blinder spiegel

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 27.04.2009, 00:11


blinder spiegel

schaue dich an
stelle dir tausend fragen
in gedanken
warum worte verschwenden
würdest nicht antworten

du bist meine mutter


© Gabriella Marten Cortes 2009

Sam

Beitragvon Sam » 04.05.2009, 19:02

Hallo Mucki,

zu deiner Frage:

es geht nicht eindeutig daraus hervor. Intuitiv neige ich zu der Lesart, dass LyrI wirklich vor dem Spiegel steht. Das mag daran liegen, dass ich selber oftmals das Gefühl habe, mein Vater sieht mich an, wenn ich in den Spiegel schaue. :eek:

Betrachtet man das Gedicht aber unabhängig vom Titel, so erscheint das Bild einer Person, die seiner Mutter gegenübersitzt, tausend Fragen gehen ihr durch den Kopf, aber sie sagt nichts, denn sie weiß, die Mutter würde nicht antworten.
In diesem Fall ist der Titel ein Hinweis auf die Art der Fragen, die dem LYrI durch den Kopf gehen. Es sind Fragen, deren Kern auf das LYrI selbst zielt. Es geht nicht darum, die Mutter als eigenständige Person zu erfassen, sonder nur in ihrer "Funktion" als Mutter. Und hier überschneiden sich beide Lesarten. Der Blick in den Spiegel, der durch die äußerlichen Ähnlichkeiten bewusst werden lässt: "Ich bin aus diesem Menschen geworden, und bin doch ein ganz anderer." Und man versucht die Überschneidungen auseinander zu dividieren. Und je größer dann der Abstand wird, desto mehr häufen sich die Fragen an.
Oder es passiert genau das Gegenteil: Nach der optischen Ähnlichkeit wird einem ebenso die Wesensähnlichkeit bewusst. Auch dann ergeben sich natürlich eine Menge Fragen. Vielleicht sogar die wesentlich unangenehmeren.

Liebe Grüße

Sam

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 04.05.2009, 19:38

Hi Zefi,
sondern wenn ich Dich richtig verstehe, verhält sich das Gegenüber so, obwohl es die Mutter ist.


genau. In deiner Version kommt mir die Mutter jedoch zu weich rüber. Man denkt auch, dass LI eine innige Beziehung zu ihr hat durch das "schaue dich an meine mutter". Genau das Gegenteil möchte ich ausdrücken, deshalb das abgesetzte "du bist meine mutter".
jedenfalls würde ich den Aspekt "Mutter" früher ins Spiel bringen.

Ich befürchte, dass dann die Mutter immer zu weich rüberkommt, da die Distanz nicht mehr da ist.
Jedenfalls weiß ich jetzt, dass meine intendierte Aussage so nicht rüber kommt. Dann muss ich was ändern!
Danke dir!

Saludos
Mucki

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 04.05.2009, 19:45

Hi Sam,
es geht nicht eindeutig daraus hervor. Intuitiv neige ich zu der Lesart, dass LyrI wirklich vor dem Spiegel steht.

ok, also geht es dir auch so.
Interessant, was du schreibst, würde ich den Text ohne den Titel schreiben. Das wäre vielleicht eine Möglichkeit.
Oder es passiert genau das Gegenteil: Nach der optischen Ähnlichkeit wird einem ebenso die Wesensähnlichkeit bewusst. Auch dann ergeben sich natürlich eine Menge Fragen. Vielleicht sogar die wesentlich unangenehmeren.

Jep. Und um die unangenehmen Fragen geht es hier. Um die Wahrheit, genau genommen.
Eine weitere Möglichkeit wäre evtl., den blinden Spiegel im Text zu integrieren.
Ich sehe schon, das ist nicht so einfach zu lösen. Auch habe ich nicht genug Abstand zu diesem Dingens hier.
Danke dir für deinen Kommentar!

Saludos
Mucki

Yorick

Beitragvon Yorick » 04.05.2009, 20:10

Hallo Gabriella,

>> LI schaut nicht in den Spiegel, sondern die Mutter ist der Spiegel,

Nach der letzten Zeile hatte ich diese Vorstellung. Und das Spiel mit dem blinden Spiegel in Bezug auf Vater/Mutter finde ich sehr reizvoll.

Wie natürlich das ganze Thema.

Nur - also, was die Auseinandersetzung für mich spannend machen würde - der blind geglaubte Spiegel (weil ja sooo wenig zu sehen ist) ist natürlich nicht blind. Im Gegenteil, übervoll mit Bildern von frühster Kindheit bis heute. Aber das *LI* verweigert das Sehen, das Schauen. Glaubt sehen zu wollen, aber wenn es nicht geht, wird ja wohl der Spiegel kaputt sein, wie könnte sonst....

>> Sie (die Mutter) verdrängt, lässt das LI im Unklaren.

Ja, das tun sie, die Eltern. Viele. Und es scheint so natürlich, durch die Bekämpfung der Verdrängung bei den Altvorderen die eigene Verdrängung beseitigen zu können. Und es ist so blind...

Mh, geht damit natürlich in eine andere Richtung. Ist das schon zuviel eigene Meinung zu einem fremden Text?

Gedanken und Grüße von
Yorick.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 04.05.2009, 20:14

Hallo Yorick,

du zeigst mir wieder eine neue Leseweise auf. Es wird immer interessanter. *g*
Denn:
Aber das *LI* verweigert das Sehen, das Schauen.

nicht das LI, sondern die Mutter verweigert den Einblick. ,-)

Danke dir für deinen Eindruck!

Saludos
Mucki

Lydie

Beitragvon Lydie » 04.05.2009, 20:26

Hello,

Ich finde Yorick's Sichtweise ausgesprochen interessant und spannend, auch wenn sie über das Gedicht hinausgreift. Für mich jedenfalls gut gesehen, gut beschrieben.

Na, Gabriella, hier ist richtig was los.

Greetings,

Lydie

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 04.05.2009, 20:42

Stimmt, Lydie!

Sehr interessant und durch die unterschiedlichen Lesarten für mich immer schwieriger, da eine Linie reinzubringen. ,-)

Saludos
Mucki

DonKju

Beitragvon DonKju » 05.05.2009, 22:27

Hallo Gabriella,

nur kurz und knapp : Also ich hatte das schon so gesehen, daß die Mutter der blinde Spiegel sein soll ...

Lieben Gruß von Hannes

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 05.05.2009, 23:28

Hallo Hannes,

danke dir für die nochmalige Rückmeldung und die Bestätigung.
Langsam komme ich zu dem Schluss, den Text genauso zu lassen, wie er ist und somit auch die diversen, anderen Lesarten zuzulassen.

Saludos
Mucki


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 10 Gäste