Chronik eines Literatentreffens

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 13.12.2007, 02:29

Chronik eines Literatentreffens


Als ich heute morgen nach dem Erwachen - nur mit einem leichten Hermelin bekleidet - durch meine leeren, noch etwas nachtkühlen Hallen schritt, suchte ich ebenso verzweifelt wie vergebens nach sichtbaren Spuren dieses rauschenden Festes. Keine Schäden an der Bausubstanz, keine verbrannten Wolldecken oder Pommes-Erbrochenes in den Ecken, keine Urin-Pröbchen auf der Klobrille oder abgebissene Schamhaare auf dem Fliesenboden, nichtmal Krümel auf der Auslegeware. Hatte ich das alles nur geträumt? Nein, es hatte irgendwas stattgefunden. Doch was? Es muss auf der Meta-Ebene gewesen sein, ich muss woanders suchen. Doch das fällt schwer.

Zum einen deswegen, da im Moment dieser Niederschrift sämtliche Ausgänge meines Verdauungstraktes der scheinbar mit Schwarzpulver gewürzten Sucuk-Pizza vom Vorabend heftigst Tribut zu zollen suchen und somit buchstäblich sämtliche anderen Sinne vernebeln. Zum anderen, weil die für heute bevorstehende Profantätigkeit des Imprägnierten Trockenbaus in ander' Leuts Feuchträumen so gar nicht mit der Vergeistigung der vergangenen 48 Stunden in Einklang zu bringen scheint.

Dabei hatte alles so weltlich begonnen: Ich empfand es zwar zunächst als ein wenig befremdlich, dass ich kurz vor Mitternacht auf Gleis 13 des Duisburger Nichtraucherhauptbahnhofes von einem mir völlig unbekannten - bei 5 Grad Außentemperatur nur in ein leichtes Freizeitsakko gehüllten und mit nackten Füßen in Gesundheitsschlappen steckenden - wienernden Berberteppich geherzt und umarmt wurde, welcher sich aber gottlob innerhalb weniger Augenblicke als der lediglich schlecht rasierte und frisierte Bertram vorstellte. (Name v. d. Red. geänd.)

Man fuhr mit der Motordroschke auf hängenden Autobahnen über die Duisburger Hafenanlagen und gelangte wohlbehalten auf dem guttemperierten Gehöft an, wo ohne große Umschweife eine Flasche Dry Sherry aus längst erloschenen Tagen verköstigt wurde, deren Säure jedem Eisbergsalat den Garaus gemacht hätte. Gleichwohl: Er wärmte unser Herz und Bertrams Füße.
Auch hatte Bertram das von mir gewünschte Gastgeschenk mitgebracht. Er hatte mich vor Urzeiten danach gefragt, und ich bat frischfrommfrei um eine historische Bodenfliese aus Wien. Ich hatte das inzwischen längst vergessen. Bertram jedoch nicht. Er zog ein Gebilde aus der Reisetasche, das offensichtlich auch ein Fliese war und einer Tafel 'Ritter Sport-Krokant' aufs Haar glich, jedoch die Ausmaße und das Gewicht einer Deutschen Bürgersteigplatte hatte. Ich drapierte sie umgehend ob ihrer vermeintichen Appetitlichkeit nett auf einem Teakholz-Frühstücksbrettchen und stellte sie zu den anderen Knabbereien, die ich bereits für die Gäste auf dem Besprechungstisch in Position gebracht hatte. Sah echt lecker aus.

So schlief man seelenruhig ein. Ich jedoch erst dann, als Bertram nach Inspektion meiner Rumpelkammer (ich konnte das Klappern durch die nur mangelhaft trittschallgedämmte Zwischendecke über mir hören) eine alte Schreibtischlampe herausgefischt und sich seinen nächtlichen Arbeitsplatz, ohne den er wohl nicht recht heimisch werden konnte, eingerichtet hatte, und es endlich still wurde in den oberen Gemächern. Dass er nach einer Lampe gesucht haben musste, schloss ich aber erst am nächsten Morgen beim Zubereiten des Kaffees (nach Ommas Rezept mit Kakao und einer Prise Salz) aus der Tatsache, dass auf mysteriöse Weise über Nacht eine Glühbirne aus meiner Obstschale entwendet worden zu sein schien.
(Erläuterung: Zum besseren Verständnis habe ich hier bewusst die unkorrekten Begriffe 'Lampe' und 'Birne' verwendet. Es handelte sich natürlich um eine 'Leuchte' und eine 'Glühlampe', aber der Laienbegriff 'Glühbirne' passt einfach lyrisch viel besser in eine aus Birkenholz gedrechselte Obstschale.)

Ehrlich gesagt: Erst, als Bertram sich dann am Vormittag unter Zuhilfenahme meiner elektrischen Heckenschere den Flokati aus seinem Gesicht gesenst hatte, wusste ich genau: "Ja, den kenne ich, das ist ein Literat, und kein Anhänger Osama bin Bertrams." Er würde sich also vermutlich nicht an der nächsten Bushaltestelle in die Luft sprengen, was meinem ohnehin angekratzten Ruf in der Nachbarschaft sicherlich weiteren Schaden zugefügt hätte. "Guckt mal, der langhaarige Architekt, was der wieder für Leute hier anschleppt!"

Na, dann konnte man ja bedenkenlos mit ihm spazierengehen. Sein Wunsch nach einem türkischen Friseur, der sich auf unserem Wege eben kurz zwischendurch um die halbmondförmigen Reliquien seines Haupthaares kümmern sollte, verblasste ein wenig, als ich ihm erzählte, dass die örtlichen, morgenländischen Barbiere die Methode entwickelt hätten, parallel zum Haarschnitt auch die oftmals unansehnlichen Ohrhaare zu entfernen, und zwar mit der Flamme eines handelsüblichen, auf 'volle Pulle' eingestellten BIG-Feuerzeuges. Ich vermute, das klang ihm wohl zu märchenhaft.

Also direkt zum Hochofen!
Ich war heilfroh, dass sie das Ding vor über 20 Jahren stillgelegt hatten, sonst wäre Bertram vermutlich noch vor Begeisterung in die heiße Eisenbrühe gesprungen und hätte - wie etliche Arbeiter des Hüttenwerkes lange zuvor, die auch diesem Verlangen nachgegeben hatten - in einer extra zu diesem feierlichen Anlass abgestochenen Roheisenplatte auf der 'Plaza Metallica' seine letzte Heimstatt und Ruhe gefunden. Er war von den rostigen Stiegen, Möllerwagen und lebensgefährlich auskragenden Arbeitsbühnen in schwindelnden Höhen kaum noch herunterzubekommen (wo mir schon etliche Etagen tiefer alles schummerig wurde vor Augen ob der imposanten Höhe - ich konnte in der Ferne schon Düsseldorf sehen - und welcher waschechte Duisburger will das schon?), was auch der einsetzende, eiskalte Novemberregen nicht schaffte.

Doch die Zeit drängte zum Glück - die anderen Saloner würden bald eintreffen. So konnte ich Bertram nahezu unverschmolzen Richtung Heimathof dirigieren. Auf dem Rückweg durch die sich auf der Industriebrache angesiedelte und in Ruhe gelassene Pionier-Vegetation verhedderte sich unser Blick an einer Erläuterungstafel, die auf das Vorkommen des 'Klebrigen Anselms' hinwies. Jedenfalls so ähnlich. Kann sein, dass der auch 'Ansalm' oder gar 'Unhold' gehießen hatte. Aber 'klebrig' stimmt. Wie auch immer: Ein toller Name! Ich beschloss, ab sofort jeden sich in meinem Büro befindlichen 'Pritt-Stift' so anzureden.

Durch etliche Umwege über Bratkartoffeln und Friko-Brötchen, Einkaufsstraßen und Parkanlagen gelang es mir, den sonst so unerschütterlichen Orientierungssinn Bertrams zu verwirren, woran ich untrüglich festmachte, dass der Spaziergang ein voller Erfolg gewesen sein musste.

Die anderen Gäste konnten nun kommen.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 21.12.2007, 11:35

Lieber Tom,

das kenne ich doch? (Gerade erst gesehen). Das Treffen, zu dem ich mich noch nicht hingetraut habe ,-) Und B., ach ja ,-).

Nostalgischer Anfall? Grundüberarbeitet? Was möchtest du hiermit?

(hab immer noch gebrüllt)

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 21.12.2007, 11:59

Hoi Lisa.

Was ich hiermit möchte? Naja, was erzählen halt? Die Rubrik heißt doch 'Erzählungen'? :o)
Das erschien damals nur kurz in dem Treffen-Faden, und ich dachte, ich stelle es mal richtig 'online'.

Und wenn du gebrüllt hast, dann habe ich genau das gewollt :o)

Der klebrige Tom
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 21.12.2007, 14:05

"Man fuhr mit der Motordroschke ..."

Die Sprache des Prinzen. Typisch und zum totlachen.

Habe noch an vielen anderen Stellen gelacht, bin jetzt aber zu faul zum langen lobhudeln.


Salve

Pjotr

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 27.12.2007, 17:14

Klingt lohnend - wann passiert sowas das nächste Mal?
Ansonsten: Geistreich komponiert, pointiert formuliert - ein echter Genuß.
Was sind "auskragende" Arbeitsbühnen? Ist das ein Schreibfehler, eine Wortneuschöpfung, die ich gerade nicht verstehe, oder bloß ein Wort, das ich noch nicht kenne?

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 27.12.2007, 17:37

Hi Pjotr,
immer schön, wenn du wortkarg wirst :o)

Hi Mnemo,
die Firma dankt!
'Auskragen' kommt von 'Kragarm'. Das ist ein statisches System, in dem es nur einen Einspannungspunkt bzw. nur eine -ebene gibt. Beim Kran heißt sowas 'Ausleger'.
In obigen Falle stell dir einfach sowas wie einen Balkon ohne Stützen oder einen Sprungturm im Schwimmbad vor, der über die unter ihm befindliche Luft übersteht, also von einem Bauwerk 'auskragt'. Sowas in 60 oder 80 Meter Höhe ist schon edel, wenn man draufsteht.

Sowas passiert in Duisburg fast jeden Tag. Wann wer das nächste Salon-Treffen veranstaltet, und ob's da auch sowas gibt, weißich allerdings nicht :o)

Fein, dass dieses Teilchen doch noch von einigen entdeckt wird :o)

Tom.
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Maija

Beitragvon Maija » 02.01.2008, 16:57

Schön, schön, einfach zum - :totlach:

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 03.01.2008, 00:34

Danke, Maija.

Im Nachhineien würde ich dem Text jedoch im ersten Absatz eine Schwachstelle attestieren, da er sich - nahezu laienhaft - in förmlicher Ansprache an die Leserschaft wendet. Bei Texten von anderen Leuten finde ich sowas immer blöd. Da muss ich nochmal bei. Sowas macht man nicht ...


Für Pjotr...

... möchte ich meine persönliche Lieblingsstelle nochmal anführen. Das wär diese Klammerauf/Klammerzu hier:

"(Erläuterung: Zum besseren Verständnis habe ich hier bewusst die unkorrekten Begriffe 'Lampe' und 'Birne' verwendet. Es handelte sich natürlich um eine 'Leuchte' und eine 'Glühlampe', aber der Laienbegriff 'Glühbirne' passt einfach lyrisch viel besser in eine aus Birkenholz gedrechselte Obstschale.)"

Ich find das so geil ...

*häm*

Tom.
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leonie
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Beitragvon leonie » 03.01.2008, 00:38

Es sind eine Menge hübscher Lacher drin.
Ich mag ja "Bertram" immer noch besonders gern und frage mich, ob Du vorhast, daraus ein ganzes
"A - B - C -" zu entwickeln.

leonie


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