Auch ein Dichter ist nur ein Mensch

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Chiquita

Beitragvon Chiquita » 22.06.2007, 15:23

Auch ein Dichter ist nur ein Mensch




Brunhilde bedient im Speisewagen
und stößt mit dem Kopf fast an die Decke
die Berge tragen weiße Hauben
auch ein Dichter ist nur ein Mensch
ich trinke helles Hefeweizen
vor Freiburg
durchschnittlich feige
auf meinem Sitz
mit gepolsterten Kopfstützen
unprofessionell im Abschiednehmen
ich schaue zu Brunhilde hoch
sie sagt: „aber gerne“
braun sind die Äcker
braun wie mein Gemüt
unvollkommen sind die Dichter
mehr als alle anderen Menschen
ihr Leben in schwarze Tinte getaucht
der Welt nie gerecht
ohnmächtig trinke ich mein Bier
Hoffnung heißen die zeitlosen Flügel des Vogels Seele
der Zug hält
ich bin in Freiburg
ich fahre nur vorbei
niemals war ich hier
niemals war ich dort
die Freiheit existiert auf Schienen
meine Reisen sind Mittelmaß
Hellblau heißt Ahnung
von den Sternen
von meinen Freunden
von der Erde
von mir
auch ein Dichter ist nur ein Mensch
er isst mit Messer und Gabel
spuckt Worte
verzeih, Liebling
meine Küsse waren Verrat
der Zug fährt
mit und ohne uns
vorbei an schönen und hässlichen Faltengesichtern
vorbei an mannigfachen Farben
die mehr sagen als schwarze Tinte
Dächer, Dächer ...
auch dich liebte ich
auch ein Dichter ist nur ein Mensch
Gott, steh mir bei



...

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 22.06.2007, 16:50

Lieber Chiquita,

das ist gut. Auch wenn ich keine Zeit habe, ausführlich zu kommentieren. Morgen fahre ich nämlich Zug.

Grüße

Paul Ost

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 22.06.2007, 19:14

hallo paul, dann wünsche ich dir gute fahrt und danke dir für dein kurzes statement.

chiquita

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 22.06.2007, 19:15

Hallo Ralph,

das hier finde ich klasse! Ein Erzählgedicht, in dem viel Spannung ist. Ich würde es nur nich als lange Wurst formatieren sondern mit Leerräumen die einzelnen "Episoden" voneinander trennen, etwa so meine ich:

Brunhilde bedient im Speisewagen
und stößt mit dem Kopf fast an die Decke
die Berge tragen weiße Hauben
auch ein Dichter ist nur ein Mensch
ich trinke helles Hefeweizen
vor Freiburg
durchschnittlich feige
auf meinem Sitz
mit gepolsterten Kopfstützen
unprofessionell im Abschiednehmen
ich schaue zu Brunhilde hoch
sie sagt: „aber gerne“

braun sind die Äcker
braun wie mein Gemüt

unvollkommen sind die Dichter
mehr als alle anderen Menschen
ihr Leben in schwarze Tinte getaucht
der Welt nie gerecht

ohnmächtig trinke ich mein Bier
Hoffnung heißen die zeitlosen Flügel des Vogels Seele

der Zug hält
ich bin in Freiburg
ich fahre nur vorbei
niemals war ich hier
niemals war ich dort
die Freiheit existiert auf Schienen
meine Reisen sind Mittelmaß

Hellblau heißt Ahnung
von den Sternen
von meinen Freunden
von der Erde
von mir

auch ein Dichter ist nur ein Mensch
er isst mit Messer und Gabel
spuckt Worte
verzeih, Liebling
meine Küsse waren Verrat

der Zug fährt
mit und ohne uns
vorbei an schönen und hässlichen Faltengesichtern
vorbei an mannigfachen Farben
die mehr sagen als schwarze Tinte
Dächer, Dächer ...
auch dich liebte ich

auch ein Dichter ist nur ein Mensch

Gott, steh mir bei


Lieben Gruß
ELsa
Schreiben ist atmen

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 22.06.2007, 19:43

hallo elsa, über die "formatierung" läßt sich wirklich streiten. alle paar mal, wenn ich es durchlese, könnte ich die zeilenumbrüche anders setzen.
mit den strophen, die du dir vorstellst, kann ich mich unmöglich einverstanden erklären, weil es sich für mich dann nicht mehr authentisch/flüssig liest.
interessant finde ich aber, wie du als leserin den text gliederst.

gruß
chiquita

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 22.06.2007, 21:21

Alles klar,

LG
ELsa
Schreiben ist atmen

Max

Beitragvon Max » 23.06.2007, 11:52

Lieber Ralph,

ich stimme Elsa zu, dass sich zumindest leserfreundlicherer Zeilenumbrüche denken ließen (das mag mein persönlicher Geschmack sein, aber ich habe bei Erzählgedichten manchmal Probleme, wenn dem Auge keine Pause gegönnt wird).

Ansonsten gefällt mir das Gedicht sehr gut, es schwebt in einem Zwischenraum zwischen poetischer Beschreibung und ironischer Distanz - schon die wiederkehrende Titelzeile finde ich da sehr gelungen.

Das habe ich sehr gern gelesen

Liebe Grüße
Max

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 23.06.2007, 12:27

hi max, du hast freilich recht, was die leserfreundlichkeit angeht - da weiß ich nun nicht, wie harmoniebedürftig der einzelne leser ist. manche, wie ich, mögen es lieber herber und nicht zu gefällig in der strukturierung. aber ich werde mir in kürze mal eine alternative überlegen.

vielen dank fürs vorbeischauen.

chiqu.


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