Alte beim Heurigen

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Schwarzbeere
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Beitragvon Schwarzbeere » 24.09.2007, 18:00

Alte beim Heurigen


Wie einst im Mai!
So schön konnte es sein,
als wir noch glaubten,
dass die Welt auf uns wartete,
direkt vor der Türe,
und sie trug ein buntes Kleid
aus Hoffnung und Versprechen,
aus den noch nicht verlorenen Träumen
und dem Frohsinn übermütig zusammengebastelt.

Wir waren so jung, wie es das heute nicht mehr gibt,
weil man keine Zeit mehr lässt
den Träumern, die nicht sofort
alles haben wollen,
alles an sich reißen,
alles aufbrauchen, was an Schönen und Tiefen *)
die Welt, die Liebe, das Leben
uns langsam nur zu bieten
bereit ist.

Dann sitzen wir heute
draußen, irgendwo in einem Garten
vor dem einen Glas, das uns noch gestattet,
und wenn der Musiker kommt,
die Geige und auch die Harmonika,
erinnern wir uns, wie wir sie einst belächelten,
die Alten, und wissen, das sind wir jetzt,
und wir lassen die alten banalen Lieder
durch uns sinken und wir summen mit….


*) Neufassung dank Leonie: was an Schönem und Tiefem

Hörfassung
Zuletzt geändert von Schwarzbeere am 02.10.2007, 17:17, insgesamt 1-mal geändert.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 24.09.2007, 21:55

Zdrastvujte, Schwarzbeere,

mir gefällt diese genüssliche Langsamkeit sehr. Den undokumentierten Schluss finde ich zudem originell und überraschend. Ich musste lächeln.


Salute

Pjotr (der zum Verzehr einer Pizza eine Stunde benötigt)



Edit: Ich bezog mich hier ausschließlich auf die Hörfassung.
Zuletzt geändert von Pjotr am 24.09.2007, 22:30, insgesamt 1-mal geändert.

scarlett

Beitragvon scarlett » 24.09.2007, 21:59

Erinnert mich ein wenig (vor allem der Schluß) an Jacques Brels "les bourgeois".

Gern gelesen.

scarlett

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leonie
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Beitragvon leonie » 27.09.2007, 22:28

Liebe Schwarzbeere,

ich habe das auch gern gelesen, die nach außen kleine (und nach innen große?) Wehmut darin.
Nur eine kleine Anmerkung: Ich denken , es muss

"was an Schönem und Tiefem"...

heißen.

Herzliche Grüße

leonie

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 27.09.2007, 23:25

Lieber Schwarzbeere,

Ein ganz (im wahren Sinne!) schöner Text, der mir als Wienerin total authentisch rüberkommt.
Sanft melodisch in seiner Art und philosophisch, wie es halt so ist. Am Abend beim Heurigen.

"Es wird a Wein sein und wir wer'n nimma sein" ....

In diesem Sinne, gern gelesen,
ELsa
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Schwarzbeere
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Beitragvon Schwarzbeere » 02.10.2007, 17:47

Glaub mir, Elsa,

dass der Heurige für mich immer eine selige Erinnerung bleiben wird, auch wenn ich in den letzten dreißig Jahren weniger als ein dutzendmal in Grinzing etc war. Dabei bin ich auch heute noch kein "stiller Zecher", wenn ich auch etwas weniger brülle als Leopoldi, aber das Schmalzige brauche ich eben als Glückselixir, jetzt, wo ich das Glück und die Ekstase nicht mehr durch Promille suchen kann, die "vier Rittergüter" schon lange der Vergangenheit angehören und ich schon etwas Schwierigkeiten bekomme, drunten beim Penzinger Kircherl das "Zwölfe schlagen" zu hören. Dafür stört es mich aber nur wenig, wenn die einzigen anderen 38er Gäste nur Japaner oder bestenfalls Teutonen sind.

Denn ich trag' im Herzen drin, ... ein Vierteljahrhundert Wien!

Liebe Grüße. Schwarzbeere

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 02.10.2007, 18:01

Ach, du liebst es immer noch, Paris hat es dir nicht ausgetrieben!

Das find ich schön, Schwarzbeere.

Servus,
ELsa
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Schwarzbeere
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Beitragvon Schwarzbeere » 03.10.2007, 10:29

Liebe Scarlett,

ich habe Brel, vor allem den jungen und noch gesunden, bewundert, und wenn ich dich an seine Bürger erinnerte, freut es mich. Dein Hinweis war mir ein Grund, nach Jahren wieder einmal einige seiner herrlichen Chansons anzuhören, und ich stellte mit Verwunderung fest, dass ich keinerlei Erinnerung an „Les Bourgeois“ hatte, die mich jedoch jetzt beim Wiederhören einfach faszinierten.

Wenn ich, und das ist Anmaßung oder fast Frechheit, mein Textchen gegen dieses Brel Werk halte, dann scheint mir die Aggressivität und der Zynismus, mit denen Brel Junge und Alte karikiert, in meinen Zeilen durch eine etwas bittere Lethargie ersetzt, was zwar eine versöhnlichere Note in die Atmosphäre einbringt, doch meine Zeilen vor dem grandiosen Chanson völlig verblassen lassen.

Wären mir Les Bourgeois gegenwärtig gewesen, ich hätte es nie gewagt, etwas Ähnliches auch nur zu versuchen.

scarlett

Beitragvon scarlett » 04.10.2007, 10:47

Hallo Schwarzbeere,

nun denn, ich finde, es gibt immer einen Anlaß, Brel zu hören und sei es, daß der Anlaß Brel selber ist.

Freut mich, daß du dieses Chanson gefunden hast.

Es ging mir auch nicht um einen direkten Vergleich und doch: dein Text, den ich immer noch, immer wieder gern gelesen habe, hat mich direkt zu diesem Lied gebracht. Ja, es fehlt deinem Text die Aggressivität und auch der Zynismus, die viele Brel-Texte auszeichnen (und das ist auch gut so), aber dieses "Zurückschauen" und Feststellen, daß man selber irgendwann zu denen gehört, die man früher belächelt hat, das hat etwas Anrührendes, Liebevolles.

Grüße,
scarlett


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