Gleis 1

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Herby

Beitragvon Herby » 20.05.2008, 15:37

Gleis 1

In dem großen Bahnhofssaal,
Gestalten. Sprachlos, leer und fahl,
von Lebenswegen eingeweht.
Niemand fragt, wer kommt, wer geht.

Manche sitzen steinern. Warten.
Hin und wieder, zaghaft nur,
schaut jemand auf die große Uhr.
Versunken legt ein Mann die Karten.

Passanten strömen rasch vorbei,
ferngesteuert von der Zeit.
Den Wartenden ist’s einerlei.
Ein Mädchen streicht sich übers Kleid.

Vor blinden Scheiben grelle Lichter,
Blitze jagen durch die Nacht,
erhellen schwach nur die Gesichter.
Ein Greis erinnert sich und lacht.

In dem großen Bahnhofssaal,
Gestalten. Sprachlos, leer und fahl.
Sitzen da. Tagaus, tagein.
Und jeder schweigt. Mit sich. Allein.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 20.05.2008, 17:56

Ganz schön, lieber Herby!

Erinnert mich sehr vom Ausdruck an meinen geliebten Kurt Tucholsky. Das finde ich toll.

Die Verse, die Punkte, der bildhafte Inhalt, bin begeistert.

von Lebenswegen eingeweht
darüber bin ich gestolpert, ich hätte ja hergeweht genommen.

Lieben Gruß
ELsa
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.05.2008, 18:13

Lieber Herby,

mich begeistert die Stimmung, die du in deinem Gedicht erzeugst und auch die Antipole. Einmal die Einsamkeit der Gestalten, dann die Hektik der Passanten.
Ich habe als Leser sofort Bilder vor Augen. Was mir auch gut gefällt, dass dein Gedicht fast keine Wertung enthält. "Fast", weil "Niemand fragt, wer kommt, wer geht." natürlich eine Wertung ist, ich finde sie jedoch passend und sehe keinen erhobenen Zeigefinger darin.
Elsies Vorschlag "hergeweht" finde ich gut. Passt m. E. tatsächlich besser.
Gern gelesen!
Saludos
Mucki

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leonie
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Beitragvon leonie » 20.05.2008, 18:17

Lieber herby,

das ist große Klasse, finde ich. Man sieht diese Menschen vor sich. Auch die Bilder: "von Lebenswegen eingeweht" oder "manche sitzen steinern" oder "ferngesteuert von der Zeit" finde ich sehr stark.

Ich finde nichts, was ich daran aussetzen könnte. Muss ja auch nicht sein :-) .

Großes Kompliment und viele Grüße

leonie

Herby

Beitragvon Herby » 20.05.2008, 19:26

Liebe Elsa, Mucki, leonie,

über eure positive Aufnahme meines Textes freue ich mich sehr, herzlichen Dank für euer Lesen und eure Rückmeldungen. Der Text schlummerte nun seit 2006 in meinem Ordner "Unfertiges", seit einer Woche habe ich ihn mir wieder intensiv vorgenommen und hatte jetzt den Eindruck, er konnte und wollte raus.

Dennoch war und bin ich in zwei Punkten unsicher. Der erste betrifft das Verb "eingeweht", dass ihr, Elsa und Mucki, ja auch ansprecht. Deinen Vorschlag, Elsa, könnte ich mir gut vorstellen. Lasst mir aber noch bitte etwas Bedenkzeit.
Auf den zweiten Punkt möchte ich erst später eingehen, vielleicht habe ich bis dahin für mich selbst auch schon Klarheit.

Liebe Grüße
Herby

Peter

Beitragvon Peter » 20.05.2008, 20:58

Hallo Herby,

ich finde auch, das Gedicht hat eine sehr tragende Bewegung, es nimmt den Leser ein/ mit in seine Zeit. "eingeweht" verlangt ein Doppel-Bedenken, aber wahrscheinlich deshalb, weil es die Schlüsselrolle einnimmt, wie ich finde, und sich das Gedicht um dieses Wort bewegt; das Beschriebene umschreibt das Verwehen, formuliert das Verwehen aus, dem Sinn nach: Was heißt das, verweht zu sein.

Also, die Gedicht-Zeit selbst ist mir einleuchtend, tragend - Was mir weniger einleuchtet, ist die dargestellte Zeit. Sie kommt mir geisterhaft, traumhaft vor. Was sind das für Gestalten? Wer legt heut noch am Bahnhof Karten? Und da, finde ich, geht das Gedicht nicht weit genug, es müsste hier fast, obwohl das wohl nicht geht, von einem Schicksalsbahnhof sprechen, überhaupt das ganze überhöhen - denn eine Wirklichkeit meint es meines Erachtens nicht.

Da fehlt mir ein Schritt. Auch will mir ein Schritt in der Betrachtung selbst fehlen. Der, der mir erzählt, hat zwar eine Anteilnahme, aber doch so distanziert, dass mir während des Lesens, in der Anschauung ebenfalls nur eine gewisse Distanz ermöglicht wird. Da liegt etwas dazwischen, das aufgehoben werden müsste, meinem Gefühl nach, damit, wie man ein Tuch aufhebt und eine Luft aufsteigt, das ganze mehr atmen würde.

So scheint mir dann das Gedicht irgendwo zu verharren, als nicht wirklich und nicht überhöht, unentschieden.

Liebe Grüße,
Peter

Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.05.2008, 21:23

Hallo Peter,
Was sind das für Gestalten?

Ich assoziiere hier mit den Gestalten Obdachlose.
Saludos
Mucki

DonKju

Beitragvon DonKju » 20.05.2008, 21:56

Hallo Herby,

bonjour tristesse - und das in schönen Worten & Bildern beschrieben - viel mehr kann ich dazu nicht sagen ... ...

MlG von Bilbo

Niko

Beitragvon Niko » 20.05.2008, 23:12

hallo herby!
ich würde eher das "lebenswegen" ändern als das "eingeweht". welches ich sehr schön finde. ich glaube die kombination "lebenswege eingeweht" macht das ganze etwas widerborstig. um das "wehen" zu bekräftigen, könntest du doch zb nehmen: von lebensdünen eingeweht oder ähnliches.
dein gedicht finde ich ein sehr gelungenes stimmungsbild. und empfinde es nicht als betrachtung von landstreichern, pennern etc, sondern als das beobachten der leute, die sich tagtäglich irgendwo und irgendwohin auf die reise begeben und warten, mit den gedanken abschweifen, vielleicht gedanklich dabei "eintrüben", abtauchen etc........
lieben gruß: Niko

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 21.05.2008, 10:43

Hallo Herby,

großes Kino, was du hier darstellst.

Nikos Vorschlag mit den Lebenswegen finde ich überlegenswert. An der STelle ginge (für mich) auch "von hier nach dort hereingeweht/wo keiner fragt wer kommt, wer geht". Muss aber nicht, sehr schönes Stimmungsbild wie gesagt.

Gruß

Sneaky

Herby

Beitragvon Herby » 22.05.2008, 23:25

Lieber Peter,

für deine Beschäftigung mit und deine Gedanken zu meinem Text danke ich dir herzlich. Zu deinen Überlegungen bezüglich der dargestellten Zeit: Bahnhöfe empfinde ich als Mikrokosmos der menschlichen Gesellschaft, in dem sich Realität und Geisterhaftes mischen. Du sprichst den Aspekt der Distanz an. Ich weiß nicht, ob ich mich dir verständlich machen kann, aber sie wurde mir im Laufe der Arbeit an diesem Text immer wichtiger, um ihn überhaupt zu Ende bringen zu können. Hätte ich sie aufgegeben, das Tuch aufgehoben und die Luft aufsteigen lassen, wie du es formulierst, wäre vermutlich ein ganz anderer Text entstanden. Das jetzt zu tun, war für mich einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Der eingesetzte Text ist, in sprachlicher Überarbeitung, das Ergebnis dessen, was mich 2006 bewog, ihn während einer Zugreise zu konzipieren, später zu schreiben und jetzt zu bearbeiten. Und selbst mit dieser langen Distanz sehe ich mich noch immer darin, was aber nicht heißt, dass ich deine Anregungen verwerfen würde. Doch sie umzusetzen oder zumindest es zu versuchen, wird dauern. Ich muss dich also um Geduld bitten, versichere dir aber, dass ich deine Anstöße nicht aus der Erinnerung verliere, zumal, da mich das Sujet "Bahnhof" sehr beschäftigt.

Lieber Niko, Sneaky,

auch euch ein Danke für eure Ansichten und euer Lesen. Zugleich bitte ich euch um Nachsicht, wenn ich eure Vorschläge nicht übernehmen kann. Die Lebensdünen, Niko, scheinen mir nicht ins Gesamtbild zu passen, während dein, Sneakys, Vorschlag ohne die "Lebenswege" für mich keinen Sinn gibt. Müsste es außerdem nicht "von dort nach hier" heißen?

Lieber Bilbo,

schließlich, aber nicht weniger herzlich, danke ich dir für dein Lob!


Euch allen herzliche Grüße
Herby

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 22.05.2008, 23:32

@Herby

soll jetzt keine Vergackeierung sein ehrlich. Wieso müsste es von dort nach hier heißen? Mir ist der Ausdruck andersrum geläufig.
Die Lebenswege sind halt ein schweres Wort (für mich)

Dein Gleis Eins seh ich eher als ein Gleis Neundreiviertel, Durchgangsstation, durch die die PErsonen von "hier" - damit war nicht das Bahnhofsgelände gemeint, sondern das hier vor der Tür des Bahnhofs- nach dort durchgeschleift werden.

Und vermutlich habe ich auch das "Heute hier, morgen dort"von Hannes Wader unbewußt im Ohr gehabt.

Hannes Wader
...
heute hier, morgen dort
bin kaum da muss ich fort
hab mich niemals deswegen gefragt
hab es selbst so gewählt
nie die Jahre gezählt
nie nach gestern und morgen gefragt

...

Gruß

Sneaky

Herby

Beitragvon Herby » 23.05.2008, 19:54

Hallo Sneaky,

wenn ich deinem Vorschlag folgte, sähe es wie folgt aus:

In dem großen Bahnhofssaal,
Gestalten. Sprachlos, leer und fahl,
von hier nach dort hereingeweht,
wo niemand fragt, wer kommt, wer geht.


In dieser Version würde sich zwar das "dort...wo" auf den Bahnhofssaal beziehen, unklar bliebe allerdings der Bezug von "hier". Ich sehe es so, zumindest hatte ich es so intendiert, dass es die Gestalten von ihren Lebenswegen "dort" draußen "hier" in den Wartesaal (an Gleis 1) verschlagen hat.

Hab ich jetzt alle Klarheiten beseitigt?

Lieben Gruß
Herby

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 23.05.2008, 21:10

Hallo,

ich misch mich ein. :tiere0053:

Ich finde es zwar üblich, von Hier nach Dort zu sagen, es ist ein klassisches Klischee. Aber hier finde ich das total unlogisch, denn Hier ist der Bahnhof und Dort, wo alle herkommen.

Außerdem ist es so rum nicht so abgedroschen.

Ich plädiere für : von dort nach hier

Lieben Gruß
ELsa
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