Und wenn die Nacht schreit

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
moshe.c

Beitragvon moshe.c » 13.07.2007, 20:21

Und wenn die Nacht schreit....
.....Nein!

Die Nacht schreit nicht.
Ich schreie in der Nacht,
das Blut,
die Nebel,
die Adern.

Das Blut aus den Schüssen,
die Nebel aus den Gaskammern,
die Adern,
in die Gift gespritzt wurde,
sind unser.

Nein, die Nacht schreit nicht.
Ich schreie in der Nacht
um meinen Bruder,
um meine Cousine,
meinen Vater
und seine Gerechtigkeit,
um deinen Vater
und seine Gerechtigkeit.

Heute treffen wir uns
an Denkmälern,
immer wieder,
die umgeworfen werden,
manchmal bei Sonnenaufgang
zum Kuss.
Zuletzt geändert von moshe.c am 01.08.2007, 21:04, insgesamt 1-mal geändert.

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 14.07.2007, 16:04

sei mir nicht böse, moshe, aber das klingt nicht authentisch weil zu affektiert ohne echten hintergrund.

gruß
chiqu.

ps: der titel ist gar nicht mal schlecht.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 14.07.2007, 20:28

Hey chiqu!

Sei mir nicht böse, aber dir fehlen alle Momente, um diene Aussage zu legitimieren.

Moshe

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 15.07.2007, 12:02

ich finde dein gedicht hülsenhaft, moshe, ohne richtigen biss. die zeilen klingen zum teil nach allerwelts-grabsteininschrift.

chiqu.

Caty

Beitragvon Caty » 15.07.2007, 17:04

Nein, Moshe, Chiquita "überliest" da etwas, vielleicht ist er "überfüttert", vielleicht hat er zuwenig Phantasie, um sich vorzustellen, was es heißt, auf diese Weise die Familie zu verlieren. Aus meiner Sicht ist es ein sehr gutes Gedicht mit dem Bezug auf das Heute. Natürlich kann man dieses Gedicht auch anders schreiben, aber du hast es so geschrieben, sehr verhalten, es ist gut so. Ich würde aber beginnen mit "Die Nacht schreit nicht."
Warum sollst du nicht aussprechen, wie sie gestorben sind und wie heute, neben allen offiziellen Bekundungen, damit umgegangen wird? Der Schoß ist eben noch (oder schon wieder) fruchtbar.

Herzlich Caty

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 16.07.2007, 12:38

was überlese ich, caty? der inhalt des gedichts ist mir klar. eines der unzähligen ähnlich geschriebenen an- und beklage gedichte zum holocaust. kann sein, daß man davon irgendwann "überfüttert" ist. ich wünschte mir eben mal eine andere herangehensweise an dieses thema, deswegen meine zugegeben etwas herbe kritik an moshes gedicht.
es ist wahr, ich kann nicht wissen, was es bedeutet, auf diese weise meine familie zu verlieren.
das muß ich auch nicht, um ein gedicht einzuschätzen.

gruß
chiqu.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 17.07.2007, 19:09

Liebe Caty!

Wenn ich den Anfang so ändern würde, wie du meinst, dann hätte ich wohl das Trauma nicht mehr, oder?

Ansonsten denke ich, daß Chiquita nichts überliest oder überfüttert ist, aber weiter unter einer Art 'Kälte' leidet, die unter Anderem die Ursache für das Dilemma war, ggf. weiter ist.
Vielleicht erkennt er ja eines Tages den eigenen Verlust.

Scarlett hat gerade einen guten Text dazu hier eingestellt.

Mit bestem Gruß

Moshe

scarlett

Beitragvon scarlett » 17.07.2007, 19:31

Hallo moshe,

ich bin schon oft um dieses Gedicht geschlichen, habe es immer wieder gelesen und vielleicht war es auch die Keimzelle (ideenmäßig, natürlich) für meinen neuen Text.

Geschrieben habe ich dazu bisher nicht, weil ich einerseits sehr berührt war, andrerseits doch zwei Kleinigkeiten anzumerken hätte, letztendlich aber nicht am Text rütteln wollte, weil er gut ist.

Die letzte Strophe ragt meines Erachtens über die anderen hinaus. Sie ist es, die diesen Bogen spannt, ohne den das Gedicht tatsächlich ein Schrei bliebe. Selbstverständlich heißt das nciht, daß die anderen Strophen "überflüssig" wären, keinesfalls, aber diese letzte Strophe macht dein Gedicht für mich besonders.
Den "Sonnenaufgang" liebe ich am meisten, er verheißt für mich doch noch ein Hoffen.

Die eine Kleinigkeit, die ich ansprechen wollte, ist die Stelle mit dem Blut aus den Schüssen. Aus dem Schuß dringt ja kein Blut, es ist die Wunde, das Getroffensein (auch im übertragenen Sinne) aus der Blut fließt, oder?
Du könntest es anders zu fassen versuchen, falls du einen Vorschlag möchtest, ich hätte da vielleicht einen ;-)

Die zweite Kleinigkeit betrifft den Anfang: ich würde das "Nein" keinesfalls streichen, aber den Titel miteinbeziehen, also nicht absetzen. Dann liest sich das "nein" schon wie eine `Antwort` auf die erste Zeile, verstehst du, was ich meine?
Versuch mal, das Gedicht titellos zu lassen und den jetzigen Titel als erste Verszeile - evtl in einer anderen Schriftart -
Was meinst du?

Was vielleicht als "Mäkelei" aussieht, soll dich nicht darüber hinwegtäuschen, daß ich nachempfinden und mitgehen kann mit deinen Zeilen.

Grüße,

s.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 17.07.2007, 20:03

Liebe Scarlett!

'Mäkelei' empfinde ich hier garnicht!

Zu deinen zwei Kleinigkeiten:

1. Dein Einwand ist so gesehen sehr berechtigt.
Vermutlich werde ich da noch etwas ändern müßen, um mich klarer auszudrücken.
Noch weiß ich nicht wie, aber ich bin hier schon nicht mehr in den Tätern, nicht in den Opfern.
Damit meine ich folgendes:

Das Blut aus den Schüssen,
die Nebel aus den Gaskammern,
die Adern,
in die Gift gespritzt wurde,
haben wir alle
in uns.


(Das ist aber noch nicht so ganz fertig.)

Danke dir sehr für deinen Hinweis!

2. Der Titel ist je eigentlich kein Titel, sondern nur die erste Zeile, und somit ist der 'Titel' ja schon einbezogen.
Ob ich noch einen richtigen Titel finde, weiß ich noch nicht.

So long

Moshe

Caty

Beitragvon Caty » 01.08.2007, 19:27

Chiquita, Celan hat es geschafft, anders als andere an dieses Thema heranzugehen. Aber Moshe ist doch nicht Celan. Lies mal Nelly Sachs, vielleicht findest du bei ihr, was du suchst. Sie behandelt das Thema auf andere Weise, sehr verschlüsselt. Moshes Gedicht ist aus Schmerz und Leid geschrieben, das fühle ich in jeder Zeile. Aber sicher hast du recht: Man könnte es ganz, ganz anders schreiben - wenn man es könnte, unter dieser oder jener Voraussetzung.

Herzlich Caty

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 01.08.2007, 21:03

Liebe Caty!

Danke, daß du mich auf den Test wieder aufmerksam machst.
Chiqita wird kein Gedicht schreiben können, das seinem selbstgesetzten Anspruch auch nur irgendwie näherundsweise gerecht werden könnte.
Er ist auch nicht in der Lage eine gefühlsmässige Aussage darüber zustande zu bringen, welche ernormen Verluste es in meiner und anderen Ethnien zu dieser Zeit gegeben hat, einschließlich der eigenen.

Das scheint sich allmählich zu ändern, was ich sehr begrüße.

Liebe Scarlett!

Hier ist noch was offen. Ich versuche dir mal gerecht zu werden, indem ich die erste Leerzeile wegnehme und an die Zeile 'in die Gift gespritzt wurde' noch einen kleinen Anhang einfüge.

Mit bestem Gruß

Moshe

scarlett

Beitragvon scarlett » 01.08.2007, 21:17

Ja, moshe, durch die Zeile "sind unser" weitest du das Gedicht enorm. Es bringt eine Dimension in die Gegenwart.

Ja, das ist es ...

Grüße,

scarlett

Sam

Beitragvon Sam » 02.08.2007, 07:56

Hallo moshe,

ich finde deine Aussagen chiquita gegenüber sehr bedenklich. Wenn ich folgendes lese:
dir fehlen alle Momente, um diene Aussage zu legitimieren.

Ansonsten denke ich, daß Chiquita nichts überliest oder überfüttert ist, aber weiter unter einer Art 'Kälte' leidet, die unter Anderem die Ursache für das Dilemma war, ggf. weiter ist.

Er ist auch nicht in der Lage eine gefühlsmässige Aussage darüber zustande zu bringen, welche ernormen Verluste es in meiner und anderen Ethnien zu dieser Zeit gegeben hat, einschließlich der eigenen.

klingt das für mich so:
1. Demjenigen, der das Gedicht nicht gut findet, fehlt die Legimität, weil er nicht den gleichen Erfahrungshintergrund hat wie du. Bei denjenigen, die es loben ist der Erfahrungshintergrund natürlich völlig egal.
2. Wer dieses Gedicht ablehnt leidet unter jener Kälte, die am Ende dazu führte, was dieses Gedicht thematisieren will - den Holocoust.
3. Wer dieses Gedicht ablehnt, ist nicht in der Lage sich gefühlsmäßig in eine ihn nicht betreffende Situation hineinzuversetzen.

Dann trifft das auf mich auch zu. Ich finde das Gedicht nicht gelungen. Denn es ignoriert einen von chiquita erwähnten Umstand. Dass es nämlich solche Art von Gedichte schon zu hunderten gibt, sei es von Betroffenen oder nicht Betroffenen. Da findet automatisch ein Abgleich statt. Und es ist durchaus legitim, wenn der Leser überlegt, ob ihm durch ein weiteres Gedicht zu dem Thema nun eine neue Sichweise eröffnet wird, oder ob es für ihn nur ein weiterer Versuch ist, Dinge in Worte zu kleiden, die beinahe unmöglich in Worte zu fassen sind. Solche Versuche sind natürlich legitim. Aber genauso legitim ist es, diese Versuche als gescheitert anzusehen.

Es schreit also die Nacht, so sagt mir der Titel. Im Gedicht wird mir aber erklärt, dass es nicht die Nacht ist, die schreit. Zwei Mal sogar. Sowieso ist der Einstieg: Und wenn die Nacht schreit, mir zu pathetisch. Da wird eine große Fahne geschwenkt, damit auch jeder merkt, jetzt kommt etwas ganz, ganz Gewichtiges. Mich schreckt ein solcher Pathos erstmal ab.

Dann heißt es in der zweiten Strophe:
Das Blut aus den Schüssen,
die Nebel aus den Gaskammern,
die Adern,
in die Gift gespritzt wurde,
sind unser.

Das Blut und auch die Adern mögen im Übertragenen ja unser sein. Der Nebel aber bestimmt nicht. Aus dem Zusammenhang meint man zu erkennen, dass es sich bei dem nebel eben um jenenes Gas handelt, dass die Menschen in Gaskammern ersticken ließ. Hier entsteht also ein schiefes Bild.

Dann heißt es in der dritten Strophe:
meinen Vater
und seine Gerechtigkeit,
um deinen Vater
und seine Gerechtigkeit.

Ich frage mich zunächst, wer ist die Person, die dort auf einmal angesprochen wird. Die letzte Strophe lässt mich vermuten, es werden die Täter, bzw. deren Nachkommen mit angesprochen. Wenn ich davon ausgehe, stört mich das Wort Gerechtigkeit. Gut, bei den Tätern die Frage nach der Gerechtigkeit aufzuwerfen, ist mehr als gerechtfertigt - obwohl es keine Frage ist. Aber bei den Opfern? Ihnen aus ihrere Opferrolle heraus automatisch Gerechtigkeit attestieren zu wollen, gefällt mir nicht, bzw. ist mir zu oberflächlich.

Die letzte Strophe ist für mich die interessanteste. Die umgeworfenen Denkmäler bei denen man sich zum Kuss trifft. Beides kann postitiv wie negativ sein. Ein umgeworfenens Denkmal kann in Richtung Neuanfang zeigen, aber auch dahin, dass man aufhört dem zu gedenken, was gedenkswert bleiben sollte. Und auch der Kuss hat spätestens seit dem Judas auch in rein literarischem Sinne zwei Bedeutungen.
Diese Möglichkeit der Doppeldeutung gefällt mir. Allerdings sehe ich letzte Strophe sprachlich und inhaltlich ein wenig losgelöst von den vorherigen. Es geht vom Privaten plötzlich ins Allgemeine
Wobei mir das Heute am Anfang etwas zu unklar ist.

Ein schweres Thema für ein Gedicht. Da haben die paar Zeilen ganz schön zu tragen. Und meines Erachtens knicken ihnen dabei die Beine ein wenig zu oft ein, um mich als Leser wirklich zu überzeugen.

LG

Sam


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Bing [Bot] und 18 Gäste