Alice

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Nicole

Beitragvon Nicole » 08.12.2007, 16:55

Mit sorgfältigen Bewegungen trocknet sie sich ab, schaut an sich herunter. Die Flecken an der Hüfte werden schon heller. Blau-schwarz verblasst zu stumpfem Braun. Auch der Unterarm heilt hervorragend. Noch ein paar Tage, dann kann sie wieder die kurzärmeligen Blusen tragen, wie er sie die er so liebt. Sie ist stolz. Stolz auf ihre Reflexe. Sie hat gelernt, Kopf und Hals zu schützen.
Nur mit dem Bademantel bekleidet öffnet sie die Haustür, geht zum Briefkasten. Den dicken Umschlag vom Verlag hat der Briefträger wie üblich zusammengerollt und in den Zeitungshalter geschoben. Zeitungen bringt er nie. Sie abboniert abonniert schon seit langer Zeit keine mehr. Kann die Grausamkeiten, die sie dort lesen muss, nicht ertragen. Die Fernbedienung des Fernsehers hat sie weggeworfen. Keine Bilder mehr von verhungerten Kindern, verstümmelten Leichen oder verwüsteten Landstrichen.
Mit dem Umschlag unter dem Arm geht sie zurück ins Haus, lässt sich vorsichtig am Schreibtisch nieder. Hinsetzen schmerzt noch ein wenig. Wie jeden Monat schickt der Verlag die Abrechnung. Zufrieden betrachtet sie den beachtlichen Betrag am unteren Ende der Seite. Am beiliegenden Manuskript hängt eine kurze Notiz des Lektors.
„Liebe Alice, anbei erhältst Du die neueste Folge der Zauberwald-Geschichte. Sie soll pünktlich zum Weihnachtsgeschäft erscheinen, bitte richte es so ein, dass die Illustrationen spätestens Ende September bei mir auf dem Schreibtisch liegen. Möchtest Du sie nicht vorbei bringen? Ich würde mich freuen, Dich endlich einmal persönlich kennen zu lernen. Viele Grüße, Hans.“ Vorsichtig entfernt sie die Büroklammer, und legt sie in das dafür vorgesehene Fach der Schreibtischschublade. Die gerade Seite parallel zur Tischkante, die Windung nach rechts. Richtig. So wie er es tut.
Sie holt sich aus der Küche ein Glas Wein, nimmt einen Schluck und stellt es exakt in der Mitte des Untersetzers ab. Dann schlägt sie mit Vorfreude das Manuskript auf und taucht ab in die Welt von Elfen, Drachen und kindlicher Phantasie. Sie kann es kaum erwarten und beginnt sofort mit den ersten Entwürfen. Wie üblich fügt sie sich selbst in die Bilder ein. Mal ist ihr Gesicht schemenhaft in der Rinde eines Baumes zu erkennen, dann wieder schwebt sie als Blütenblatt im Hintergrund oder ziert als Skulptur den Garten eines Schlosses. Sie zeichnet auch ihn. So wie nur sie ihn sehen kann. Stets leiht er seine Züge dem Helden der Geschichte. Liebevolle Augen, ein sanftes Lächeln.
Das Klingeln des Weckers erinnert sie. Mit geübten Bewegungen ordnet sie ihre Zeichenutensilien, stapelt die herumliegenden Seiten exakt übereinander, wischt dann mit einem Lappen die Farbreste von ihren Fingern.
Sie geht ins Schlafzimmer, zieht an, was er hingelegt hat. Gerade ist sie dabei, die weißen Strümpfe hoch zu ziehen, als sich auch schon der Schlüssel im Schloss der Haustür dreht. Schnell richtet sie die Schleife an ihrem Hals, öffnet die Schlafzimmertür und hüpft dann, eine Strähne ihres langen Haares zwischen den Fingern zwirbelnd, auf ihn zu.
Als sie den Raum betritt, zerschellt etwas neben ihr an der Wand. Lautes Klirren, Glas splittert.
Ihr Weinglas! Wie hatte sie das nur vergessen können! Ärgerlich auf sich selbst senkt sie den Blick und bückt sich, um die Scherben aufzusammeln. Der erste Tritt trifft sie am Hals, doch noch bevor ihr Kopf auf dem Boden aufschlägt, hat sie bereits die Arme vor das Gesicht gezogen. Sie ist so stolz auf ihre Reflexe.
Am nächsten Morgen betrachtet sie sich im Spiegel. Eine lästige Schnittwunde über der Augenbraue. Wie hatte sie so ungeschickt sein können, doch noch in die Scherben zu fallen. Ja, er hat Recht, sie muss noch viel lernen, darf nicht mehr so viele Fehler machen. Aber - sie macht schon lange nicht mehr so viele wie früher. Bald wird sie perfekt sein. Und dann, dann wird er endlich sein wirkliches Gesicht zeigen. Das, das heute nur sie sehen kann.
Zuletzt geändert von Nicole am 13.12.2007, 17:50, insgesamt 4-mal geändert.

Charly

Beitragvon Charly » 08.12.2007, 18:14

Hallo Nicole!

Der Text liest sich gut. Handwerklich finde ich nix zu mekern.
Obwohl ich, ehrlich gesagt, etwas verunsichert bin ob und was für welche Rückmeldungen am Kamin wünschenswert sind.
Muss mir unbedingt noch die anderen Texte und Rückmeldungen dazu ansehen.
Zum Inhalt, verzeih mir, möchte ich nix sagen.

Max

Beitragvon Max » 08.12.2007, 21:13

Liebe Nicole,

mich lässt der Text etwas ziegespalten zurück.

Auf der einen Seite gebe ich Charly recht, dass er handwerklich gut gemacht ist. Gelgentlich würde ich anders formulieren, etwa bei

Noch ein paar Tage, dann kann sie wieder die kurzärmeligen Blusen tragen, wie er sie so liebt.


(das finde ich umständlich, was spricht gegen, "die er so liebt").

Auf der inhaltlichen Seite vermag mich der Text weniger zu überzeugen. Trotz der Spannung, die Du technisch zu erzeugen vermagst, habe ich von Zeile 1 an den Eindruck,ich weiß, was erzählt wird und frage mich dazu nach der Pointe, warum wird das erzählt. Ich würde aber sehr gespannt sein, vermutlich sehen das andere User ganz anders.

Liebe Grüße
Max

Benutzeravatar
Elsa
Beiträge: 5286
Registriert: 25.02.2007
Geschlecht:

Beitragvon Elsa » 08.12.2007, 21:54

Liebe Nicole,

Eine schwierige Geschichte. Du erzählst von einer Obsession, einer Abhängigheit, wie sie auch heute noch immer wieder vorkommt. Manchmal geht es ja soweit, dass Kinder dabei umkommen, weil die "Liebe" stärker ist als die Vernunft und Verantwortung.
Diese Frau in deiner Geschichte gehört also auch zu diesen besessenen Frauen, die meinen, sie sind es, die das Gute in "ihm" erwecken können, wenn sie nur lange genug aushalten, sie sieht es sogar, wie der letzte Satz zeigt. In Wahrheit ist sie natürlich saudumm oder masochistisch.
Es scheint ihr ja auch recht gut zu gehen, sie hat keine Not zu leiden, im Gegenteil, sie ist nahezu begeistert. Daher habe ich kein Mitleid mit ihr. Das zum Inhalt.

Schreibtechnisch habe ich nichts auszusetzen.

Lieben Gruß
Elsa
Schreiben ist atmen

Nicole

Beitragvon Nicole » 09.12.2007, 14:52

Lieber Charly

vielen Dank für Dein "handwerklich gut gemacht." Ich findes es zwar schade, daß Du dich zum Inhalt nicht äußern möchtest (hey, ich bin immer neugierig!) aber ich akzeptiere das selbstverständlich mit einem freundlichen Lächeln in Deine Richtung.

Lieber Max,

Dein Änderungsvorschlag gefällt mir, ich übernehme den gleich. Danke!
Warum ich das erzähle? Nun, es ist eine Momentaufnahme. Es gibt keine "Auflösung", die ich erzählerisch dranhängen könnte bzw möchte. (Es sei denn, der Salon bietet irgendwann eine Kategorie "Roman" an....)

Liebe Elsa,

ja, es ist eine Obsession. Und ja, sie leidet, zumindest wirtschaftlich, keine Not.
Ist sie saudumm? Ich weiß nicht. So war Alice zumindest nicht "geplant". Sie ist begabt, lebt in einer eigenen "geschönten" Welt. Und sie liebt, aus welchem Grund auch immer, diesen Mann. Und sie glaubt zum einen an ein Wunder (er wird sich ändern) zum andern tatsächlich daran, das es in ihrer Macht liegt, dieses Wunder herbei zu zwingen, wenn sie sich nur genug bemüht.
Masochistisch? Ich denke, nein. Sonst würde sie sich nicht bemühen, sein wahres Gesicht sichtbar zu machen.
Mitleid? Es würde nichts helfen, aber, wäre sie wirklich, mein Mitleid hätte sie. Nicht, weil sie nichts ändert (aus vorgeschobenen Gründen "Geld/Kinder/Haus/...) sondern, weil sie an ihr Leben und ihr selbstgestecktes Ziel wirklich glaubt.....

Ich danke Euch fürs Lesen und Eure Kommentare!

Nicole

Benutzeravatar
Elsa
Beiträge: 5286
Registriert: 25.02.2007
Geschlecht:

Beitragvon Elsa » 10.12.2007, 22:46

Liebe Nicole,

Ist sie saudumm? Ich weiß nicht. So war Alice zumindest nicht "geplant".
Also ich finde Frauen, die sich derart ausliefern schon dumm.
Du schreibst: Und sie liebt, aus welchem Grund auch immer, diesen Mann. Das ist für mich nicht nachzuvollziehen. Wie kann sie einen lieben, der sie grün und blau haut, vor dem sie zittert, wegen dem sie den Schreibtisch akkurat ordnet, damit es keine Prügel gibt? Und dennoch gibt es sie. Dass ich Masochismus erwähne, liegt an deinem Text, sie lässt sich gern verprügeln. Eine erwachsene Frau, die einer derartigen Illusion nachängt, dass er sich *schnipp* ändern wird, wird wohl eine Macke haben, eine gehörige.

Mitleid? Es würde nichts helfen, aber, wäre sie wirklich, mein Mitleid hätte sie. Nicht, weil sie nichts ändert (aus vorgeschobenen Gründen "Geld/Kinder/Haus/...) sondern, weil sie an ihr Leben und ihr selbstgestecktes Ziel wirklich glaubt.....
Ich würde ihr einen Besuch bei Therapeuten empfehlen. Und ich würde bei dem Gespräch mit ihr meine Hände fesseln, um ihr nicht eine zu knallen, damit sie zur Besinnung kommt, ehe sie umgebracht wird. ;-)

Lieben Gruß
ELsa
Schreiben ist atmen

Nicole

Beitragvon Nicole » 11.12.2007, 20:47

Hi Elsa,
ja, wenn ich eine Alice in dieser Ausprägung zu meinen Freunden zählen würde, würde ich vermutlich den "Tritt in den Allerwertesten" zum Aufwecken sogar jedem Therapeuten vorziehen..:-)

Wenn ich allerdings Alice Ausprägung ein bißchen runter fahre, die Grausamkeit, die sie erfährt, ein wenig reduziere, finde ich Eigenschaften, von denen sich nicht viele Menschen wirklich frei sprechen können. Wieviel Rücksichtnahme oder Anpassung braucht es, um zur "Unterordnung" zu mutieren? Wo hört Ignoranz auf und wo beginnt Grausamkeit? Wann wird aus Liebe Abhängigkeit...endet Liebe, wo Manipulation beginnt und wann genau manipuliert der eine Partner den anderen?

Viele liebe Grüße,

Nicole

Benutzeravatar
Elsa
Beiträge: 5286
Registriert: 25.02.2007
Geschlecht:

Beitragvon Elsa » 11.12.2007, 22:44

Liebe Nicole,

Ich kann deine Gedanken nachvollziehen. Aber genaugenommen muss man als gesunder Mensch merken, wenn einem der freie Wille entzogen wird, man getrieben ist.

Daher bleibe ich dabei, dass Alice schwerst abhängig ist. Dann kann man das nämlich nicht mehr sehen.

Lieben Gruß
ELsa
Schreiben ist atmen

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 11.12.2007, 22:48

Liebe Nicole, liebe Elsa,

was mich bei dieser Geschichte am meisten gruselig berührt hat, ist die Stelle mit der Schleife am Hals. Die weißen Strümpfe ließen mich schon aufhorchen, bei der Schleife fühlte ich mich vollends beim Playboy-Bunny angekommen. Wie um Himmelswillen muss die Arme sich denn für ihren Macker kleiden?

In vieler Hinsicht ist die Geschichte vorhersehbar; der Grundtenor ist nach dem ersten Absatz klar. Aber diese Andeutungen machen ihn für mich interessant.

Liebe Grüße
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Benutzeravatar
Pjotr
Beiträge: 6788
Registriert: 21.05.2006

Beitragvon Pjotr » 11.12.2007, 23:18

Hallo Nicole,

ziemlich geheimnisvoll und metapherreich erscheint mir Dein Text. Oberflächlich habe ich ihn verstanden, glaube ich, aber die Details noch nicht, und die hast Du bestimmt nicht zufällig eingearbeitet.

Handwerklich könnte vielleicht noch etwas gefeilt werden:

(... verhungerten Kindern ...)

Nicole hat geschrieben:Sie geht ins Schlafzimmer, zieht an, was er hingelegt hat. Gerade ist sie dabei, die weißen Strümpfe hoch zu ziehen, als sich auch schon der Schlüssel im Schloss dreht. Schnell richtet sie die Schleife an ihrem Hals, öffnet die Schlafzimmertür und hüpft dann, eine Strähne ihres langen Haares zwischen den Fingern zwirbelnd, auf ihn zu.
Als sie den Raum betritt, zerschellt etwas neben ihr an der Wand.

Hier finde ich die Choreographie ein bisschen ungenau. Wenn der Schlüssel sich im Schloss dreht, heißt das, dass das Schloss auf oder zugeht? Sie ging ja ins Schlafzimmer ohne die Tür zu schließen. Oder hat sie doch? Oder ist es eine andere Tür? In welchem Raum war sie vorher, und in welchen geht sie hinaus? Natürlich kann ich mir das irgendwie ausdenken, wann wer wo kommt oder geht. Aber mein Ausdenken hemmt auch meinen Lesefluss. Gerade an dieser Stelle, wo das Timing ganz wichtig ist.

Das ist momentan das einzige, was mir verbesserungswürdig vorkommt. Ist nicht viel.


Cheers

Pjotr

Klara
Beiträge: 4530
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 12.12.2007, 07:54

Hallo Nicole,

dein Text macht mich fertig. Wütend. Vor allem auf Alice (leider).
Ist stark!
Ich würde vermutlich noch mehr straffen, noch etwas mehr dem Leser überlassen, aber das ist Geschmackssache.
Den Titel finde ich arg durchsichtig (Alice im Wunderland?) und auch nicht schlüssig. Aber auch das ist Geschmackssache.

"Geheimnisvoll" erscheint er mir nicht. Eher klar wie blutige Kloßbrühe, gewürzt mit Selbstverstümmelung, weiblichen Komplexen und der unendlichen Fähigkeit der versehrten Liebe zu Hoffnung und Selbsttäuschung.

Auch der Unterarm heilt hervorragend.

"hervorragend" ist ein umgangssprachlicher - unpräziser - Euphemismus. Ich würde das Adjektiv weglassen oder durch ein schlichtes "gut" ersetzen.

Und es müsste glaub ich abonniert heißen - mit einem b und zwei n.

Lieber Gruß
Klara

Nicole

Beitragvon Nicole » 12.12.2007, 09:33

Guten Morgen!

vielen Dank für das Finden weiterer Tipp und Schreibfehler. Ich könnte mir vor Zorn, das ich immer noch was übersehe, in den Hinter beißen...(wenn ich noch so gelenkig wäre...)

Hi Pjotr,

Naja, sie geht vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer um sich umzuziehen und hört, wie sich der Schlüssel in der Haustür dreht und er nach Hause kommt. Ich habs ein bißchen umgeschrieben und hoffe, es ist nun klarer.

Hi Zefira,

sorry, aber es freut mich diebisch, wenn es genau da gruselt... :-) Er wählt ein Outfit für sie aus, eben das, was sie für ihn an dem Abend darstellen soll.... In meinem Kopf war es so etwas ähnliches, wie eine Schulmädchenuniform, Weiße Strümpfe, Faltenrock, Bluse und Schleifchen...

LG; Nicole

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 12.12.2007, 21:23

Hallo Nicole,

an die Schuluniform habe ich auch gedacht wegen der hochgezogenen Strümpfe. Ich denke, die Darstellung der Kleidung passt schon. Überhaupt wirkt die Beschreibung der Figur Alice stimmig auf mich. Sie lebt in einer heilen Fantasiewelt, die ihr suggeriert, sie könne alles erreichen, wenn sie es nur stark genug versucht. Und sie versucht, diesen Mann zu ändern. Klar, es funktioniert nicht, er bleibt der Schläger. Da sie es immer weiter versucht, denke ich laienhaft an Helfersyndrom. Gut ist übrigens auch, dass keine Erklärungsversuche geliefert werden, wie Alice zu der Frau wurde, die sie ist (keine Verweise auf Erziehung, Ohnmachtsgefühle etc.). Seltsam, dass in den Kommentaren Wut nur auf die zugegebener Maßen unerträglich gefügige Alice formuliert wird, aber nicht auf den prügelnden Mann.

Ein interessanter, gut geschriebener Text

Jürgen

Nicole

Beitragvon Nicole » 12.12.2007, 21:43

Hallo Jürgen,

dankeschön! :lachen0042:

Lieben Gruß, Nicole


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 9 Gäste