Winterkind

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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leonie
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Beitragvon leonie » 12.03.2008, 15:34

Winterkind

Das Eis machte die Tiefe sichtbar – unberührbare Welten, die ihr wirklicher schienen, lebendiger als alles über dem Eis. Sie legte sich nieder, drückte ihr Gesicht aufs Schwarz, es war so glatt, so beruhigend.
Dann wendete sie den Kopf, legte ihr Ohr auf die gläserne Fläche – lauschte nach unten: Kühle Stille, ein Klang, vertraut, wie die Ferne zwischen ihr und den anderen. Am Rande stehen, zusehen, es war, als wohne sie hinter Glas.
Wie die Tiefe schaute. Unzählige Luftblasen im Dunkel. Orte, an denen man atmen konnte. Manche waren zu nah an der Oberfläche, sie bohrte mit dem Daumennagel eine auf, weiß krümelten Kristalle, sie höhlte das Loch aus, umfuhr den Rand, bis der Finger schmerzte.
Sie wusste, sie könnte sich drehen, tanzen, die Bewegung war in ihr. Auf dem Eis war sie starr, erst darunter erwachte sie. Ein Wirbel, der alles mit sich ins Leben riss.

Der Tag – hatte sie ihn berührt? Er schmolz an ihren Fingerspitzen.


Erstfassung:

Winterkind

Das Eis machte die Tiefe sichtbar. Sie legte sich, drückte ihr Gesicht aufs Schwarz, es war so glatt, so beruhigend. Sie schaute in die unberührbare Welt, die ihr wirklicher erschien, lebendiger als alles über dem Eis.
Sie drehte den Kopf zur Seite, als wolle sie in die Tiefe lauschen. Kühle Stille, wie die Distanz, auch die mochte sie. Am Rande stehen, zuschauen, sie war nicht fremd, sich nicht fremd; es war, als sei sie im Abstand geboren, als wohne sie hinter dem Glas.
Sie zählte die Luftblasen im Dunkel. Orte, an denen man atmen konnte. Manche waren zu nah an der Oberfläche, sie bohrte mit dem Daumennagel eine auf, weiß krümelten Kristalle, sie höhlte das Loch aus, bis sie sich an den Rändern schnitt.
Sie wusste, sie könnte sich drehen, tanzen, die Bewegung war in ihr. Auf dem Eis war sie starr, erst darunter erwachte sie. Ein Wirbel, der alles mit sich ins Leben riss.

Der Tag – hatte sie ihn berührt? Er schmolz an ihren Fingerspitzen.
Zuletzt geändert von leonie am 08.04.2008, 11:40, insgesamt 1-mal geändert.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 14.03.2008, 21:30

Huhu Leo,

Manche waren zu nah an der Oberfläche,

… dieser Satz beschreibt für mich wie der Text (auf mich) wirkt. Die Bilder scheinen gesucht, "synthetisch pathetisch" sozusagen. Mir bleibt als Leser die Luft weg, ich werde von Behauptungen stranguliert.
Leider schaffe ich es nicht, mich von dem Gefühl der Künstlichkeit zu lösen um mich so "wirklich" auch offen auf die Metaphorik (die viel bietet und noch mehr bieten könnte) einlassen zu können…
Insgesamt habe ich beim Lesen überdies ständig gedacht: "schon mal gelesen/gesehen"

Das Eis machte die Tiefe sichtbar.

Ja? Nein, oder bedingt? Die Tiefe ist dunkel. Nur in flachen Gewässern kann man durchs Eis was erkennen.
So, einfach "behauptet" wirkt die Tiefe flach auf mich. Ich hätte den Text nach diesem Satz außerhalb eines Forum liegen gelassen.

Sie legte sich, drückte ihr Gesicht aufs Schwarz,

Mir auch zu ungenau. Habe eine frontale Szene vor Augen… aber dann wäre die Nase platt (was ja auch so sein müsste, weil sie das Gesicht ja erst später zur Seite dreht).

Sie schaute in die unberührbare Welt, die ihr wirklicher erschien, lebendiger als alles über dem Eis.

Was sieht sie denn? SDT!

Kühle Stille,

…also lauscht sie doch?

wie die Distanz,

die? welche?

als wohne sie hinter dem Glas.

Diesen plötzlichen Bildwechsel zum Glas empfinde ich als disharmonisch (auch wenn Glas nahe am Eis ist)

Sie zählte die Luftblasen im Dunkel.

Obwohl das natürlich paradox ist, finde ich das sehr spannend.

bis sie sich an den Rändern schnitt.

…am Eis schneiden?

Ein Wirbel, der alles mit sich ins Leben riss.

Wo kommt der denn jetzt her? Ich denke da ist kühle Stille?

Zu viele "sie" auf zu engem Raum.

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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leonie
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Beitragvon leonie » 14.03.2008, 22:00

Lieber Nifl,

danke, dass Du Dir soviel Mühe mit dem Text gemacht hast. Er ist sehr spontan entstanden, eigentlich war der letzte Satz zuerst da, die anderen Bilder fügten sich dann dazu. Ich hatte Mühe, Worte dafür zu finden, das scheint man dem Text abzuspüren.

Ich werde Deine Hinweise nochmal in Ruhe durchgehen und sehen, ob ich es hinkriege, den Text zu verbessern. Im Moment scheint es mir fast eher so, als käme er in Ablage P, vielleicht muss ich für das, was er ausdrücken soll, eine ganz andere Form finden. Wie gesagt, ich brauche ein wenig Ruhe und Zeit, um zu sehen, ob und in welcher Form er eine Zukunft hat!

Liebe Grüße

leonie

Peter

Beitragvon Peter » 18.03.2008, 04:59

Liebe Leonie,

für mich kein Papierkorbtext, wenn du "Ablage P" so meintest. Vielleicht eher Ablage Peter? Denn ich würde ihn gerne nehmen. Obwohl er auch mir in seinem Handlungsablauf, weniger aber durch seine Beschreibungshaltung, noch zu „zerstückelt“ erscheint. „Zerstückelt“ z.B. der Vorgang des Lauschens (drückte ihr Gesicht aufs Schwarz, drehte den Kopf zur Seite, zählte die Luftblasen) aber auch das Ort-Verhältnis (einmal lauscht sie auf dem Eis, dann steht sie am Rand, dann wohnt sie in der Tiefe).

Man verliert dadurch den Text. Wenn man diese „Zerstückelung“ aber überliest, und ihn sozusagen darüber aufhängt, denn er hat ja eine ganz wunderbare obere Linie, ist er, wie ich finde, sehr besonders zu lesen: dann weht er förmlich, sehr leicht, für mich als eine Philosophie, die da fragt: Was ist der Tag, was ist er denn?

(Man könnte dann auch an den Kairos-Moment denken, also den geglückten Augenblick, der ja im Text aufscheint.)

Also, ich hab dieses Wehen gelesen. Das Eis des Tages, in dem die Starren stehen. Eine Lust auf Beweglichkeit, auf Sagen, Sprudeln, Sprechen. Und wie die Fingerspitzen, die gar nicht reichen, tasten, „Kristalle krümeln“, die schmelzen. (Das weht.)

Liebe Grüße,
Peter

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Beitragvon leonie » 19.03.2008, 10:18

Lieber Peter,

ich wollte Dir ausführlicher antworten als ich im Moment kann, deshalb erstmal (bevor Du denkst, ich hätte Deine Antwort nicht gelesen) ein kurzes, aber umso herzlicheres Danke. Später dann mehr.

Liebe Grüße

leonie

Trixie

Beitragvon Trixie » 19.03.2008, 12:51

Hallo leo!

So, dann wage ich es auch mal wieder, etwas zu einem Text zu sagen. An sich finde ich den Text toll, oder besser gesagt: Er könnnnte toll werden! Er entgleitet mir jedoch wie das Eis, das er beschreibt. Ich habe einerseits keine Ahnung, was du eigentlich erzählen willst und warum, doch ich spüre einen Grundtenor, der mich weiterlesen lässt, der mich nachdenken lässt. Die Geschichte reizt mich, obgleich da noch etwas ist, das mich stört.

Was mich am meisten beimLesen irritiert, dass die meisten Sätze mit "Sie" anfangen. Das muss vielleicht so sein, aber gerade am Anfang, wo gleich drei Sätze hintereinander mit "Sie" anfangen, wirkte es auf mich auch ein wenig zerstückelt, als würde da noch was zwischendrin fehlen, das wirklich für den Leser ist, dem Leser die Möglichkeit gibt, das nachzuvollziehen, was "sie" erlebt. Vielleicht ein bisschen mehr Passiv, das dem Leser auch das Gefühl gibt, es nähme ihn mit und nicht nur die "reine Beobachtung", die erzählt wird? Was sie alles erlebt - das möchte ich auch nachvollziehen können, nicht nur beschrieben bekommen.

Ich bin gespannt, was du daraus machst, denn ich spüre sehr viel Potential und dass der Text bald sehr fantastisch sein wird!!

Liebes Grüßlein
Trixie

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Beitragvon Ylvi » 19.03.2008, 13:39

Hallo Leonie,

ich hatte dir ja auch schon geschrieben, dass er nicht in die Ablage P gehört und ich darin etwas sehr Feines sehen kann. Vielleicht können wir dich doch noch motivieren, den Text nochmal aufzugreifen. :-) Wäre schön zu sehen, wohin er sich entwickeln kann.

liebe Grüße smile
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Beitragvon leonie » 19.03.2008, 15:35

Lieber Peter,

das ist eine nette Interpretation von "Ablage P". Was würde denn in der Ablage aus dem Text? Mal sehn, vielleicht nutze ich sie... :-) .

Liebr Pter, liebe Trixie, liebe smile,

danke Euch für Eure freundlichen und ermutigenden Kommentare. Ich denke, ich lasse die Ideen ein Weilchen wirken und mache mich dann nochmal an den Text. im Moment ist er mir ein wenig fremd geworden und außerdem habe ich noch ein anderes Projekt, das ich bearbeite (das kann auch noch ein wenig dauern), da habe ich den Kopf nicht frei.
Aber Ihr habt in jeden Fall bewirkt, dass er im Hinterkopf bleibt und ich erste Ideen habe, wie ich damit weiter arbeiten kann (Stichwort: Zerstückelung!). Dafür ganz vielen Dank!!!

Liebe Grüße

leonie

Peter

Beitragvon Peter » 20.03.2008, 09:11

Liebe Leonie,

wenn der Text in meiner Ablage läge, würde ich ihn so versuchen:

Winterkind

Das Eis machte die Tiefe sichtbar - Die unberührbare Welt, die ihr wirklicher schien, lebendiger, als alles über dem Eis. Lauschen. Sie legte sich nieder, drückte das Gesicht auf das Schwarz. Es war so glatt, so beruhigend. Verhaltene Stille – So wie sie auch selbst sein wollte. Sich selbst ferner sein, am Rande stehen. Schauen. Wie die Tiefe schaute. Unzählige Luftblasen im Dunkel. Orte, wie es ihr schien, wirklicher, als der Ort darüber.
Sie lag starr auf dem Eis. Einzelne der Luftblasen waren nah an der Oberfläche. Mit dem Daumennagel kratzte sie eine auf. Eiskristalle. Sie höhlte das Loch aus, umfuhr den Rand. Sie wusste, sie könnte sich drehen; tanzen. Der Bewegung nach. Ein Wirbel werden, dem gleich, aus dem die Blasen waren. Eingehen. War das nicht möglich? Ein Wirbel, der ins Leben riss?
Der Tag – hatte sie ihn berührt? Er schmolz an den Fingerspitzen.

Aber ohne Gewähr.

Liebe Grüße,
Peter

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Beitragvon leonie » 20.03.2008, 22:50

Lieber Peter,

danke, das ist ja total nett (Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich freu mich so sehr über Deine Fassung!!!) !
Also: Das ist interessant zu lesen, wie Du den Text auffasst. Ich würde mir das gerne abspeichern und wenn ich darf, für die Überarbeitung "verwenden". Es kann allerdings ein wenig dauern, bis ich dazu komme.
Auf jeden Fall weiß ich jetzt schon, dass Du mir sehr geholfen hast. Vielen, vielen Dank!

Liebe Grüße

leonie

Peter

Beitragvon Peter » 21.03.2008, 00:51

Liebe Leonie,

du darfst verwenden.

Im Schreiben hab ich festgestellt, wie schwierig das ist, einen Text zu "übernehmen", also ihn so zu denken, als dächte man ihn selbst, weil man irgendwie nicht zu den Tiefen vorkommt. Man wird zum Schauspieler. Deshalb war ich mir nicht sicher.

Schön, dass es dich gefreut hat.

Liebe Grüße,
Peter

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Beitragvon leonie » 08.04.2008, 11:43

Hallo Ihr,

ich habe jetzt noch einmal eine neue Version versucht. Danke Euch allen, besonder Peter und smile für Eure "Texte", in denen ich viele Anregungen gefunden habe!

Nifl, ich habe versucht, manches zu ändern, aber ich merke, bei diesem Text komme ich an Grenzen (vor allem mit SDT, er findet "innen" statt, da kriege ich das nicht so hin...)

Danke nochmal!

Liebe Grüße

leonie


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