Verloren

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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leonie
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Beitragvon leonie » 05.01.2008, 15:11

Damals
hat mich bei allem
was mir verloren ging
immer eines getröstet

dass ich mir selber bleibe
vielleicht mir gar treu bleibe
wenn alles gut geht

Wer aber bin ich
wenn ich meinen Namen
nicht mehr schreiben kann
in deine warme
zitternde Hand

und dein Gesicht
meinen Augen so fremd ist
wie das der wechselnden Pflegerinnen


Erstversion:

Damals
hat mich bei allem
was mir verloren ging
immer eines getröstet

dass ich mir selber bleibe
vielleicht mir gar treu bleibe
wenn alles gut geht

Wer aber bin ich
wenn ich mich nicht erinnere
an deine Liebe
und meine zu dir
wenn dein Gesicht
meinen Augen so fremd ist
wie das der wechselnden Pflegerinnen

und ich meinen Namen
nicht mehr schreiben kann
in deine warme
zitternde Hand
Zuletzt geändert von leonie am 07.01.2008, 19:37, insgesamt 1-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 07.01.2008, 13:49

Hallo Leonie,

das ist sehr berührend. Die neue Fassung finde ich in sich runder, bis auf das Ende mit den Pflegerinnen. Für mich fokusiert sich das Gedicht hierdurch weg vom LIch und seinen Fragen zu einer gesellschaftskritischen Aussage, was ich schade finde. Für mich könnte das Gedicht auch enden mit:
und dein Gesicht meinen Augen fremd ist

Die Zeitfrage wäre für mich eindeutiger zu lesen, wenn du schreiben würdest:
Wer aber werde ich sein
...


Das ist ein schmerzlich gutes Gedicht.

liebe Grüße smile

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leonie
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Beitragvon leonie » 07.01.2008, 19:35

Hi Chiqu,

danke Dir. In jedem Fall, glaube ich, dass sie subjektiv als "verloren" erlebt wird, wenn sie denn noch erlebt wird (d.h. der betroffene ein Bewusstsein darüber hat).

Liebe smile,

auch Dir danke.
Was die Zeitfrage betrifft, möchte ich es fast lieber offen lassen.
Im Moment kann ich mich auch nicht dazu durchringen, die Pflegerinnen wegzulassen, obwohl ich Dein Argument verstehe.
Aber wenn ich es weglasse, fällt ja auch der Aspekt weg, dass das lyrDu "degradiert" ist zu einem völlig beliebigen Menschen.

Ansonsten freunde ich mich im Moment gerade mit der zweiten Version an, ich denke, ich setze sie mal oben mit rein.

Liebe Grüße

leonie

P.S. Lisa, natürlich darfst Du einen Link setzen (das hatte ich ganz vergessen zu beantworten, sorry)

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 08.01.2008, 12:20

ja, aber der betroffene, also der demenzkranke wird sich diese fragen gar nicht stellen können. du nimmst also als (noch) gesunder mensch ein gefühl der entfremdung, der wandlung vorweg, versuchst dich mit den worten des gesunden in den kranken einzufühlen. darüber stolperte ich, weil ich in meiner arbeit seit jahren mit demenzkranken menschen umgehe.
es gibt diesen spruch: erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. für die demenz trifft das bestimmt zu. aufrichtiger wäre dein gedicht, wenn du über die betroffenheit aus sicht des gesund gebliebenen partners geschrieben hättest, der miterlebt, wie sich das wesen des demenzkranken verändert, wie die person, die er/sie einst liebte, immer fremder wird, sich in eine andere welt verkriecht, zu der man oft keinen zugang mehr hat.

gruß
chiqu.

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leonie
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Beitragvon leonie » 08.01.2008, 12:35

Es ist eine Angst (insofern auch eine Betroffenheit, nicht von der Demenz, aber von der Angst), dass das, was getröstet hat, sich als Schuss in den Ofen erweisen könnte und man sich doch selbst verloren gehen kann.

Für mich wäre Deine Anregung ein anderes Gedicht, ein lohnenswertes sicherlich!

Liebe Grüße

leonie

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 08.01.2008, 12:58

ja, schon klar, leonie; dein gedicht hat für mich unmittelbar mit dem identitätsproblem zu tun (theseus-schiff). ein hochinteressantes thema. es ist nicht nur die krankheit, die einen menschen verhätlnismäßig stark verändern kann. es sind auch schicksalsschläge oder kriegserlebnisse. nehme die soldaten, die aus dem irak und aus vietnam heim kamen. oft fanden sie sich in dem leben, in ihrer familie, in ihrem land nicht mehr zurecht. und die zuhause gebliebenen können es nicht fassen, können es nicht nachempfinden, was mit den menschen passierte.
ist man noch man selbst? für sich selbst, glaube ich, schon - wenn auch ein starker konflikt zwischen vergangenem und gegenwart besteht. auch der "normale" mensch im zeitstrom verändert sich ständig, nur unmerklicher, wie das vorrücken des stundenzeigers einer uhr. meist haben wir die zeit, uns auf die veränderungen unserer person einzustellen, ohne dass wir damit große identitätsprobleme haben. in der pubertät erleben wir es anhand der natürlichen entwicklung stärker. und auch in der sogenannten midlife-crisis. krankheiten wie demenz können wie beschleuniger wirken.

chiqu.

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leonie
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Beitragvon leonie » 09.01.2008, 16:36

Lieber Chiqu,

das sind spannende Gedanken und Fragen, die Du da ansprichst. Danke nochmal für die Auseinandersetzung mit dem Text. Vielleicht werde ich die ein oder andere Idee noch mal aufreifen (wenn mein Krea-Tief etwas nachlässt...

leonie


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