Bewußt

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Chiquita

Beitragvon Chiquita » 17.06.2007, 14:39

Bewußt



Sieh den Schatten von mir
und daß ich hier stehe
ganz fest
und daß mir der Tag
die Tränen abwischt
und mich der Wind
ganz zart umwehe



...

Scal

Beitragvon Scal » 23.06.2007, 09:46

Hallo Chiquita, mir gefällt das atmosphärisch-poetische Bild.
Die Konjunktivform am Ende ist klangschön, aber nicht stimmig.

Du hast ja schon einige mögliche andere Varianten angeführt. Was mir noch in den Sinn kam:

Sieh meinen Schatten
und dass ich hier stehe
ganz fest

(und) wie mir der Tag
die Tränen (ab)wischt ..... (gewischt, getrocknet)
im Wind
der mich
umweht

Sollte es "umwehe" heißen, bedürfte es einer vorhergehenden Formulierung, die auf eine Erwartung, ein Hoffen hindeutet.

Lieben Gruß
Scal

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 23.06.2007, 10:02

hallo scal, dieser vorbereitung bedarf es, meiner meinung nach, nicht.
stelle dir einfach das lyr-ich bildhaft vor. ein zerbrechlicher mensch, der sich unsicher ist, der angst vor dem erwachsen-werden hat, der seine identität sucht ... das ganze klingt geradezu voller erwartung, wunschhaltung und hoffen.

danke für deine anregungen. wie ich schon sagte, kann man einiges variieren, fragt sich nur, ob das gedicht noch klingt, wie ich es seit jahren im ohr habe und liebe.

gruß
chiqu.

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 24.06.2007, 16:04

Lieber Ralph,

für mich ist dieser Text klar deine Verteidigung der Ursprungsfassung wert - umso öfter ich ihn lese, umso runder und weicher empfinde ich ihn.

Mit Titel und Singular "Schatten" am Anfang bin ich eher unzufrieden, den Konjunktiv am Ende finde ich dagegen gerade das "Geniale", Feine an dem Text, weil er das vorherrschende Gefühl, das so leicht wirkt (trotz allem natürlich), weil es Möglichkeiten impliziert, in Tatsächlichkeit wandelt und trotzdem - durch den ~grammatischen~ ja umgedrehten Modus (eigentliczh ist der Komnjunktiv ja schwächer als das Realitätsentsprechende Präsens, hier aber nicht = toll) - offen bleibt, sich zurücknimmt und nicht zu einer trotzigen oder zu gewollten Behauptung macht, die eben das Ganze wieder auflöst.

In diesem Sinne entspricht der Text auch toll seiner Gattung "Kurztext", eine Umsetzung, die ich selten in Foren durchgeführt sehe und obwohl der text ja sehr ausfließt er doch ein echtes Ende hat, was nochmal schafft, eine Empfindung zu erzeugen.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 24.06.2007, 16:32

danke lisa, du bist die erste, die neben mir den konjunktiv "umwehe" verteidigt - klingt gut, was du dazu sagst. ich habe ja auch schon einiges dazu gesagt.

warum bist du mit dem titel unzufrieden? hast du einen anderen im kopf? und was meinst du mit "singular schatten" - der ist natürlich in der einzahl, weil es sich um nur eine person handelt.

gruß
chiqu.

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 24.06.2007, 16:53

Lieber Ralph,

ich finde den Titel zu (pseudo)philosophisch, ich würde mir einen ruhigeren, den Bildern unmittelbar näheren wünschen. Ich würde als Titel wohl ein Wort nehmen/eine Zeikle nehmen, die im Text schon vorkommt.

Ich finde man könnte im Zusammenhang dieses Textes von Schatten sprechen:

Sieh die Schatten von mir
und daß ich hier stehe

Für mich bricht das Schattenbild weiter auf, macht es leichter für die "metaphorische" Ebene und bleibt doch realer Schatten. Aber das kann auch eine persönliche Vorliebe sein. EIn Schatten ist eben ein anderer (melancholischerer/selbstkritischerer) Fokus.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 24.06.2007, 17:11

hi lisa - die schatten würden aber auch beliebigkeit bedeuten. die will ich nicht erzeugen. es geht um den schatten - und daß ich hier stehe, ganz fest - es geht ja gerade um die eindeutigkeit des bewußtseins - bzw. um den wunsch sich endlich eindeutig in dieser welt sehen zu können.
wenn ich da von mehreren schatten reden würde, bekäme das gedicht einen anderen sinn.

der titel klingt im ersten moment "pseudophilosophisch". ich habe leider keinen besseren parat.
und es geht doch auch um das "bewußt", oder? (unter der sonne zeichnet sich die individualität - das ist mein schatten. MEIN und nur mein schatten und nicht der schatten eines anderen, unverwechselbar wie ein fingerabdruck.)

lieben gruß
chiqu.

aram
Beiträge: 4509
Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 24.06.2007, 17:31

hallo chiquita,

ich mag die inhaltliche dichte und die leichte melodieführung dieses textes.

ein darauf besinnen, da zu sein, eine verbindung zu sich, auch im schmerz und in bedürftigkeit (die dadurch womöglich erst spürbar werden), den schatten dafür zu hilfe zu nehmen, sich sein lassen, gesehen werden wollen - die scheinbar widersprüchliche, doch wesentliche verbindung von selbstbehauptung und bedürfnis nach zarter berührung (resonanz zum eigenen zarten kern) finde ich sehr gut ausgedrückt, eine feine und fundamentale balance von 'beharren' und 'frei geben'.

der konjuntiv am ende ist dafür wesentlich, finde ich.

den titel lese ich auf das 'besinnen' bezogen, dennoch gefällt er mir nicht; ich finde ihn zu allgemein-abstrakt-schlagwortartig (als distanzierte er von der berührung, die im text geschieht) inhaltlich würde es 'besinnend' m.e. besser treffen (das ist aber kein alternativvorschlag - wenn du einen solchen möchtest: vielleicht 'selbst')

die abgesetzten drei punkte am ende eröffnen sich nicht - siehst du sie als teil des textes, oder sollen sie ihm raum geben?


sehr gern gelesen
aram
there is a crack in everything, that's how the light gets in
l. cohen

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 24.06.2007, 17:40

hallo aram, die drei punkte sollten dem text nur raum geben. bestimmt gibt es technisch eine andere möglichkeit.
der titel, das ist ja ein ding. dummerweise wüßte ich keinen anderen. er sagt eigentlich schlagwortartig, worum es dem verfasser geht. bewußt - auch in seiner brüchigkeit.
bewußt - auch im verlust. bewußt als trost. bewußt als intensive menschliche wahrnehmung des "ich".

sehr vielen dank für diesen im ganzen positiven eindruck und deine erläuterungen.

gruß
chiqu.

aram
Beiträge: 4509
Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 24.06.2007, 18:13

er sagt eigentlich schlagwortartig, worum es dem verfasser geht. bewußt - auch in seiner brüchigkeit.

ne, das kommt eben 'eigentlich' nicht an - im text schon, gerade im titel aber nicht, er wirkt fremd - die verbindung zum text wirkt mental-etikettenhaft, nicht poetisch. auf mich jedenfalls.

bestimmt gibt es technisch eine andere möglichkeit.

du kannst im editor auch leerzeichen (damit auch leerzeilen) einfügen, du findest sie unter den sonderzeichen (symbol %u3a9 anklicken oder &#160x; ohne x schreiben -> dann 'erscheint' nur ein leerzeichen)

sonntagsgruß
aram
Zuletzt geändert von aram am 24.06.2007, 18:16, insgesamt 1-mal geändert.
there is a crack in everything, that's how the light gets in

l. cohen

Benutzeravatar
ferdi
Beiträge: 3260
Registriert: 01.04.2007
Geschlecht:

Beitragvon ferdi » 24.06.2007, 18:15

Hallo Chiquita, hallo ihr anderen,

ich muss gestehen, mal wieder völlig auf dem Schlauch zu stehen. Wiese um alles in der Welt ist "umwehe" ein Konjunktiv?! Wenn, dann müsste es ein Konjunktiv I sein (Konjunktiv II = umwehte), und der wird in der indirekten Rede verwendet. Was hier aber doch wenig Sinn macht.

Also eher "umwehe" als Imperativ? In diese Richtung habe ich es gelesen. Hier liegt sicher ein Problem.

Vom Text als solchem habe ich eigentlich einen guten Eindruck. Seine Crux ist, dass er sich im Kern der deutschen Grammatik verweigert und damit (zumindest für mich) sehr schwer zu genießen ist.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 24.06.2007, 18:18

danke aram, ich hoffe, daß ich das mit den leerzeichen das nächste mal besser hinkriege. notfalls lasse ich mir es noch mal erklären.
das etikettenhafte klebt dem titel tatsächlich an, wenn man nicht wie ich das gedicht schon über 20 jahre verinnerlicht hat.

vielleicht sollte ich es einfach "ohne titel" einstellen?

chiqu.

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 24.06.2007, 18:30

hallo ferdi, so widerspentig gegenüber der grammatik finde ich mein gedicht eigentlich nicht.
der imperativ ist eine interessante alternative. (solle umwehen?) er widerspricht nicht der grundstimmung des gedichts.
schwer lesbar finde ich mein gedicht auch nicht. die aussagen sind klipp und klar, teils eindeutig, teils allegorisch zu sehen. ich bin als verfasser natürlich sehr voreingenommen. das gedicht schrieb ich 1979. es ist eines jener gedichte gewesen, die mir damals unter die haut gingen - wie zb. einige songs von den beatles. und irgendwie blieb das auch so. ich bin konditioniert (lach).

danke. ich hätte gar nicht gedacht, wie unterschiedlich dieses "einfache" gedicht gelesen werden kann.

gruß
chiqu.

Gast

Beitragvon Gast » 24.06.2007, 18:42

Danke, dann hatte ich also Recht mit "höchstens 18". Was den Konjunktiv anlangt beuge ich mich Lisas und arams besserem Lyrikverständnis, da siehst du mal wieder, ich bin eben keine Lyrikerin (was du aber ohnehin weißt).

@ Ferdi:
*Klugscheißmodus ein*:
"dass... umwehe" ist, soviel ich weiß, Konjunktiv I (im Sinne von "umwehen möge")
*Klugscheißmodus aus*

Benutzeravatar
ferdi
Beiträge: 3260
Registriert: 01.04.2007
Geschlecht:

Beitragvon ferdi » 24.06.2007, 19:02

Hallo Chiquita!

Die Frage ist eigentlich nicht, als "wie wiederspenstig gegenüber der Grammatik du das Gedicht empfindest", sondern inwieweit das Gedicht den Regeln der Grammatik entspricht. Und da bleibt festzustellen:

1. Wenn "umwehe" Konjunktiv sein soll, geht das nicht.

2. Der Satzbau ist undurchsichtig. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist er sogar falsch. Schauen wir mal!

Mein erster Eindruck ist der einer Reihung:

Sieh den Schatten von mir (zu dem "von mir" unten mehr), und sieh, dass ich hier stehe, ganz fest, und sieh, dass mir der Tag die Tränen abwischt, und sieh, dass mich der Wind ganz zart umwehe.

Keine Frage, das letzte Glied passt nicht.

Nun kann man natürlich andere Reihungsversuche machen (weniger ausführlich), aber im Endeffekt ist das "sieh" der ersten Zeile dein einziges fintites Verb, so dass normalerweise von diesem alles abhängig sein muss. Eine "Zurechtbiegungsmöglichkeit wäre, das letzte "sieh" als "achte darauf" zu lesen, aber das scheint mir sehr weit hergeholt.

Ich würde die grammatikalische Struktur dieses Textes gerne verstehen. Leider hilft mir dein Empfinden dabei nicht weiter. Könntest du stattdessen die Satzstruktur, wie sie sich deiner Meinung nach gestaltet, kurz aufführen? Es würde mich freuen.

Noch zum "von mir" Das ist grammatiklisch richtig, aber natürlich schlechter Stil, falls es im Sinne von "Sieh meinen Schatten" gemeint ist. So, wie es da steht, kamen in mir Assoziationen zu Wendungen wie "Nimm diesen Schatten von mir" u.ä. auf - war das beabsichtigt?!

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Google [Bot] und 18 Gäste