Die Schuld

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
moshe.c

Beitragvon moshe.c » 18.02.2008, 19:28

Die Schuld

sitzt auf einem Ast
und lacht
auf mich herab

Gerade versuche
ich zu gehen
als sie davonfliegt

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.02.2008, 00:20

Hallo Moshe,

bei deinem Gedicht kommen mir ziemlich makabere Gedanken. Ich sehe jemanden mit einem Strick um den Hals im Baum, der sich aufgrund von Schuldgefühlen erhängen will. Doch als er gerade abspringen will, verfliegt die Schuld, weil er sich durch diese Tat noch schuldiger machen würde und somit wird die Tat verhindert durch die Schuld, die eigentlich der Auslöser war.
Ich weiß, meine wilden Assoziationen ...
Vermutlich hattest du etwas ganz anderes im Sinn,-)
Saludos
Mucki

Louisa

Beitragvon Louisa » 19.02.2008, 00:24

Huhu!

Finde ich interessant. Für mich sieht die Schuld hier aus wie ein Comic-Vogel :smile: !

Ich würde es evtl. lieber lesen, wenn es hieße: "Geradeaus zu gehen" ...

Gute Nacht und besseren Tag!
l

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.02.2008, 00:40

Dieses

Gerade versuche
ich zu gehen
brachte mich ja gerade zu dieser Assoziation. :eek:
Na, ich bin gespannt, was Moshe wirklich sagen möchte ,-)
Saludos
Mucki

Niko

Beitragvon Niko » 19.02.2008, 04:42

hallo moshe!
immerwieder spannend, deine scheinbar unauffälligen kurztexte.
knack - dreh - und wendepunkt ist für mich hier das "gehen". dieses gehen weist am ende wieder auf den anfang der zeilen und ich lese erneut und komme zur stagnation. stillstand. man hockt quasi unter der schuld, verharrt. es ist schwierig sich ihr zu entziehen. im grund ist eingangs treffen beschrieben, wie es mit der schuld bzw. der verfälschenden sicht ist: das negative wird ihr angelastet. dabei sind doch "wir" es, die negativ belastet sind, weil wir es nicht schaffen, uns ihrer zu entledigen.
ein aha-erlebnis: wenn man versucht (s)einen weg zu gehen, fliegt sie davon, löst sie sich auf.
find ich für mich stimmig und vor allem gelungen.

lieben gruß: Niko

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 19.02.2008, 15:52

Hallo!

Anscheinend ist der Text ganz anregend. Mir ging er heute den ganzen Tag im Kopf rum, und da kam noch eine zweite Variante zum Vorschein:

Die Schuld

sitzt auf einem Ast
und lacht
auf meinen Körper

Gerade versuche ich
zu gehen
als sie davonfliegt

Bin mir selbst im Unklaren, was jetzt besser ist. Vielleicht greift ihr mir mal unter die Arme?

Lieber Niko!

Danke für deinen Kommentar. Du bist die Inspiration für diesen Text gewesen. Da waren die Texte von Sam und mir, die sich an Konkretes hielten, dann dein Text 'lebenslänglich', der als abstrakt bezeichnet wurde, und so dachte ich, etwas dazwischen finden zu können.

MlG

Moshe

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.02.2008, 16:12

Also lag ich jetzt doch richtig mit meiner wilden Interpretation :frage:

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 19.02.2008, 17:00

Liebe Mucki!

Du hast hier eine sehr spezielle Note auf den Punkt gebracht.

Mit bestem Gruß

Moshe

Perry

Beitragvon Perry » 21.02.2008, 17:26

Hallo Moshe,
Schuld ist ein weiter Begriff. Subjektiv auf das LyrIch bezogen fällt mir allerdings die Verbindung zu "lächeln" etwas schwer, eher könnte ich mir ein "hämisches" Grinsen vorstellen.
Lg
Manfred

Nihil

Beitragvon Nihil » 21.02.2008, 17:38

Lieber Moshe,

ich habe ähnliche Assoziationen wie Mucki .. ob das den Psychologen beim Assoziationstest erfreuen würde? ;-)

Die Schuld sitzt als Rabenvogel auf dem Baum des Lebens und symbolisiert die Erbsünde, Leben heißt schuldig werden .. sagt auch das Über-Ich .. ;-) Indes ist die Schuld von einem höheren Standpunkt aus betracht wie alles nur eine Illusion und sie fliegt davon und es verbleibt die Versöhnung mit dem Leben und die Leere als das Absolute ..

LG

Nihil

Mucki
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Beitragvon Mucki » 21.02.2008, 18:08

Hallo Manfred,

dieses "lacht auf mich herab" ist ja kein Lächeln. Ich interpretiere das "auf mich herab" als Auslachen, sprich, es ist ein hämisches Lachen.
Saludos
Mucki

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 21.02.2008, 21:58

'Schuld ist ein weiter Begriff'

So gesehen ist jeder Begriff sehr weit, relativ und beliebig in der Tragweite.
So gesehen kann man überall lächeln sehen, auch wenn es nicht im Text steht.

Nihil bringt hier den Begriff Erbsünde auf. (Danke dir dafür.)
Das ist ein Begriff, der in vielen kleinen Kinderseelen schon plaziert wird, bevor sie überhaupt verstehen können, was es eigentlich bedeutet, ganz legal und einfach so ungeniert, als wäre es das täglich Brot, wird man einer Schuld bezichtigt, die einen beugt.

So gesehen ist es sehr spezifisch, daß man allein durch seine Existenz keine Schuld annehmen sollte, sondern versuchen sollte aufzustehen und gerade zu gehen.

So gesehen, wird sie (Die Schuld) davonfliegen, mit einem Krächzen vielleicht, aber einen aufrechten Menschen zurücklassen, der danach zu sich findet, und ein selbstbewußtes Leben führen kann, ohne von vornherein belastet zu sein.

Shalom

Moshe,

der eine Schuld per se für jeden von vornherein unglaublich destruktiv findet.


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