Unterheimat; an den Spitzen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 23.04.2008, 23:53

Unterheimat, an den Spitzen


du bist der Abschaum der Welle, die du schlägst, weil du ihr Abschaum bist

sagst du dir. Sag es dir nur oft genug

Dann kommt einer und strandet in deinem Schoß, schläft dich, schaut dich
So unecht, dass du ihm glauben musst

du bist die Welle, die er sieht | solange du dich für Abschaum hältst


Einmal stand eine Frau an einem Strand aus Stein. Den leckten die Wellen, der wollte sie sein.
Die Frau stand sich fest an den Steinen, erhob Anspruch. Doch bald wurde ihr kalt, wie allen
Menschen kalt wird. Sie zog das Herz ein und schob sich zurück zwischen die Häuser


Du wendest den Kopf, der an den Spitzen sitzt, und weinst mit ihm um diese Frau
Sonst übernimmt ja keiner das Weinen mehr


solange du dich für Abschaum hältst | bist du Welle, sieht er dich


Die alten Wellen? Die gehen dich nichts an. Immer bist du neue Welle. Du blickst dich nicht
um. Deine Augen sind zu den Füßen gewandert

um Welle zu sein | den Kopf an die Spitzen setzen | um Welle zu sein | den Kopf an die Spitzen
setzen | sich mit ihm schlagen | um Welle zu sein | den Kopf an die Spitzen setzen | sich mit ihm
schlagen | weil man nicht stirbt | um Welle zu sein




Am Grund, da schwimmt eine Muräne, die sieht aus wie etwas von dir, du weißt es,
du hast es gesehen, einst, von den Fenstern deines Hauses aus.
Dir grauste es, aber inzwischen, da ist es dir manchmal schön

Drum bin ich einverstanden, dass du fallen lässt
was du da siehst,
was du da singst

alles fallen lässt, in deinen nassen Bogen und das bisschen Schaum






Endzeilen auf Anraten von Lou, annette, smile gestrichen:
‚Eines Tages wird ein Schiff kommen / das wird das Ufer vor dem Sturm retten
Ein mächtiges Schiff wird es sein / es wird zerschellen’
Zuletzt geändert von Lisa am 06.06.2008, 01:39, insgesamt 5-mal geändert.

Peter

Beitragvon Peter » 24.04.2008, 02:10

Liebe Lisa,

letztens kam im Forum das Wort "grenzwertig" auf, das erlebe ich hier, Wortwert an der Grenze, höre ich auf zu lesen, meine ich einen Schrei gehört zu haben.

Mir kommt es so vor, als bestünde dieser Text nur aus Zweierlei, aus Welle und Stein, und dazwischen überleben Bilder.

Lisa, es ist so eine Macht in diesem Text, dass man Angst bekommt. Psychologisch gesehen, scheint darin eine Selbstkasteiung auf, aber sie ist nicht die Mitte des Textes, vielleicht sein Ursprung, aber nicht seine Mitte - In der Mitte ist beinah, also so lese ich, ein Unmenschliches, eine Natur, wie aus Schweigen geboren und aus Schweigen ausbrechend, die hier das Wort förmlich übertrumpft, überwirft, vernetzt, zerdrückt - Am Ende scheint sie mir das vorzubereiten, von dem das Gedicht selbst am Ende spricht: "Eines Tages wird ein Schiff kommen...", und darum geht es. Es geht nicht um eine Mitteilung, um ein Sagen, sondern um ein Aufwühlen, Aufbereiten, Hinaufjagen der Welle - damit das Schiff kommt.

Das Wort, denke ich, gerät dadurch in ein solches Ungleichmaß, dass man doch nicht anders kann, als das, was man aus dem Text zu erfahren versucht, nur wie in einem Strom einzeln zu verbinden, und man kommt nicht zum Ganzen, einmal weil das Wort größer ist als es selbst, weil es anschwillt, zum anderen, weil der Text sich anscheinend nur vorwändig mit seinen Zusammenhängen beschäftigt; ja schon im ersten Satz wird ja eine Logik ad absurdum geführt. Mir scheint es so, als schlüge sich dieser erste Satz an die Stirn, wie sich überhaupt der Text schlägt, im Grunde denke ich, also, verzeih, aber ich denke im Grunde sagt der Text zu sich, laut: Halt dein (blödes) Sprachmaul! Nicht aber grundlos. Denn es soll das Schiff kommen.

Das so Spannende daran ist, Lisa, man hat es glaube ich auch an deinen anderen Texten gesehen, dass du hier eine Sprache ins Feld führst (also durchaus so, kriegerisch), die sich selbst überwinden soll, sie soll nichts anderes sein, als das Überwundene, und der Aufenthalt unter dem Überwundenen, die "Unterheimat" wird in deinen Texten immer geringer, immer bedrohter. Man kann ja diesen Text hier doch wirklich nur noch von oben sehen, darunter ist eine Sprachebene, die Sprachebene auf Augenhöhe, doch wie weggeschwemmt.

Liebe Grüße,
Peter

Mucki
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Beitragvon Mucki » 24.04.2008, 02:47

Wow, Lisa,

hier peitschen Wellen mit einer Heftigkeit auf mich ein, dass ich das Gefühl bekomme, um mein Leben schwimmen zu müssen. Und immer, wenn ich gerade den Kopf direkt aus dem Wasser strecken will, drückt mich die nächste Wuchtwelle wieder nieder.
Und genau diesen Kampf lese ich hier. Da kämpft jemand, aber nicht gegen jemand anderes, sondern gegen sich selbst, etwas, was im Inneren des Ichs sich immer wieder aufbäumt. LI lehnt sich dagegen auf mit aller Kraft, will diese Hürde sprengen. Ein Funken Hoffnung lese ich auch heraus (das Schiff), aber gleichzeitig zweifelt LI auch an der eigenen Rettung. Nur Umrisse/Schatten des LIs werden gehalten, doch das Schiff wird dabei zerstört. Vor allem der Part mit den geraden Strichen drückt diesen Kampf mit einer unglaublichen Energie aus.
Ein beeindruckender Text, der mich durch seine Vehemenz total in den Bann gezogen hat.
Diesen Text musst du bitte unbedingt lesen (und teilweise schreien)
Saludos
Mucki

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 24.04.2008, 12:09

Liebe Lisa,

ich habe mir den Text ausgedruckt und mir Notizen gemacht, ein Blatt voll Pfeilen und Gedanken. Ich denke, ich wollte sehen, ob sie sich verändern, ob der erste Eindruck sich wandelt. Manchmal geschieht das ja, dass man meint, man hätte etwas erfasst und am Ende bemerkt, dass man sich völlig getäuscht hat. Aber hier war das nicht so, ich hatte das Gefühl, dass ich (für mich) den Text tatsächlich sehe, verstehe. :-)

Einzig die kursiven Zeilen kann ich nicht zuordnen, vielleicht, weil ich den Sprung zum zerstörerischen nach außen noch nicht im Text sehe, als sei es ein Zeitsprung, und mir fehlt ein Teil der Entwicklung, um ihn verstehen oder glauben zu können.

Ich höre keinen Schrei, kann mir auch keine Lesung mit lauter, gewalttätiger Stimme vorstellen. Es ist für mich eher der Punkt, an dem das Schreien oder das Weinen lange vorbei ist. Und man völlig (Gefühls-) leer ist, fallen lassen muss, weil man es nicht mehr festhalten kann, darin aber vielleicht auch eine Chance liegt, den (Gedanken-)Teufelskreis zu durchbrechen. Die Hoffnung sehe ich in der Muräne, in dem Gedanken, dass man sie annehmen kann, vielleicht sogar schön finden, manchmal.

Die eingerückten Zeilen, vor allem der Abschnitt mit den | erzeugt bei mir das Bild einer stereotypen Schaukelbewegung, Wellenbewegung einer Suche nach Sicherheit in der Wiederholung, einer Heimatsuche in sich selbst, es hat etwas autistisches an sich, der Text verharrt aber nicht darin, so, dass er keinen Blick zulassen würde. Aber das Gefühl am Ende wäre schon auch dieses, dass man diesen Mensch, in diesem Wellenbild nicht halten, berühren dürfte. Und ein Schmerz über diese Ohnmacht, dass man nicht „helfen“ kann, diese Unmöglichkeit die einen aus diesen Zeilen überflutet.

Ein ganz besonderer Text, der wohl jeden auf eine ganz eigene Weise faszinieren kann.

liebe Grüße smile

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 24.04.2008, 13:07

Liebe Lisa,

du bist eine, die beinhart ihren Textweg geht, das finde ich beeindruckend. Es ist so spannend, es zu erleben, danke, dass du immer wieder etwas zeigst davon.

Es ist natürlich ~auch~ manieriert, was hier nicht abwertend gemeint ist, es ist Stilmittel, und es fasziniert.

Ich lese in dem Text die schiere Selbstzerfleischung bis zum Untergang, ein Zurückziehen von der Welt, wie sie i.A. gesehen wird, ein Hingehen zu dem innersten Kern, weil da draußen Sehnsuchtserfüllung vergeblich erwartet wurde.

Ich kann mir gut vorstellen, dass das ziemlich einzigartig ist, was du textlich produzierst. Toll.

Lieben Gruß
ELsa
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Jürgen

Beitragvon Jürgen » 24.04.2008, 13:11

Hallo Lisa,

die Worte wirken sehr durchdacht, aber gerade deshalb habe ich ein Problem mit der Kombination Welle und Abschaum. Abschaum bringe ich mit Kochen von Milch und ähnlichem in Verbindung. Kann eine Welle Abschaum (der ja von festerer Konsistenz ist) hervorbringen?

Da es aber das durchgängige Bild im Text ist, macht es noch schwieriger.

Schöne Grüße

Jürgen

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 24.04.2008, 13:41

Lieber Jügen,

Abschaum bedeutet noch etwas anders und ich glaube, das ist hier gemeint, denn das macht Sinn für mich: Seit dem 15. Jahrhundert wird der Begriff Abschaum auch umgangssprachlich übertragen für „schlechte, ausgestoßene Menschen“, „Pöbel“ verwendet.

Die Redewendung „Abschaum der Welt“ ist die Übersetzung aus dem 1. Brief an die Korinther des Apostels Paulus. Sie bezieht sich auf die Apostel, die von der Welt verachtet werden. Im altgriechischen Originaltext heißt es: περικαθάρματα τοῦ κόσμου - perikatharmata tou kosmou.

Von „http://de.wikipedia.org/wiki/Abschaum“

Das ist für mich Kern des Textes.

Einmischende Grüße,
ELsa
Schreiben ist atmen

Mucki
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Beitragvon Mucki » 24.04.2008, 14:49

Liebe Elsie,

da steht aber nicht: "Du bist der Abschaum der Welt", sondern: "Du bist der Abschaum der Welle".
Dennoch lese ich hier "Abschaum" genauso wie du, als Kern des Textes. LI geißelt sich hier selbst, sieht sich als schlecht, bzw. kämpft vergeblich gegen diese innere Überzeugung.
Saludos
Mucki

Louisa

Beitragvon Louisa » 24.04.2008, 16:46

Huhu!

Das Wort "Unterheimat" erinnert mich spontan an eine Rede von... Huch! Falscher Film :smile: ...

Liebe Lisa,

mir gefällt dieses kleine Kunstwerk und deine Wortspiele sehr.

du bist der Abschaum der Welle, die du schlägst, weil du ihr Abschaum bist


Ich habe mich gefragt: Schlägt der Schaum die Welle voran oder schlägt nicht die Welle den Schaum???

sagst du dir. Sag es dir nur oft genug


Ob das nicht gestrichen werden könnte?

Dann kommt einer und strandet in deinem Schoß, schläft dich, schaut dich
So unecht, dass du ihm glauben musst


Das hat mir mit am Meisten imponiert. Es hat etwas sehr Passives und zugleich introvertiert-reflektierendes Leben in sich.

du bist die Welle, die er sieht | solange du dich für Abschaum hältst


Oh, wieso muss man sich für das Bild des anderen selbst für Abschaum halten? Darüber muss ich noch nachgrübeln. Du nicht?

Einmal stand eine Frau an einem Strand aus Stein. Den leckten die Wellen, der wollte sie sein.
Die Frau stand sich fest an den Steinen, erhob Anspruch. Doch bald wurde ihr kalt, wie allen
Menschen kalt wird. Sie zog das Herz ein und schob sich zurück zwischen die Häuser


...finde ich große Klasse! Erste Klasse! Für mich ist das ein großes Bild für den Versuch eine Königin zu sein und das Scheitern, nur des Versuchens wegen.

Du wendest den Kopf, der an den Spitzen sitzt, und weinst mit ihm um diese Frau
Sonst übernimmt ja keiner das Weinen mehr


Die Spitzen hätte ich mehr bildlicher beschrieben gewünscht. Etwas handgreiflicher. "Sonst übernimmt ja keiner das Weinen mehr"...MMmm... Das erscheint mir fragwürdig. Das trägt so eine leicht trotzige Mitgefühlskritik in sich, die mir unbegründet erscheint.

solange du dich für Abschaum hältst | bist du Welle, sieht er dich


Und schon wieder :smile: ! Wieso? Wieso? Wieso muss man sich selbst für -sagen wir mal- schlecht halten, damit der andere einen sieht? Damit man "sich am anderen brechen kann" ?

Die alten Wellen? Die gehen dich nichts an. Immer bist du neue Welle. Du blickst dich nicht
um. Deine Augen sind zu den Füßen gewandert


...finde ich wieder sehr schön, wobei zu überlegen wäre: Wenn die Wellen hier die Geschichten "früherer Frauen" oder die eigenen vergangenen Geschichten meinen: Fließt das Wasser nicht zurück ins Meer und sind die neuen Wellen nicht wieder die alten? Das wäre eigentlich ein schönes Bild :mrgreen: ...


um Welle zu sein | den Kopf an die Spitzen setzen | um Welle zu sein | den Kopf an die Spitzen
setzen | sich mit ihm schlagen | um Welle zu sein | den Kopf an die Spitzen setzen | sich mit ihm
schlagen | weil man nicht stirbt | um Welle zu sein


Jetzt wird mir so langsam klar wie positiv die Welle gemeint ist. Man will nicht ihr Schaum, sondern sie selbst sein. Ob dieser Wunsch nicht schon früher deutlich werden könnte? Dann verstehe ich aber wieder nicht, dass man nicht stirbt, um Welle zu sein... Stirbt man überhaupt "für" etwas?

Am Grund, da schwimmt eine Muräne, die sieht aus wie etwas von dir, du weißt es,
du hast es gesehen, einst, von den Fenstern deines Hauses aus.
Dir grauste es, aber inzwischen, da ist es dir manchmal schön


Das mit den Hausfenstern fand ich wieder sehr originell, aber der Rest brachte mich etwas zum Schmunzeln... Besonders die Muräne, die aussieht wie etwas von mir :smile: ... Es ist aber sehr interessant. Ich mag das.

Drum bin ich einverstanden, dass du fallen lässt
was du da siehst,
was du da singst

alles fallen lässt, in deinen nassen Bogen und das bisschen Schaum


Vielleicht könnte man hier für dieses "alles" auch noch ein paar Begriffe anfügen :smile: ... Andernfalls, ich: :spin2:

Eines Tages wird ein Schiff kommen / das wird das Ufer vor dem Sturm retten
Ein mächtiges Schiff wird es sein / es wird zerschellen’


Ist das ein Zitat? Meines Erachtens gibt es einen alten Schlager, der ziemlich kitschig ist, wo von so einem "Schiff, das kommen wird" die Rede ist. Müsste mal jemand googeln oder besser wissen :smile: ...

Sonst: Diese letzten drei Zeilen finde ich wirklich absolut pathetisch :smile: ... Verzeihung :smile: ... Ich höre da so eine hallende Herr-Der-Ringe-Gandalph-Stimme, die triumphal verkündet: "DANN WIRD ES ZERSCHELLEN!"

Ich hacke nur so gemein darauf herum, weil ich die anderen erwähnten Stellen so bombastisch gelungen fand.

Ja, ein bisschen triumphal ist der ganze Text, aber auch schön unwirklich elegant. Immer, wenn du zu den weiten, pompösen Bildern gehst und sie mit der Verzweiflung kombinierst, wird es für mich beeindruckend.

Aber das Ende :pfeifen: ... erinnert mich an die Zeit vor 19...huch :smile: ! Ich hab ´ne echte Psychose...

Guten Nachmittag und danke, dass du dir Gedanken über deine Worte machst, bevor du sie setzt!

:blumen:

l

Louisa

Beitragvon Louisa » 24.04.2008, 16:47

Diesen Eindruck einer "Geißelung" kann ich übrigens unterstreichen. Das macht einen selbst ganz verzweifelt, wenn man das liest. Verzweifelt und mitfühlend.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 24.04.2008, 18:45

Liebe Mucki,

Mucki hat geschrieben:Liebe Elsie,

da steht aber nicht: "Du bist der Abschaum der Welt", sondern: "Du bist der Abschaum der Welle".
Dennoch lese ich hier "Abschaum" genauso wie du, als Kern des Textes. LI geißelt sich hier selbst, sieht sich als schlecht, bzw. kämpft vergeblich gegen diese innere Überzeugung.
Saludos
Mucki


Abschaum der Welt wäre Lisa sicher zu simpel :-) Daher bleibe ich dabei, du auch, wie ich lese.

LG
ELsie
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Louisa

Beitragvon Louisa » 24.04.2008, 20:49

Es lehnt sich vielleicht auch an dieses von Büchner an?

Der einzelne ist nur der Schaum auf der Welle.


Daraus dann "Abschaum" zu machen, ist natürlich ein schlaues Wortspiel, wie ich finde. AH! Jetzt beginne ich wieder zu verstehen.

Wenn man etwas Bedeutsames wäre, wäre der Einzelne, man selbst also, "die Welle" und nicht der Schaum... Gut...

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annette
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Beitragvon annette » 27.04.2008, 20:21

Liebe Lisa,

ich habe den Text gelesen, sacken lassen und wieder gelesen. Was sich bei mir fest gesetzt hat, ist in etwa Folgendes, noch mit vielen Fragezeichen:

Das Du will Welle sein, und ist / fühlt sich doch nur ihr Abglanz, ihr Abschaum. Der Abschaum der Welle, der es nacheifert. Das Bild drückt für mich das Gefühl aus, etwas zu wollen, das man nicht erreichen kann, weil man sich als dessen flüchtige Gischt definiert - darüber hinaus mit der negativen Assoziation des Abschaums.

Dass das Du dennoch als Welle gesehen wird (von ihm), liegt daran, dass es sich selbst zum Abschaum demütigt, sich klein macht, sich für nichtswürdig hält. Nur so meint es, sein Wellen-Sein aufrecht erhalten zu können. Diese Beziehung (zwischen Du und "einem") ist voll von Täuschung und Schein, was aber mE allein in der Wahrnehmung des Du liegt.

Die Frau am Strand ist das Du selbst oder eine Frau, mit der es sich identifiziert. Sie hatte eine Sehnsucht, hatte einen Standpunkt und mehr noch meinte sie, es stünde ihr etwas zu. Doch es nützte nichts, sie musste den Strand verlassen, diesen Ort des Aufbruchs, der Wellen, der Selbstbehauptung vielleicht.

"den Kopf an die Spitzen setzen" > Ich verstehe das so, dass das Du versucht, es der Welle nachzutun, den eigenen Kopf immer an den Wellenkamm setzt, um den Bewegungen zu folgen.

Die Muräne gibt mir Rätsel auf. Ich kann das gemischte Gefühl aus Grausen und Schönheit nachvollziehen, eine seltsame Faszination, aber ich kann das nur mit Mühe in den Kontext bringen. Vielleicht ist die Muräne das Gegenstück zur Welle, weil sie nie an die Wasseroberfläche kommt, sondern immer unten, wo das Wasser dunkel und kaum bewegt ist.

Sprachlich unklar ist mir "der wollte sie sein": Ist gemeint "der Strand wollte wie die Wellen sein", "der Strand wollte wie die Frau sein" oder "die Frau wollte wie der Strand sein (den die Wellen leckten)" ?

Der Abschnitt "um Welle zu sein" ist entwickelt eine unglaubliche Dynamik, ein Nach-Vorne-Drängen, wobei mir weil man nicht stirbt nicht klar wird. Ich hätte gedacht, wenn nicht dafür - wofür dann?

Zum Ende kommt das Ich zu Wort. Es steht in einer sehr klaren Beziehung zum Du, es kann sich mit seinen Handlungen einverstanden erklären. Aus dieser Position heraus billigt es, dass das Du ganz in dem (angestrebten) Welle sein aufgeht. Das klingt für mich so, als würde das Du hier tatsächlich zur Welle.

Mit den letzten beiden Zeilen (ein Zitat?) kann ich nicht viel anfangen. Ich frage mich, in welchem Zusammenhang sie mit dem Du stehen. Wellen werden es sein, die das Ufer bedrohen, aber welche Rolle spielt das Du? Ist es wirklich Welle geworden und Teil der Sturmflut?

Ach ja, auch der erste Teil des Titels "Unterheimat" ist mir nicht klar. Nicht die wirkliche Heimat, sondern eine unzulängliche Heimat, eine vorläufige? Sucht das Du eine Heimat in den Wellen?

Ich lese, wie smile, keinen lauten Text, höchstens einen stummen Schrei. Wie Elsa, finde ich einige Passagen "manieriert", mir manchmal zu gesucht (wie zB das Semikolon in der Überschrift). Andere Passagen sind erstaunlich und gefallen mir sehr (die Frau am Strand oder die Muräne). Insgesamt finde ich den Text sehr stimmig und er lässt mich nur schwer wieder los.

Ich bin sehr gespannt auf weitere Kommentare!

Gruß - annette

Louisa

Beitragvon Louisa » 27.04.2008, 20:27

Ich finde allein die Tatsache, dass wir uns so über jedes beliebige Wort die Köpfe zerbrechen, zeigt, dass der Text kunsttauglich ist :daumen: ...


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