Im Hafen von Konstanza

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
scarlett

Beitragvon scarlett » 09.04.2008, 16:54

Endversion

Und eines Morgens legt die Zeit
ihre Häute ab

Du siehst das Kind im Hafen von Konstanza
wo Möwen um die Gunst des Windes streiten
und wortgewandte Fischer feilschen
weingerötet um den Tagespreis

Im Schatten angedockt liegen die Träume
unerreichbar bunt mit fernen Namen
und das Kasino wacht in raues Weiß gehüllt
über veröltes Meer das nur verhalten schäumt

Von angespitzten Türmen flattern Töne
so fremd wie noch die Verse von Ovid
der schattenreich im weiten Mantel
seine Piazza überblickt

Du siehst das Kind im Hafen von Konstanza
das kniebestrumpft im blauen Kleid
seinen Blick in Wellen legt

und eines Morgens ist die Zeit vorbei
da du voll Zuversicht am Wasser stehst


Dank an sneaky, mucki, elsa und alle anderen sowie an Gerda!



1. Version

Und eines Morgens legt die Zeit
ihre Häute ab

Du siehst das Kind im Hafen von Konstanza
wo Möwen um die Gunst des Windes streiten
wie wortgewandte alte Fischer feilschen
schon weingerötet um den Tagespreis

Angedockt im Schatten liegen Träume
so unerreichbar bunt mit fernen Namen
und das Kasino wacht in raues Weiß gehüllt
über veröltes Meer das nur verhalten schäumt

Von angespitzten Türmen flattern Töne
so fremd wie noch die Verse von Ovid
der schattenreich im weitem Mantel
über seine Piazza finster blickt

Du siehst das Kind im Hafen von Konstanza
das kniebestrumpft im blauen Kleid
sich seinen Blick in Wellen legt

und eines Morgens ist die Zeit vorbei
wo du voll Zuversicht am Hafen stehst.

© Monika Kafka, 2008
Zuletzt geändert von scarlett am 15.04.2008, 09:15, insgesamt 3-mal geändert.

Herby

Beitragvon Herby » 09.04.2008, 22:24

Liebe Monika,

lass mich dir einige spontane und daher vorsichtige Gedanken zu deinem Text schildern. Ich finde Gedichte oder auch Prosatexte immer dann besonders interessant, wenn sie Orte zum Gegenstand haben, die ich aus persönlichem Erleben nicht kenne. Interessant und auch spannend, weil solche Texte es schwerer haben, in mir als Leser Eindrücke, Bilder hervorzurufen als jene, die mir bekannte Szenerien beschreiben. Das gelingt aber deinen Versen auf sehr poetische, lebendige Weise.

Die Rahmenverse scheinen mir indes noch nicht rund; zu Beginn legt die Zeit ihre Häute ab (ein schönes Bild), am Ende ist sie dann (einfach nur)vorbei - hier fällt für mich die Bildebene der Klammer auseinander. Verstehst du, wie ich es meine? Im Moment kann ich es nicht anders ausdrücken. :confused:

Bei der folgenden Stelle

der schattenreich im weitem Mantel


ist dir ein doppelter Dativ rein gerutscht.

Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Herby

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 09.04.2008, 23:03

Hallo scarlett,

toller Text.

Anfang und Schlusszeilen sind für mich sowas wie eine Parabel auf das Kind, das nicht ewig Kind bleiben wird.

Schwierigkeiten hatte ich bei:

wie wortgewandte alte Fischer feilschen, da ist das -andte und alte zu dicht für mich aufeinander um mir zu gefallen und leicht zungenbrecherisch wirds auch. Falls du da "alte Fischer" gesehen hast, müssen sie denn auch im Gedicht alt sein? Das Hemingway-t mir zu sehr.

Rein gefühlsmäßig will ich da das weingerötete in der gleichen Zeile wie die Fischer lesen .

Angedockt im Schatten liegen Träume
Der Auftakt bricht sich mit den vorhergehenden Zeilen, Absicht? Ich seh da Yachten und Frachtschiffe am Anker dümpeln, die Ölspuren auf dem Wasser zurücklassen, hat auch einen Bezug zur Ölpipeline dort.

"Piazza" ist ein Tick zu italienisch für eine Stadt am schwarzen Meer. Da ich den Platz nicht kenne, muss ich den Eindruck glauben, aber an dem Wort hab ich mich gestört. Der Satz selber betont sich wegen dem "über" am Anfang auch nicht so sauber wie die übrigen Zeilen.

Insgesamt mit Begeisterung gelesen.
Gruß

Sneaky

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 09.04.2008, 23:43

Es beginnt wundervoll und verliert sich irgendwann, will zu viel, erzählt zu lang.

Strophe 3 und 4 könnte man m.E. ersatzlos weglassen, und das Ganze gewönne.

Ansonsten grandiose Ansätze, ganz feine Bilder, Scarlett,

Tom
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Herby

Beitragvon Herby » 10.04.2008, 00:25

Hi Tom,

Strophe 3 und 4 könnte man m.E. ersatzlos weglassen, und das Ganze gewönne


Einspruch, Euer Ehren: es verlöre, statt zu gewönnen! ;-)

Nachtgrüße
Herby

Mucki
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Beitragvon Mucki » 10.04.2008, 00:55

Liebe Monika,

du beschreibst hier sehr schöne Bilder, die ich als Leser gut vor Augen habe. Und wieder hab ich etwas gelernt über die Stadt Konstanza, die ich vorher nicht kannte,-)
Ich habe das gleiche Problem mit der Zeit wie Herby. Oder vielleicht verstehe ich es auch falsch. In den ersten zwei Zeilen bleibt die Zeit stehen. Die Einblicke werden gewährt. Und am Schluss ist die Zeit vorbei. Da fehlt etwas, oder? Das Vorbeigehen der Zeit dazwischen. Noch ein paar Anregungen im Text:

Und eines Morgens legt die Zeit
ihre Häute ab


Du siehst das Kind im Hafen von Konstanza
Möwen streiten um die Gunst des Windes (das "wo" entfernt, klingt nicht gut, und Satz umgestellt)
wortgewandte alte Fischer feilschen ("wie" rausgenommen)
weingerötet um den Tagespreis ("schon" rausgenommen)


Angedockt im Schatten liegen Träume
unerreichbar mit fernen Namen ("so" und "bunt" entfernt)
das Kasino wacht in raues Weiß gehüllt ("und" entfernt)
über veröltes Meer das nur verhalten schäumt


Von angespitzten Türmen flattern Töne
fremd wie die Verse von Ovid ("so" und "noch" entfernt)
der schattenreich im weiten Mantel (weiten statt "weitem")
über seine Piazza blickt ("finster" entfernt, steckt bereits im "schattenreich")


Du siehst das Kind im Hafen von Konstanza
das kniebestrumpft im blauen Kleid
seinen Blick in Wellen legt ("sich" entfernt)


und eines Morgens ist die Zeit vorbei
wo du voll Zuversicht am Hafen stehst. (Hier versuchen, das "wo" zu ersetzen.)


Soweit meine Anregungen.
Sehr gern gelesen!
Saludos
Mucki

Herby

Beitragvon Herby » 10.04.2008, 01:27

Liebe Mucki

In den ersten zwei Zeilen bleibt die Zeit stehen.


Das versteh ich völlig anders. Wie kann sie denn stehen bleiben, wenn sie ihre Häute abnimmt? Da liegt doch im Gegenteil eine Bewegung drin, keine Statik. Oder narrt mich nun der Gott des Schlafes?

Wünsche wohl zu ruhen,

Herby :sleepy1:

Caty

Beitragvon Caty » 10.04.2008, 07:43

Scarlett, sehr schöne Bilder. Ich sehe den Hafen direkt vor mir, obwohl ich ihn nur aus dem Fernsehen kenne. Ein wundervolles Gedicht. Lass es so, ich wünsch mir kein einziges Wort verändert.

Vielleicht aber kannst du tatsächlich die "alten" Fischer rausnehmen. Fischer allein reicht, hervorstechend an ihnen ist doch nicht das Alte, sondern das Wortgewandte, mit dem sie dem Ahnungslosen einen Fisch andrehn, der schon drei Tage lang in der Sonne gelegen hat.
Nein, ich glaube nicht, dass du "Piazza" umbenennen solltest, denn Rumänisch ist doch auch eine romanische Sprache, obwohl ich nicht weiß, ob dieser Begriff dort im Gebrauch ist.

Herzlich, Caty

scarlett

Beitragvon scarlett » 10.04.2008, 08:17

Liebe Kommentatoren,

bevor mich wieder der Buchhandelstag bis 20 Uhr unter Beschlag nimmt und danach eine - hoffentlich - wunderbare Lesung, nur eine ganz kurze Rückmeldung.
Ihr habt keine Ahnung, wie sehr es mich freut, dass dieser Text offenbar doch noch was geworden ist! Lange hats gedauert, ihn zu fassen, es ist der erste Text seit geraumer Zeit, ich dachte schon, ich könne nicht mehr schreiben ...

Zur Klammer: durch das Ablegen der Häute wird der Blick freigegeben auf das Vergangene, auf das einstige Kind mit seinem Sehen und Wünschen, seinen Träumen, die beim Blick auf den Hafen, die fremden Schiffe usw. entstehen (es war immerhin das einzige Stück Fremde, das in den sechzigern und siebzigern erlebt werden konnte, aber das ist jetzt persönlich und ist nur eine Zusatzinfo für euch)
Und am Schluss wird in die Jetztzeit geschwenkt, Rückblick vorbei sozusagen, verbunden mit der "Erkenntnis", dass im Laufe der Zeit, des Lebens - auch durch das Ablegen verschiedener anderer Häute - ein Stück Zuversicht, Kindlichkeit und Kindheit vorbei sind. Sneaky hat das sehr schön formuliert.

Die "alten Fischer" müssen natürlich nicht sein, lach ... an Hemingway hab ich zwar nicht gedacht, aber die Verbindung stellt sich schon ein.

Die "Piazza" - ist natürlich italienisch, rumänisch heißt sie genauso, wird genauso ausgesprochen aber anders geschrieben: Piata und unter dem "T" gehört ein Hackerl, das die Aussprache "Z" gewährleistet.
Ich habe auf einer Werbeseite von Constanza "Piazza" gelesen und es deshalb übernommen.

Sneaky, was den Auftakt in der dritten Strophe anbelangt (angedockt) und die Abweichung zu den restlichen Strophen: ja, die war beabsichtigt, weil das für mcih die wichtigste Strophe ist, da geht es um diese Träume angesichts der vielen fremden, und ja, bunten Schiffe (eine Abwechslung im ansonsten eher grauen Ort).
Ich könnte das auch umstellen, muss noch darürber sinnieren ... stört es denn?

"seine Piazza düster überblickt" - werde ich auch ändern in

"über seine Piazza blickt" - Besser?

Zu allen anderen Vorschlägen später ... da ist noch einiges drin, Mucki, das ich übernehmen werde an Kleinigkeiten ... ("so" und "wo" evtl. mal ein "und")

Und nein <Herby, der Gott des SChlafes hat dich nicht genarrt, du hast das schon richtig gesehen, auch was das "Weglassen" von S 3 und 4 anbelangt - das würde den Text verstümmeln. Sorry, Tom, das werde ich sicherlich nicht so machen.

Caty, danke auch dir für die Zustimmung - und Unterstützung dieser Version. Wie gesagt, ein paar Glättungen wird es noch geben.

Huch, jetzt aber nix wie los ....

Euch allen einen wunderbaren Tag und vieeeeeeeeelen Dank!

Herzlichst,
scarlett/Monika

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 10.04.2008, 13:00

Hallo scarlett,

die Betonungswechsel stören (mich), wenn ich sonst durchgängig "gewiegt" werde, die Zeile könnte man ohne Wortveränderung umstellen, wobei meine Lesart die ist, dass "im Schatten angedockt wurde"

im Schatten angedockt liegen die Träume, ist immer noch nicht durchgängig, aber da kommt der Bruch in der Zeilenmitte, vor den Träumen. angedockt hat ja selber schon einen Bruch des Leseflusses in sich.

die Piazzazeile, wenn du das Possesivpronomen kappen willst, nach meinem Geschmack so:

die Piazza überblickt

Ist aber nicht die Frage, was ich will, sondern wie Dus haben möchtest.

Gruß

Sneaky

Mucki
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Beitragvon Mucki » 10.04.2008, 13:46

Liebe Monika,

ja, nach deinem Kommentar, erscheint mir das sinnvoll mit der Zeit. Ich hatte das "Und eines Morgens legt die Zeit ihre Häute ab" wirklich falsch verstanden, hatte damit die "Unruhe" assoziiert, die sozusagen weggelegt wird und deshalb die Zeit stehenbleibt. Aber das ist Unsinn. Enthäuten ist ja Bewegung und gibt etwas frei.
Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 10.04.2008, 19:06

Liebe Monika,

Ein Text, in dem ich schwelge. Für mich verliert er bis zum Ende nicht an seiner Kraft, sondern macht Fade out, was ich ganz richtig finde.

Beeindruckte Grüße,
ELsa
Schreiben ist atmen

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 10.04.2008, 22:16

Liebe Scarlett!

Ich sehe es wie ELsa.

Es ist ein Ort und eine Entwicklung hier, die mich erfüllt bei der Betrachtung dieses Textes.

MlG

Moshe

Max

Beitragvon Max » 11.04.2008, 21:21

Liebe Scarlett,

das klingt für mich rund.

Das Interessante dabei ist in meinen Augen, dass das Gedicht mit seiner Eingang- und seiner Schlusszeile eine Zentralperspektive einnimmt. Da ist ein allwissender Erzähler, der mir die Welt erklärt, aber in dem Tonfall, lasse ich sie mir gerne erklären.

Liebe Grüße
Max


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