Geziefer

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 14.06.2007, 16:30

Geziefer

Zum ersten Mal traf ich André bei Paco. Ich war gerade auf dem Weg nach Puerto Banus, um dort einige Fotos von der riesigen Yacht des Königs von Saudi Arabien zu machen. Dieser hatte mal wieder vor Marbella geankert, um sich in seiner Villa, die im Grunde ein eigens für ihn errichtetes Krankenhaus ist, der Unheilbarkeit seiner Krankheit zu widersetzen. Da ich die vollen Küstenstraßen vermeiden wollte, nahm ich den Weg übers Land. Alhaurin, Coin, an Ojen, vorbei, die gewundene Straße herunter nach Sierra Blanca. Wie immer, wenn ich diese Strecke fuhr, hielt ich bei Paco, um eine Kleinigkeit zu essen.
Das Restaurant war gut gefüllt, in der Mehrzahl Bauarbeiter, die in großen Gruppen zu Mittag aßen. An der Theke saßen alte Männer mit Strohhüten und weit aufgeknöpften Hemden, aus denen sich würdevoll weißes Brusthaar herauskringelte. Zwei schwitzende Kellner jagten durch den großen Raum, verteilten Karaffen mit gespritztem Rotwein, erklärten einem jeden Neuankömmling geduldig das Tagesmenü und riefen Paco die Bestellungen zu. Dieser stand dick und schweißgebadet hinter der Theke, zapfte Bier, bediente einen röchelnden Kaffeeautomaten, kassierte und unterhielt sich nebenbei mit den Alten auf den Barhockern.
André saß, in ein Buch vertieft, in der hintersten Ecke des Restaurants. Auf dem Tisch vor ihm stand ein kleiner Teller mit dünnen Schinkenscheiben und einigen Stückchen Käse, daneben ein Glas Wasser. Der einzige noch freie Platz war der an seinem Tisch, also setzte ich mich zu ihm. Schon stand einer der Kellner vor mir und stellte mich vor die Wahl zwischen Suppe und Paella als Vorspeise, Fisch oder Schnitzel als Hauptgang, Pudding oder Kaffee als Dessert. Während ich überlegte, fiel mein Blick auf den Teller mit Schinken, dessen frische Farbe an Spätburgunder erinnerte. Ich bestellte etwas davon, dazu Sardellen in Essig und einen Krug Bier.
Ich weiß nicht, ob Andre mich schon bemerkt hatte. Er nippte an seinem Wasser, ohne von dem Buch, dessen Titel ich zunächst nicht lesen konnte, aufzusehen, und ab und zu tastete er nach ein Stück Fleisch oder Käse. Irgendwann wurde mir im Vorbeigehen ein Teller und auch das Bier hingestellt. In diesem Moment sah Andre das erste Mal auf und wünschte mir einen guten Appetit. Er schaute auf seine Uhr, dann legte er die restlichen Schinkenstücke auf den übriggebliebenen Käse und schob sich die Portionen eine nach der anderen in den Mund. Jetzt konnte ich den Titel des Buches erkennen. Es war Nabokovs Lolita.
Was er denn halte, von Humbert Humbert, fragte ich ihn.
„Ein Päderast“, antwortete André mit kehliger Stimme.
„Das ist alles?“, erwiderte ich, „keinerlei Verständnis für seine Obsession? Immerhin ist er aufrichtig.“
„Aufrichtigkeit“, meinte er darauf, „könnte man in diesem Fall auch für Eitelkeit halten.“

Wir begannen uns zu unterhalten. Zu Hause käme er nicht dazu nur eine Zeile zu lesen, meinte André. Die Frau, die drei Kinder, das Haus mit dem Garten, da bliebe wenig Zeit. In diesem Restaurant aber, in dem er immer seine zweistündige Mittagspause verbrachte, in diesem Konglomerat aus Geräuschen und Gerüchen konnte er sich seltsamerweise entspannen und mit Vergnügen lesen.
„Das mag daran liegen“, sagte er lächelnd, als er meinen ungläubigen Blick bemerkte, „dass mich hier weder die Geräusche noch die Gerüche etwas angehen.“

André war für einen Andalusier ungewöhnlich groß. In sein längliches Gesicht waren langweilig blickende Augen gedrückt und eine viel zu kleine Nase, die erst auf Höhe des Jochbeins aus dem Gesicht herausstrebte, was ihr das Profil einer Skiflugschanze gab. Er arbeitete als Kameraassistent für eine Gesellschaft, die eine Telenovela für das andalusische Regionalfernsehen produzierte. Eine peinliche Serie, die in einem Hotel spielte. Der Drehort lag nicht weit von Pacos Restaurant zwischen Coin und Alhaurin. Wegen seiner Größe, seinem stoischen Gesichtsausdruck und dem Unverrückbaren, das seine ganze Erscheinung ausstrahlte, wurden mit André auch gerne Nebenrollen besetzt, sei es als Polizist, als Kofferträger oder als Sekretär eines verrückten Millionärs aus Madrid.

Wir beschlossen, uns einmal die Woche bei Paco zum Mittagessen zu treffen und über Bücher zu reden. André war nicht wirklich attraktiv, aber sein Gesicht hatte etwas Perspektivisches, wie ein Gemälde, das einem erst dann schön erscheint, wenn man etwas über den Maler und seine Intentionen erfahren hat. Auch wenn André zunächst selten über sich sprach, so zeigten mir seine Meinungen zu den verschiedensten Büchern und Schriftstellern doch deutlich, welch ein nachdenklicher und, trotz seiner Familie, einsamer Mensch er war.
Ich liebe einsame Menschen. Einsamkeit ist für mich das aufregendste Parfüm, das jemand tragen kann. Es ist nicht der Liebende, sondern der Einsame, der bereit ist, sich völlig hinzugeben.

An dem Tag, an dem wir das erste Mal miteinander schliefen, hatten wir über Pessoa geredet. André wusste viel über den Portugiesen. Er sagte, er verehre ihn nicht, weil er sich so gerne verstellte, aber er respektiere ihn, weil er sich in seiner Verstellung immer zu erkennen gab.
Von Pessoa stammte auch sein Lieblingszitat: Wir lieben niemals irgendjemanden. Wir lieben ganz allein die Vorstellung, die wir uns von jemandem machen.
Ich war nicht der erste Mann, mit dem er Sex hatte. Es gab da früher Mitschüler und später Kollegen. Ab und zu auch Frauen. Diese Unentschlossenheit verwirrte ihn am Ende derart, dass er es für das Beste hielt, zu heiraten. Aber auch danach hatte er immer wieder kürzere Affären, meist mit jungen Studenten, die tageweise bei den Dreharbeiten irgendwelche Hilfsarbeiten erledigten.

„Das mit dir ist etwas anderes“, sagte er einmal. Da trieben wir es schon einige Monate miteinander. Entweder trafen wir uns bei mir oder in einem kleinen Hotel etwas außerhalb von Marbella.
„Die Anderen, die kamen und gingen. Wie Jahreszeiten. Bei dir kann ich mir vorstellen, dass es so bleibt. Dass du bleibst.“
Ich sagte nichts dazu, streichelte seinen langen Rücken, seinen von kleinen Pickeln übersäten Hintern, griff zwischen seine Beine, bis wieder Bewegung in ihn kam und das, was er gerade gesagt hatte, von seiner Erregung beiseite geschoben wurde.

Irgendwann wollte André, dass ich seine Familie kennen lerne. Was ihn dazu trieb, weiß ich nicht. Vielleicht machte ihm sein Gewissen zu schaffen. An einem Tag hatte er mich gefragt, warum er die gleiche Leidenschaft, die er mir gegenüber zeigen konnte, nicht bei seiner Frau empfände.
„Dafür gibt es zwei Gründe“, antwortete ich ihm. „ Der eine ist: Du besitzt deine Frau, aber du besitzt nicht mich. Und wir empfinden die größere Leidenschaft immer dann, wenn wir mit denen zusammen sind, die wir nicht so besitzen, wie wir es gerne würden. Weil es eben dieser Moment der größten Leidenschaft ist, der uns vormacht, wir würden so besitzen, wie wir es uns wünschen.“
„Und der zweite Grund?“ fragte er nach einer längeren Pause.
„Das ist viel einfacher: Du kannst nur Fleisch vögeln oder Fleisch und Verstand“.
André wandte sich ab. Er mochte keine vulgären Ausdrücke. Aber ich denke, er hatte es trotzdem verstanden. Daher rührten wohl auch seine Gewissensbisse. In der Erkenntnis, dass er mit seiner Frau niemals solche Gespräche führen konnte wie mit mir.

André lebte mit seiner Familie in einem kleinen Dorf, etwa fünf Kilometer von Coin entfernt. Das übliche einstöckige, weißgetünchte Haus. Die übliche, von einem Baldachin aus wildem Wein beschattete Terrasse. Ein Garten, in dem Tomaten, Pferdebohnen und einige Mandelbäume wuchsen. Seine Frau begrüßte mich freundlich. Wir aßen Tappas auf der Terrasse und sprachen über Familie, Kinder und Heimweh. Inmaculada stammte aus dem Norden Spaniens. Als junge Frau hatte sie einmal Verwandte in Andalusien besucht und auf dieser Reise André kennen gelernt. Sie heirateten schnell und bald darauf kamen die Kinder. Belèn, die älteste, wurde jetzt schon bald siebzehn.

Ich begehrte Inmaculada sofort. So, wie man nur eine fettleibige Frau begehren kann. Es mag dafür Erklärungen geben, aber die interessieren mich nicht. Alles an dieser Frau war sinnlich und erregend. Ihr übergroßer Busen, ihr weit ausladender Hintern, ihre mächtigen Oberschenkel. Noch während des Essens stellte ich mir vor, wie sie riechen mochte. Es ist ein böses Vorurteil, welches besagt, dass dicke Frauen unangenehm riechen. Ich hatte meine Nase schon in den Mösen verschiedener magersüchtiger Frauen (die sind noch einsamer, als die Dicken). Was man da riecht, ist nur Tod. Die Dicken aber strotzen vor Leben. Ihr Geruch ist würzig und salzig, wie eine Mischung aus Weide und Strand.

Am nächsten Vormittag besuchte ich Inmaculada. Wir saßen auf der Terrasse, sprachen über dies und das und schließlich sagte sie, dass André nicht mehr mit ihr schlafe.
Ich fragte sie, ob sie den Lieblingsdichter ihres Mannes kenne.
„Garcia Lorca“, antwortete sie.
Ob sie denn wüsste, was dieser über die Brüste von Frauen dachte.
„Nein“, sagte sie und zupfte an ihrem Wickelkleid, das sie schon am Vorabend getragen hatte.
„Er hasste Brüste“, sagte ich, „vor allem die in ihrer wohlentwickelten Form. Das zumindest behauptete Dali. Brüste, in ihrer wohlentwickelten Form. So wie deine.“
Inmaculada weinte, während ich meine Hand in ihren Ausschnitt schob.
Von da an trafen wir uns mehrmals die Woche und es gab nichts, was sie mir vorenthielt, aus Angst, ich würde nicht wiederkommen.

Schon bald erzählte ich André davon. Interessant, wie seine Erregung einbrach und wie ich sie wiederbeleben konnte, nach und nach, obwohl er wusste, dass jene Zunge, die gerade an seinem Schwanz leckte, keine vierundzwanzig Stunden zuvor so tief, wie es ging, in der Möse seiner Frau gesteckt hatte.
„Ich will nur nicht, dass die Kinder es mitbekommen“, war alles, was er dazu sagte und ich konnte spüren, wie er sich dafür schämte.

Drei Monate später sagte mir André, er wolle mich nie wieder sehen. Wir saßen an der Strandpromenade von Fuengirola und beobachteten ein paar junge Marrokaner, die versuchten, Drogen an Touristen zu verkaufen.
Dies gelte im Übrigen auch für Inmaculada, sagte er. Sie hasse mich. Beide würden sie mich hassen. Und in diesem gemeinsamen Hass läge sogar etwas Gutes, denn er könnte bedeuten, dass es für sie doch noch so etwas wie eine gemeinsame Zukunft gäbe. Eine Zukunft, an die er die ganzen Monate, in denen er sich mit mir traf („In denen du mit mir gefickt hast“, unterbrach ich ihn), nicht mehr geglaubt hatte.

Ausgelöst wurde alles durch einen Zufall, der vielleicht gar keiner war. Ich traf Belèn in Malaga. Gegenüber der Schule, die sie seit einigen Monaten besuchte, befanden sich mehrere kleine Cafes, die von den Schülern in ihren Pausen gerne aufgesucht wurden, um dort etwas zu trinken und zu rauchen. Ich saß in einem jener Cafes, als Belèn mit ein paar Freundinnen eintrat. Sie erkannte mich sofort und kam an meinen Tisch. Man hätte das Mädchen für sechzehn oder sechsundzwanzig halten können. Je nachdem, wo man hinsah. Es war unschwer zu erkennen, dass sie einmal die Form ihrer Mutter annehmen würde. Schon jetzt hatte sie einen schweren Busen, ein rundes, volles Gesicht. Ihr Blick war aber der des Vaters, neugierig und kraftlos. Sie wollte Malerin werden und auf eine Kunsthochschule in Granada gehen. Ich sagte ihr, ich hätte Kontakte, und so blieb sie länger bei mir sitzen, als sie vielleicht geplant hatte, und wir sprachen über dieses und jenes. Sie fühle sich eingesperrt, meinte sie irgendwann, in diesem kleinen Dorf, diesem kleinen Haus, dieser kleinen Familie mit ihrer kleinen Art zu denken,
„Oh“, sagte ich, „dein Vater denkt nicht klein, er liest sehr viel.“
„Das tut er aber nur für sich“, erwiderte sie in einem Tonfall, der mir sehr gefiel, „aber nicht für uns. Alle tun alles nur für sich.“
„Und die Kunst?“, fragte ich. „Für wen die Kunst, die du studieren willst?“
„Die ist für mich“, sagte sie ein wenig trotzig. „Aber wenn sie mir mal gehört, will ich sie weitergeben. Ich denke, im Weitergeben liegt der Sinn der Kunst. Alles andere hieße alleine zu bleiben, so wie meine Eltern.“

„Ich habe mich nur mit deiner Tochter unterhalten“, sagte ich zu Andrè.
„Ich will, dass du sie in Ruhe lässt.“
„Natürlich lasse ich sie in Ruhe“, sagte ich, „solange, bis sie das Gegenteil wünscht.“

Danach gab es Tage, an denen ich André vermisste und Tage, an denen ich Inmaculada vermisste. Aber denken konnte ich nur noch an Belén. Währenddessen war Inmalculada nicht so konsequent wie ihr Mann und ich brachte sie wenigstens am Telefon noch einige Male dazu, sich selbst zu befriedigen.

Gestern erhielt ich eine Email von Belèn. Sie schreibt, dass sie ihr Studium abgebrochen hat. Sie wohnt jetzt wieder bei ihren Eltern und ihren Brüdern. Und irgendwie, schreibt sie, fühlt sie sich einsam.

Sam

Beitragvon Sam » 23.06.2007, 07:38

Hallo Mucki,

danke für deine Gedanken zu dieser Idee. Wie gesagt, es muss noch sacken.

Vielleicht noch was dazu, ob man den Autor nennen sollte. Ich denke schon. Das wäre meiner Meinung nach sogar sehr wichtig. Denn in einer guten Rezension spielen auch Eigenarten und Entwicklung des Autors eine Rolle.
Für die Umsetzung dieser Idee bedarf es mutiger AutorInnen und ebenso mutiger Rezensenten (denn eine Kritik kann in einem entsprechenden Ordner durch Folgekritiken nach Lust und Laune angegriffen und widerlegt werden)

Naja, schaun wir mal...

Liebe Grüße

Sam

Max Dernet

Beitragvon Max Dernet » 23.06.2007, 10:10

Sam hat geschrieben:Vielleicht kein Hecht, sondern ein Egel. Oder aber nur eine Kuh, die sich gerne melken lässt. Zudem ist nicht gesagt, dass er auf alles springt. Es geht hier nur um drei Menschen.


hallo sam,

das ist's wo mir etwas fehlt, in der charakterisierung des erzählers (mein haupteinwand,, alles andere sidn petitessen). geht es es nur mum die drei, ist er von dieser familie besessen und warum, bzw. würde er eine andere familie ebenso heimsuchen, oder geht er auf einsame los, egal welchen alters, standes und geschlechts... nur zu beschreiben daß,ist mir nicht glaubwürdig genug, da würde ien zwei sätze zur charakterisierung völlig reichen um die gerschichte gehaltvoller zu machen

max d.

Sam

Beitragvon Sam » 23.06.2007, 19:36

Hallo Max D.


Max Dernet hat geschrieben:
das ist's wo mir etwas fehlt, in der charakterisierung des erzählers (mein haupteinwand,, alles andere sidn petitessen). geht es es nur mum die drei, ist er von dieser familie besessen und warum, bzw. würde er eine andere familie ebenso heimsuchen, oder geht er auf einsame los, egal welchen alters, standes und geschlechts... nur zu beschreiben daß,ist mir nicht glaubwürdig genug, da würde ien zwei sätze zur charakterisierung völlig reichen um die gerschichte gehaltvoller zu machen


Was den Erzähler anzieht, sind einsame Menschen, das wird gesagt.
In der Geschichte trifft er zunächst Andre. Dass er danach auch dessen Frau und auch die Tochter trifft, ist ja nicht auf sein Betreiben hin geschehen. Aber da auch bei ihnen jene für ihn so anziehende Einsamkeit verspürt, werden sie für ihn ebenso interessant, wie Andre.

Für mich ist es im Sinne der Geschichte, dass der Hintergrund des Erzählers in der Luft hängt. Deine Bedenken diesbezüglich habe ich aber auch schon von anderer Seite vernommen, und muss eingestehen, dass dies ein Punkt ist, der es einigen (vielen?) Lesern schwer macht, die Geschichte so zu genießen, wie ich es mir wünsche.

Liebe Grüße

Sam


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