Verloren

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 05.01.2008, 15:11

Damals
hat mich bei allem
was mir verloren ging
immer eines getröstet

dass ich mir selber bleibe
vielleicht mir gar treu bleibe
wenn alles gut geht

Wer aber bin ich
wenn ich meinen Namen
nicht mehr schreiben kann
in deine warme
zitternde Hand

und dein Gesicht
meinen Augen so fremd ist
wie das der wechselnden Pflegerinnen


Erstversion:

Damals
hat mich bei allem
was mir verloren ging
immer eines getröstet

dass ich mir selber bleibe
vielleicht mir gar treu bleibe
wenn alles gut geht

Wer aber bin ich
wenn ich mich nicht erinnere
an deine Liebe
und meine zu dir
wenn dein Gesicht
meinen Augen so fremd ist
wie das der wechselnden Pflegerinnen

und ich meinen Namen
nicht mehr schreiben kann
in deine warme
zitternde Hand
Zuletzt geändert von leonie am 07.01.2008, 19:37, insgesamt 1-mal geändert.

Gast

Beitragvon Gast » 05.01.2008, 16:53

Liebe leonie,

auch du beschäftigst dich literarisch in diesem Text mit dem alt Werden.

Das Lyrich ist vermutlich dement und hat diese Gedanken, in einem der hellen Momente, in denen es erkennt, dass es die Orientierung verloren hat.
Soweit mein Interpretation.
Inwieweit jemand, der dement ist oder an Alzheimer erkrankt, noch reflektieren kann, dass er sich selbst nun auch nicht mehr treu ist, weil er sich nicht wiedererkennt (hätte auch zum Monatsthema Dezember gepasst, fällt mir gerade auf), weiß ich nicht.

In sofern bin ich bei strophe 2 ein wenig unsicher ... in diesem Zusammenhang.
Die Form der Wdhlg. wäre vielleicht auch zu überdenken.

Berührender, inniger Text auf jeden Fall.

Liebe Grüße
Gerda

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 05.01.2008, 22:23

Liebe Gerda,

danke für Deine Rückmeldung! Ich möchte nochmal abwarten, ob sich noch jemand dazu meldet.

Liebe Grüße

leonie

Anton

Beitragvon Anton » 05.01.2008, 23:10

Hallo leonie,

ich finde es auch berührend, ein Liebesgedicht, das sich beinahe verflüchtigt, zwischen den Zeilen, wo die Abgründe lauern.

"der wechselnden Pflegerinnen"

tut weh, weil es schneidet.

Gruß,
Anton

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 05.01.2008, 23:48

Lieber Anton,

danke Dir!

Ja, es soll weh tun...

leonie

Caty

Beitragvon Caty » 06.01.2008, 09:15

Was sind wir ohne Erinnerung? Wir leben, irgendwie, auf der Stelle, es tut nicht weh. Wir bezahlen den Preis des langen Lebens. Doch in dieser Gesellschaft, menschenfeindlich und herzlos, sollte man vielleicht schnell sterben. Man ruft staatlicherseits (aus Kostengründen?) zur Treibjagd gegen die Alten: Was brauchen sie noch? Sie wissen doch nichts von sich selbst. Ihr Jungen zahlt für die Alten! Noch verbietet man sich den Begriff "lebensunwertes Leben", noch ist alles schlecht verhüllte Rhetorik. Mir will scheinen, ein paar Gedanken davon hätte das Gedicht vertragen. Man muss mit allem rechnen. Ein paar Krankenpfleger machens uns vor. Caty

Gast

Beitragvon Gast » 06.01.2008, 11:30

Hm ... Liebe Caty,

leonie hat dieses Gedicht sicher nicht ohne Grund in 'Liebeslyrik' und nicht in 'Gesellschaft und Kultur' gepostet.
leonie geht es wohl in Gedicht zentral um das Erkennen des alt und krank Werdens zwischen Liebenden, jedefalls habe ich den Text so gelesen.

Liebe Grüße
Gerda

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 06.01.2008, 13:15

Liebe Caty,

da hat Gerda Deine Frage schon beantwortet (Danke, Gerda!).
Ich denke, das wäre wirklich ein anderes Gedicht. Hier geht es mir um eine anderen Schwerpunkt.

Danke und liebe Grüße

leonie

claire.delalune

Beitragvon claire.delalune » 06.01.2008, 14:59

für mich steckt in diesem text sowohl das noch-ahnen verlorener liebe zum "du", als auch die verlorene liebe zu sich selbst. denn ein mensch, der sich nicht mehr weiß, nicht mehr kennt - wie kann er sich noch lieben?

die frage, inwieweit reflektion in einem solchen zustand möglich ist, wirft sich mir auch auf beim lesen.
doch da ich weiß, daß auch demente menschen immer wieder "wache" momente haben, nehme ich zugunsten des mich sehr berührenden textes an, daß die reflektion in einem solch wachen moment stattgefunden haben mag.
und schließlich: wer vermag zu sagen, was an innengedanken in einem dementen menschen vorhanden ist? niemand kann hinein blicken, um solche möglichkeit auszuschließen.

die von gerda angeführte wiederholung in der zweiten strophe ist für mich mehr als dies. eine fortführung nämlich, eine differenzierung von treue. treue zu einem gegenüber ist etwas anderes als die treue zu sich selbst und den eigenen überzeugungen. man kann dem "du" treu sein und doch (und gerade) sich selbst dabei verleugnen. insofern finde ich diese doppelung (die, wie gesagt, in meinen augen keine ist) an dieser stelle wichtig. unterstreicht es doch das, was ich eingangs schrieb: die verlorene liebe zu sich selbst.

lg,
kathrin

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 06.01.2008, 20:59

Liebe Kathrin,

schön, wieder von Dir zu lesen! Danke dafür.

Ich wollte eigentlich noch abwarten, aber jetzt sage ich doch etwas dazu: Für mich ist es nicht unbedingt so, dass das lyrIch schon "dement " sein muss. Auch das Erleben einer dementen Person kann doch zu solchen Überlegungen führen. Selbst, wenn man (noch) nicht betroffen ist.
Die Frage: Bin das noch ich? von Gerda in ihrem Gedicht unter Thema des Monats brachte mich darauf zu überlegen, was macht einen Menschen aus...Wenn es das Bewusstsein von sich selbst ist und die Beziehungsfähigkeit, dann kann man sich ja vielleicht doch verloren gehen...

Die Wiederholung: Ja, das geht mir auch so, die muss für mich unbedingt da bleiben...

Liebe Grüße

leonie

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 06.01.2008, 21:09

Liebe leonie,

den ersten Teil - den finde ich umwerfend schlimmschön, weil du es durch den Rhythmus schaffst ganz einfache Worte wie eine Lanze zu setzen:

Damals
hat mich bei allem
was mir verloren ging
immer eines getröstet

dass ich mir selber bleibe
vielleicht mir gar treu bleibe
wenn alles gut geht


Das trifft mich wirklich sehr, obwohl ich ja noch gar nicht genauer erzählt bekommen habe, was das Schlimme ist und eben doch: es trifft.

Dann geht es noch rhythmisch passend weiter, hier frage ich mich allerdings, ob die Grammatik nicht leicht irritiert:

wenn ich mich nicht erinnere
an deine Liebe
und
meine zu dir

Ich erwarte entweder ein: und an meine zu dir oder und meiner zu dir -- es ist zwar möglich, wie du es sagst, durch den Umbruch bin ich aber irritiert.


Hier kommt mir dann das Thema, gerade weil der Text aus dem Rhythmus seine Kraft speist, wie ein Keulenschlag entgegen, aber nicht im Sinne emotionaler Heftigkeit; ich empfinde es als sprachlich schwach im vergleich zur leistung vorher und wünsche mir eine Lösung, die leichter/schlichter daherkommt. Als ob jemand zuvor im Singen erzählt ohne Worte, sondern nur in Tönen und dann auf einmal die anfänt den gesang zu erklären...


Diesen Teil dann finde ich für sich genommen ganz schön und er greift schön auf, was Kathrin bemerkt, dass es um Ich und Du geht, zugleich, ineinander, ein zweifaches Verlorengehen (das Verlorengehen des Ichs, weil ihm das Du verloren geht). Allerdings kommt er nach dem pointenhaften "Pflegerinnen" "zu spät", wie ein Schluss, der nach dem Schluss kommt. ich würde versuchen, dass vielleicht etwas anders zu arrangieren.

und ich meinen Namen
nicht mehr schreiben kann
in deine warme
zitternde Hand



Den Titel empfinde als ein wenig zu "nichtssagend" für die außergewöhnlich wirksame Gestaltung.

Das wäre auch eine interessante Facette fürs Monatsthema - ob ich einen Link dorthin setzen darf?

Alles in allem hat mich der Text ergriffen, wenn ich an einzelnen Stellen etwas herausgefallen in - der Rhythmus ist für mich wirklich eine Wucht. Vielleicht liest ja jemand den endgültigen text`? Es würde sich lohnen...

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 07.01.2008, 12:37

Liebe Lisa,

vielen Dank für Deine Rückmeldung. Ich habe ein bisschen "gespielt" mit der Anordnung und das "Direkte" herausgenommen. Ich finde allerdings, dass sich der Schwerpunkt auf diese Weise verändert und biin mir nicht sicher, ob ich das will.

Dachtest Du so in dieser Richtung? Oder habe ich Dich ganz falsch verstanden?

Also:

Damals
hat mich bei allem
was mir verloren ging
immer eines getröstet

dass ich mir selber bleibe
vielleicht mir gar treu bleibe
wenn alles gut geht

Wer aber bin ich
wenn ich meinen Namen
nicht mehr schreiben kann
in deine warme
zitternde Hand

und dein Gesicht
meinen Augen so fremd ist
wie das der wechselnden Pflegerinnen


Am Titel überlege ich noch.

Liebe Grüße

leonie

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 07.01.2008, 13:11

Liebe leonie,

ohne lange überlegen zu müssen: Ja, so ist das für mich deutlich stärker und der Rhythmus lebt fort!
Natürlich ist die Frage, ob das Wort Pflegerinnen am Ende (an ganz letzter Stelle) nicht etwas "zu dicke" wirkt. Vielleicht hilft hier, sich für eine Umschreibung anstatt für ein Substantiv zu entscheiden. Aber die Handpassage ist für mich jetzt rhythmisch und bildsprachlich ganz und gar in den Text integriert - ich erlebe diese Überarbeitung als Stärkung.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 07.01.2008, 13:13

ist die erinnerung wirklich verloren oder ist sie nur durch die veränderung gestört, überdeckt? diese frage beschäftigte mich nach dem lesen am meisten, leonie.
ein ergreifendes gedicht. vielleicht könnte man sprachlich noch dran feilen - aber da bin ich kein guter ratgeber.

chiqu.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 2 Gäste