, die uns geeignet scheinen, seine Wesenszüge anzuzeigen.
Wir schicken diese Bemerkungen, die, wenn uns das folgende nur recht gelingt, durch dessen Lektüre im Grunde überflüssig werden, voraus, um anzuzeigen, wie wenig wir der scheinbaren Zwangsläufigkeit seines wahnwitzigen Tuns selbst folgen wollen, ohne indes den Finger auf die Stelle legen zu können, an der sie bricht und einen Ausweg offenläßt. Und so werden wir den Leser am Ende ratlos zurücklassen müssen in jenem tiefen Zweifel, aus dem heraus wir ratlos die Frage stellen, die zu diesem Text den Anlaß gab: "Welchen Raum braucht das Denken?".
II Erbauliches
Auch ein gründlichster Sucher würde einige Mühe haben, um selbst bei bösartigster Auslegungsweise in des jungen Sophus Taten Fälle voreiligen und unüberlegten Handelns aufzuzeigen. Noch in den Windeln schien er mehr Interesse daran zu haben - und verbrachte jedenfalls mehr Zeit dabei - statt, wie andere Kinder seines Alters, im Kinderzimmer versuchsweise hölzerne Klötze zu türmen und, durch ihren raschen Einsturz zugleich erbaut wie belehrt, allmählich zu höheren, kühneren Bauten fortzuschreiten, denen längere Dauer beschieden war - stattdessen also saß er zuweilen für Zeiträume, die kaum ein Erwachsener in solcher Unbeweglichkeit verharren könnte, vor einem Haufen der vor ihm hin geschütteten ebenmäßigen Quader und blickte sie in tiefe Kontempolation versunken an, erwog das gestalterische wie das statische Für und Wider dieser und jener Bauweise - auch wenn er diese Begriffe damals noch nicht kannte und ihn eine solche Beschreibung seines Tuns sehr fremd angekommen wäre - setzte wohl auch zuweilen versuchsweise das eine oder andere Gebäude in Gedanken zusammen, mit frappierender Präzision übrigens, was freilich außer uns niemand wissen kann, denn der Junge behielt seine Gedanken für sich als wohlgehütetes Geheimnis - und ihn selbst erstaunte die Detailschärfe seiner Vorstellungen, die mühelos dreissig und mehr Steine zugleich in ihrer Lage zu- und übereinander festhalten konnte, naturgemäß so wenig, daß er sich vielmehr über jemand gewundert hätte, der diese Vermögen offenkundig nicht besaß. Er harrte also stundenlang bewegungslos vor seinem Spielzeug aus und wäre damit leicht in den Verdacht geraten, schwachsinnig zu sein, hätte er nicht ab und an eine seiner Kreationen der materiellen Gestalthaftigkeit für wert befunden und sie, die ihm ja klar vor Augen standen, in wenigen Momenten mit wohlbedachten Handgriffen, von denen keiner überflüssig schien, ausgeführt.
Sophus war von Natur aus ein Grübler, eine starke Ausprägung des kontemplativen Typus und von entsprechend starkem Widerwillen gegen das bloß Provisorische, Einstweilige, Vorläufige stets darauf aus, die Sache, die er vor sich hatte, bis ins Letzte zu durchdringen, ehe er Hand daran legte.
So sehr ihm diese Eigentümlichkeit in mancher Hinsicht nützlich war, so ist doch das Leben endlicher Wesen, zu denen Sophus nun einmal gehörte, so sehr er sich vielleicht - vielleicht? Wir sollten es doch wissen! Andererseits sind beide Vorstellungen nicht ohne Reiz; man lese dies "vielleicht" also als ein Zeichen unserer Unentschlossenheit, besser unserer Entschlußunwilligkeit. – anders wünschte, genötigt, sich stets an das Einstweilige und Vorläufige, zu halten, daß dessen Zurückweisung notwendig in die Paralyse führen muß.
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