Konjunktive - Versuch einer Utopie

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Klara
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Beitragvon Klara » 11.01.2008, 10:55

Das übersteigerte, von vornherein zum Scheitern verurteilte Konzept der romantischen Liebe in der uns prägenden Kultur, das auf die unerfüllte Sehnsucht nach Berührung antwortet und zugleich deren Nicht-Erfüllbarkeit perpetuiert, wäre überflüssig, wenn es genug gute Berührung gäbe.

Erzwungener Verzicht bzw. zuvor das individuell wie kollektiv früh erfahrene Versagen von Berührung jedem Bedürfnis zum Trotz, das daraus hervorgehende Leid und dessen immer wieder versuchte Kompensation durch "Liebe" würden ebenso unnötig wie das krampfhafte Vermeiden von "Liebe" bzw. Nähe.

"Sex" wäre kein problematisches Idol außerhalb mehr, das kontrolliert und abgespaltet werden muss, sondern als wesentlich in die Körper integriert.

Liebe wäre keine Sehnsucht mehr, sondern in den Leben vorhanden.

Das Leben wäre kein Bedauern mehr, auch kein Warten mehr, sondern berührende Gegenwart. Der Begriff "Seele" verlöre seine Bedeutung.

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leonie
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Beitragvon leonie » 11.01.2008, 16:14

Liebe Klara,

ich wollte Dich keineswegs verärgern, ich war einfach erstaunt über Deinen Stil, der sich sehr von dem, was Du sonst schreibst, abhebt. Und natürlich legt man in einem Literaturforum "litararische" Maßstäbe an, d. h. ich erwarte hier nicht unbedingt einen Sach- oder Fachtext.
Ich konnte die Absicht Deines Stils aus dem Inhalt heraus nicht erkennen. Und auch nicht wissen, wie sehr Dir dieses Thema am herzen liegt. Also, wie gesagt, ich wollte Dich nicht verärgern.

Das Thema finde ich interessant, aber auch sehr komplex, es hat viele Facetten und man kann es von unterschiedlichen Seiten beleuchten. Ich fände es toll, wenn Du dazu einen Faden im Café eröffnest, ich denke, dass sich da ein spannende Diskussion darüber entwickelt.

Unter literarischen Aspekten betrachtet halte ich den Text, nicht für gelungen. Aber es ist ja auch die Frage, ob das die ihm angemessene Form ist.

Liebe Grüße

leonie

Klara
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Beitragvon Klara » 11.01.2008, 16:38

Hallo Mucki und Leonie,

danke für die Rückmeldungen.

Unter literarischen Aspekten betrachtet halte ich den Text, nicht für gelungen.


In der Rubrik "Kurzprosa" steht als Beschreibung:
Skizzen, Fragmente, Aphorismen, lyrische Prosa

Eins von alldem wird es ja wohl sein? Ich sehe den Text als Gedankenfragment.
Aber meinetwegen: Ab ins Café damit.

°grübel°

Klara

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 11.01.2008, 16:58

Liebe Klara,

ich kann nur sagen, dass dein Ergebnis von Jahren auch mein ERgebnis von Jahren ist und ich keinerlei Schwierigkeiten hatte einem Satz oder auch nur einer Wendung zu folgen. Es ist leidig, bezüglich des Textes zu diskutieren, ob er Sach- oder literarischer Text ist, für mich ist er lesenswert, weil er genau trifft, was mir eine Wahrheit ist. Ich denke, hier ist auch Platz für Essays etc. und dieser Text sollte nun nicht ins Cafe. Es ist die Frage, ob dieser Text, ohne dass ich ihn unvollkommen nenne, so bleiben will, oder ob sich an ihm noch ganz anderes aufspannt. Auf jeden Fall finde ich die Überlegungen sehr treffend und auf erschreckenerweise übereinstimmend mit, wie gesagt, meinem Ergebnis von Jahren (wäre auch ein guter Titel: Konjunktive - Ergebnisse von Jahren).

Ich hätte da auch noch ein paar Facetten dazuzugeben.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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leonie
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Beitragvon leonie » 11.01.2008, 17:03

Hilfeee!

Ich wollte nicht sagen, dass der Text ins Café soll, sondern das Thema es wert ist, dort ausführlich diskutiert zu werden...

Liebe Grüße

leonie

Hoedur

Beitragvon Hoedur » 11.01.2008, 17:13

Hallo Klara,

auch ich wollte Dir nicht zu nahe treten. Was ich interessant fände
wäre gerade das Thema verstrickt in eine kleine (oder grosse) Geschichte.
Du schreibst doch meist lange Texte und darin könntest Du dann Deine
Gedanken einweben. Das fände ich persönlich ansprechender.

Anders gesehen ist es die Sache des Autors seine Message zu verpacken...


Lg
Hoedur

Mucki
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Beitragvon Mucki » 11.01.2008, 17:20

Hallo Klara,

nee, die Rubrik Kurzprosa finde ich durchaus ok, sehe ich deine Zeilen doch auch als Gedankenfragmente.
Gehst du noch auf meine Frage bez. deiner "Definition" von Seele ein?
Saludos
Mucki

Nicole

Beitragvon Nicole » 11.01.2008, 17:29

Hallo Klara,

wie Lisa schon sagte - Treffer.
Ich kann nur nicken und gerade auch bezüglich der, für meinen Geschmack, engen Definition von Liebe hier erweitern. Ich sehe viele Menschen, die ihren Begriff für Liebe (und damit auch verbundene "erlaubte" Weitergabe von Berührungen) sehr eng(stirnig) definieren. Erlaubt ist Liebe zum Lebenspartner, die intime Berührung und Sex inbegriffen, die Liebe zu den Kindern und allgemein, die Liebe zur Familie - that's it. Gelegentlich gestattet "man" Frauen auch noch eine engere Freundschaft, die "beste" Freundin, die liebevoll berührt werden darf. Männer werden häufig schon merkwürdig beäugt, fassen sie ihre "Kumpel" über einen männliche Händedruck hinaus an...

Kennt hier jemand zufällig die Kindergeschichte mit den "warmen Schmusern"? Ich weiß leider nicht mehr genau, von wem die ist oder wie der Titel war, aber ich muß gerade spontan daran denken....

LG, Nicole

Klara
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Beitragvon Klara » 11.01.2008, 18:02

Komisch, da sind ein paar Beiträge erst nachträglich zwischengerutscht?

Hochinteressant, was ihr schreibt!

Mucki: Mit "Seele" - sicherlich verkürzt dargestellt wie der gesamte Text - wollte ich verweisen auf die (Denk-)Spaltung Seele-Geist-Körper bzw. Körper-Seele. Ich weiß nicht, wie sehr man da überhaupt trennen kann, ob nicht die Trennung schon unwahr wird, auch wenn es fürs Denken landläufig als notwendig erscheint, diesen Schnitt zu machen. Ich weiß es wirklich nicht! Das Konzept der "Seele", behaupte ich, ist ein kompensatorisches. Diese Behauptung ist wahrscheinlich falsch.

Aram, das verstehe ich nicht:
die themengebiete, aus denen der text destilliert sind riesig - nur mal was die geschichte der romantischen liebe betrifft z.b. - das lässt sich m.e. nicht sagen, darin drückt sich nichts anderes aus als sehnsucht nach berührung.
Meinst du, die romantische Liebe meine mehr als die Sehnsucht nach Berührung? Interessant... Wenn ja: Was denn noch?
Dass die Thematik unausschöpflich ist - ja. Deshalb ja ein kurzprosaischessaystischer Versuch. Man kann immer nur anfangen...

Sam:
1. Die Berührungarmut in unserer Kultur ist kein abendländisches, sondern ein (in unserem Kulturkreis) nordeuropäisches Problem. Je weiter man in den Süden kommt, desto mehr berühren sich die Leute und desto näher stehen sie zusammen, wenn sie miteinander sprechen.
Mag sein, dass ich das geografisch zu weit gefasst habe. (Ich möchte übrigens auch keinesfalls so verstanden werden, dass körperliche Berührung ein Allheilmittel für jedes Leid der Zeit wäre!) Wie viel Nähe erlebt ein Baby und ein Kleinkind? Schläft es schon Stunden nach der Geburt im eigenen Zimmer, im einsamen Kalten, abgetrennt von der Körperwärme ("bloß nicht verwöhnen")? Darf es an der Brust saugen? Wie lange darf es das? Wie lange darf es das in Spanien, in Italien? Wie vollzieht sich Kontakt in den Familien? In den Gruppen?
In erweitertem Sinne ist es auch religiöses, nämlich protestantisches Problem, da der Protestantismus im Laufe der Jahrhunderte jede Affektivität und körperliche Spontaneität stigmatisiert und aus dem Verhaltensmuster der Menschen weggepredigt hat.

Das ist ein hochinteressantes Thema, denn man fragt sich natürlich sofort WARUM. Woher die Notwendigkeit. Luther war doch noch ein höchst lustbetonter Zeitgenosse, oder nicht? Die katholische Zeremonie trotz allem eine höchst sinnliche Angelegenheit (Weihrauch, Engel, Maria mit großen Brüsten, Wein etc.) Warum war es nötig, die Religion zu ent-sinnlichen? Cui bono - wem nutzt es? Die Seele auch im liturgischen Handeln über den Körper zu stellen? Das göttliche Über-Ich als Schuld abstrakt in den Einzelnen zu versenken - ohne Möglichkeit des Schuldenerlasses, wie wöchentlich bei der katholischen Beichte immerhin noch möglich? Auch das Konzept der Schuld ist auch im Katholizismus religionsbegründend. Warum muss es Schuld sein? Schuldig wessen? Adam und Eva waren nackt und erkannten einander - in Berührung? Wäre Berührung Schuld? Warum?

2. Die von dir angerissene Utopie ist die einer sich ständig berührenden und damit gegenseitig beruhigenden Gesellschaft.

So meinte ich das nicht. Eigentlich wollte ich fragen. Und habe behauptet. Damit ich neue Fragen stellen kann.
Und die Hauptbeunruhigung in jeder Gesellschaft, weil es die Hauptbeunruhigung eines jeden Einzelnen ist, findet sich in der Frage nach dem Sinn unserer Existenz.

Das behauptest du jetzt. Trifft das für jede Gesellschaft zu? Trifft es für jeden zu? STellt sich schon das Kind diese Frage? Hat es mit Erwachsensein zu tun? Wer definiert Erwachsensein? Bedeutet Erwachsensein, dass Berührung außerhalb der Konventionen sanktioniert und schon selbstzensiert wird, bevor sie vollzogen werden kann?
Wird dieser Sinn im erfüllten Berührungswunsch gesehen und als erfüllt erlebt, erübrigen sich all die anderen Modelle, die über die Jahrhunderte dessen Platzhalter waren. Sei es die Religion oder eben die romantische Liebe. Dadurch würde aber nicht die Seele überflüssig. Sie wäre nur gefüllt und beruhigt und damit so eins mit dem sie umgebenden Körper, dass man ihrer Existenz nicht mehr warhnehmen würde.

Ja. Ich meinte das Konzept "Seele" als dem Körper vor-geordnet, als überlegen gedacht. Weißt du, was ich meine?

Lisa: Das finde ich interessant, dass du das ähnlich siehst.

Nicole: Dito.

Hoedur: Wer weiß, was mit diesen Gedanken noch passiert - literarisch ,-)

Dank euch für eure Anregungen!

Klara

Sam

Beitragvon Sam » 13.01.2008, 08:47

Hallo Klara,

selbst nach mehrmaligem Lesen regt mich dein Text immer noch zum Nachdenken an. Es erfordert leider immer sehr viel Zeit, seine Gedanken zu ordnen.

Hier deswegen ein paar Gedankenfetzen zum Thema Berührung:

Ich habe einmal gelesen, dass arabische Frauen den männlichen Kleinkindern die Hoden streicheln, um sie zu beruhigen.

In Deutschland wird eine Frau immer noch schräg angesehen, wenn sie ihr Kind in der Öffenlichkeit stillt.

Die Indigenas, die in den Bergen Ecuadors leben, wicklen ihre Babys in Hängematten ein und lassen sie stundelang so hängen, während sie draußen auf dem Feld arbeiten. Ich habe diese Menschen als sehr reserviert, scheu und nicht übermäßig an ihrer Umwelt interessiert kennengelernt. Berührungen, auch unter Familienmitgliedern, kann man so gut wie überhaupt nicht beobachten.

In Afrika gehen Männer händchenhaltend miteinander spazieren, ohne dass irgendjemand auf die Idee käme, die beiden wären schwul.

Chatwins Buch Traumpfade enthällt eine Menge Notizen zum Nomadentum, in denen er die These entwickelt, dass Bewegung ein Urbedürfniss des Menschen ist. Weinende Babys werden auf den Arm genommen und geschaukelt, was eine Gehbewegung simuliert und das Kind beruhigt. Gut möglich, dass Bewegung und Berührung das gleiche Urbedürfniss des Menschen ansprechen. In dem Maße, wie der Mensch seßhaft wurde, der Bewegungsdrang also immer mehr unterdrückt wurde, brach der Berührungsdrang derart hervor, dass es schließlich reglementiert und mit gewissen Tabus belegt wurde.

Die protestantische Religion hat das Leben der Menschen entsinnlicht, indem es die Gleichung
Arbeitsleistung=Gottesgunst aufgestellt hat. Nur ein sittlich einwandfreies, in nicht nachlassendem Arbeitseifer und Fleiß verbrachtes Leben führt zur ewigen Glückseeligkeit. Glauben und vor allem Liebe sind zweitrangig. Dies hat dazu geführt, dass das weitestgehend protestantische Nordeuropa und auch Nordamerika ein wirtschaflich prosperierende, aber berührungs- und gefühlsarme Gesellschaft wurde.

"Sex" wäre kein problematisches Idol außerhalb mehr, das kontrolliert und abgespaltet werden muss, sondern als wesentlich in die Körper integriert.

Dazu müsste der Sex von Besitzansprüchen befreit werden und dürfte auch keine kommunikative Qualität (wir unter den Bonobos) haben. Dazu wäre aber m.E. eine Trennung von Sex und Fortpflanzung nötig.

Ansonsten bleibe ich bei meiner Behauptung, dass Berührung in erster Linie Beruhigung bedeutet. Die größte Motivation, die einen Menschen zum Handeln anregen kann, ist die suche nach Erleichterung/Beruhigung. Und die größte Beunruhigung des Menschen ist die frage nach dem Sinn seiner Existenz und die Angst vor dem Tod. Die ist offenbar genetisch verwurzelt, soadss selbst Babys ein unbewusstes Gefühl für Gefahr haben und schreien, wenn sie alleine sind etc.
Diese Grundbedürfnisse wurden und werden noch in vielen Kulturkreisen durch die Religion befriedigt. Im Zuge der Säkularisierung der westlichen Gesellschaft, mussten aber andere Dinge den Platz der Religion einnehmen. Und das hat, vor allem in Deutschland, die Romantik getan. Unsere heutige Vorstellung von romantische Liebe, ist vielleicht noch ein deutlich spürbares Nachbeben dieser Umschichtung.


Soweit meine Gedanken dazu. Du siehst, mir macht dein Text viel Spaß. Ich hoffe, den ein oder anderen Gesichtspunkt findest du ansprechend bzw. passend zu deinem Gedankengang.

Viele Grüße

Sam

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 13.01.2008, 10:00

Hallo Klara,

ich habe eine ganze Weile darüber nachgedacht, weshalb ich deinen Text nicht für gelungen halte. Ich versuche mal zu erklären.
In diesem Text setzt du individuelle Erfahrungswerte oder persönliche Wahrheiten als bewiesene, unumstößliche Fakten, die eine allgemeine Gültigkeit für alle Menschen besitzen.
Es gibt nun zwei Möglichkeiten. Wenn man sich innerhalb dieses Erfahrungshorizontes oder Weltbildes befindet, also innerhalb dieser Wahrheit, wird eine Diskussion überflüssig, da es nur um ein sich bestätigen oder vertiefen dieser Sichtweise geht. Befindet man sich aber außerhalb, wird eine Diskussion unmöglich, da der Text keine andere Wahrheit zulässt, toleriert. Besonders der Satz in deinem Kommentar: "Ja: dass das Bedürfnis gar nicht mehr als solches erkannt wird?! " zeigt auf dieses Phänomen. Wer diese Wahrheit so nicht anerkennt, begreift, versteht, ist nur noch nicht so weit, hat keinen wahren Kontakt zu seinen Bedürfnissen. Hierdurch entsteht für mich dieser Missionierungscharakter, der in mir eine Blockade aufbaut, da ich keinen Sinn mehr in einer Auseinandersetzung sehe. Dies war ja aber dein Anliegen, denn du schreibst ja, dass du behauptet hast, um fragen zu können. Für mich funktioniert dieser Umweg nicht.

liebe Grüße smile

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leonie
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Beitragvon leonie » 13.01.2008, 11:35

Lieber Sam,

ich finde total interessant, was Du schreibst, kann vieles so nicht nachprüfen, aber hiermit habe ich mich ein wenig beschäftigt und das stimmt so nicht:

Die protestantische Religion hat das Leben der Menschen entsinnlicht, indem es die Gleichung
Arbeitsleistung=Gottesgunst aufgestellt hat. Nur ein sittlich einwandfreies, in nicht nachlassendem Arbeitseifer und Fleiß verbrachtes Leben führt zur ewigen Glückseeligkeit. Glauben und vor allem Liebe sind zweitrangig. Dies hat dazu geführt, dass das weitestgehend protestantische Nordeuropa und auch Nordamerika ein wirtschaflich prosperierende, aber berührungs- und gefühlsarme Gesellschaft wurde.


Martin Luther, Begründer des Protestantismus, hat zumindestens vertreten, dass der Mensch sich die ewige Glückseligkeit weder durch Geld noch durch Leistung verdienen könne, sondern allein durch den Glauben und die Gnade Gottes erhalte.

Sicher gibt es Strömungen, die später diese Auffassung "entkräftet" haben, aber ich bezweifle, dass in diesem Fall Ursache und Wirkung so einfach zu erklären sind, ich vermute, da kommt mehrers zusammen. Wobei ich nicht im Einzelnen sagen könnte, was alles.

leonie

Gast

Beitragvon Gast » 13.01.2008, 11:41

Liebe Alle,

auch wenn das hier ein Textfaden ist (aber inzwischen wird ja auch über den Text hinaus diskutiert), erlaube ich mir diese kleine Stellungnahme.

Was mir auffällt ist, dass im Text, sowohl als auch in der Diskussion, wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse außen vor bleiben, die längst belegt haben, dass menschliche Berührungen lebenswichtig sind.
Es kommt mir so vor, als ob man sich in diesem Faden langsam in die Sackgasse "Sexuelle Freizügigkeit" (sexuelle Freiheit zum Wohle der Menschheit), begibt.
Man kann nicht Verhältnisse, die andernorts traditionell und über Jahrhunderte gang und gäbe sind einfach übertragen, aber sie sind natürlich Überlegungen wert.

Wir (insbesondere wir Deutschen) schaffen es ja noch nicht einmal den "Nächsten" in den Arm zu nehmen und unsere Besitzdenken verhindert - vielleicht ist das aber auch ganz gut so - es wäre ein anderes Thema - dass wir es wie die Bonobos handhaben und Streit auch außerhalb der Partnerschaft damit beilegen, dass wir zusammen ins Bett steigen.

So habe ich auch den Verdacht, dass sich etwas schön geredet werden soll, nämlich der körperliche Liebesbetrug, in dem man zu rechtfertigen trachtet, dass es doch wichtig und richtig sei, sich nahe zu kommen, und dass dies, auf die Liebe (Seele) keinen Einfluss habe.
Meiner Ansicht nach wäre der Ansatz wo anders zu suchen, nämlich da wo es bereits an der Umarmung zwischen Familienmitgliedern (besondern wenn Eltern alt werden), mangelt.
Warum schafft es die aufgeklärte Gesellschaft nicht, diesen schlichten "heilenden" Vorschlägen zu folgen, in dem sich Menschen liebvoll anfassen, um sich zu „begreifen“?

In diesem Sinne - umarmt und drückt euch und eure Mitmenschen so oft es geht -
liebe Sonntagsgrüße
Gerda

Sam

Beitragvon Sam » 13.01.2008, 12:39

Hallo Leonie,

natürlich hat das, was ich sage keine Allgemeingültigkeit, sondern beruht rein auf Erfahrungswerten und dem, was man sich an Wissen angeeignet zu haben glaubt. Und diese beiden Faktoren tragen zu meiner Meinung bei, dass der in politisch und gesellschaftlicher Hinsicht prägende Protstantismus, nicht derjenige Luthers, sonder vielmehr derjenige Calvins mit seiner Prädestinationslehre war. Und diese besagte, dass die von Gott vorherbestimmte Erlösung sich im Menschen durch ein sittliches Einwandfreies, arbeitssames und fleissiges Leben manifestiert. Ein sinnlicher und "fauler" Mensch hat durch sein Verhalten schon beweisen, dass die Vorhersehung ihm einen gut beheizten Platz im göttlichen Strafgericht zugewiesen hat.
Hinzu kommt, dass der Protestantismus die Stellung innerhalb der religiösen Gemeinde mit der Stellung innerhalb des sozialen Struktur derselben verbunden hat. Das hat dazu begetragen, dass sich religiöse Anschauungen tief ins soziale und familäre Leben der Menschen eingegraben haben und Berührungstabus selbst dort Fuß fassen konnten, wo sie am wenigsten am Platze sind.

Aber du hast völlig recht. Da kommen viele Dinge zusammen und was ich sage, ist nur eine Möglichkeit von sehr vielen.

Liebe Grüße

Sam

Mucki
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Beitragvon Mucki » 13.01.2008, 14:13

Erzwungener Verzicht bzw. zuvor das individuell wie kollektiv früh erfahrene Versagen von Berührung jedem Bedürfnis zum Trotz, das daraus hervorgehende Leid und dessen immer wieder versuchte Kompensation durch "Liebe" würden ebenso unnötig wie das krampfhafte Vermeiden von "Liebe" bzw. Nähe.

Ich möchte hierauf noch einmal eingehen (die für mich zentralen Worte habe ich unterstrichen), jedoch nur stichwortartig, sonst wird das viel zu lang:
Sicherlich ist es so, dass jemand, der von klein auf, vielleicht schon als Baby, Berührung als negativ empfunden hat oder nicht/zu wenig berührt wurde, hiervon sehr stark geprägt wird. So wird derjenige als Kind/Jugendlicher und schließlich Erwachsener starke Probleme haben, was Berührungen betrifft. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass viele (wenn nicht sogar die meisten) psychische Krankheiten ihre Wurzeln gerade hierin haben. Mangelnde Berührung oder zuviel Berührung. Vor allem aber die mangelnde Berührung. Sie führt bei sensiblen Menschen dazu, dass sie in ihrem Leben immer wieder Berührungsängste haben, sei es mit einem Partner, sei es, dass sie die Nähe zu Menschen geradezu fürchten. Oder es schlägt ins Gegenteil um: sie suchen ihr ganzes Leben nach Nähe, tun alles, um auf irgendwelche Weise Nähe zu finden. Diese Nähe kann sich auf viele verschiedene Arten ausdrücken: Abhängigkeit zum Partner, bei körperlicher Nähe z.B. kann dies soweit führen, dass sie sogar Schläge als Nähe empfinden, Hauptsache Berührung. Nähe durch Anerkennung oder Aufmerksamkeit (Stichwort: Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom). Auch für "normale" Menschen negative Nähe, wie z.B. Beschimpfungen, Hauptsache Aufmerksamkeit, erfüllen für den "nähehungrigen" Menschen ihren Zweck. Für den durch mangelnde Nähe geprägten Menschen kehrt sich die Nähe um, bekommt andere Facetten, die "normale" Menschen nicht nachvollziehen können, es abstoßend finden und diesen Menschen ausgrenzen. Dadurch eskaliert das Problem dieses Menschen umso mehr, er gerät in einen teuflischen Kreislauf, aus dem er sich kaum befreien kann. Oder dieser Mensch grenzt sich selbst aus, vermeidet jegliche Nähe, lebt "außerhalb" der Gemeinschaft, schafft sich seine "eigene Welt".
Wie gesagt, nur angerissene Stichworte, da dieses Thema ein sehr großes ist.

Mich beschäftigt nach wie vor die Frage:
Was ist eine "gute" Berührung?
Und denke weiter darüber nach.
Saludos
Mucki


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