Husumer Impressionen

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Chiquita

Beitragvon Chiquita » 15.06.2007, 13:22

Husumer Impressionen



"Spaßbremse", sagt der dickliche Picasso, weil
das westfälische Kind schimpft wie ein
Rohrspatz.
Ich flüchtete vor der Sonne in
eine dunkle Ecke
Husums,
wo sich die Abgestürzten, die Benachteiligten
die Klinke in die Hand geben.
Picasso sagt: "Diese Frau übersteigt meinen
geistigen Horizont."
Das Bier kühlt meine Seele.
Die Hitze hängt mir noch im Gesicht.
18 Uhr - "Die Glocken von Rom", sagt der
gemütliche Wirt mit
den gutmütigen Augen.
Picasso umarmt seinen Kumpel bierselig.
Sie sitzen auf einer durchgewetzten Bank vor einem
Triptychon verblichener Bilder Husumer Stadtlebens.
Der westfälische Rohrspatz mit dem Damenbart
erzählt Geschichten aus ihrem Leben ...
Woran soll man sich sonst halten
als an den alten Geschichten?
Am Bier?

Auf dem Weg nach Nordstrand kam mir
in den Kopf,
daß eigentlich die Maschinen
die Welt erschufen
samt Natur und Menschen.
Jedenfalls
erinnern sich die Maschinen an nichts anderes.
Bald darauf erfindet der Mensch die ersten
Automaten,
und dann
die ersten Computerherzen.

Am Mittag kam ich zurück auf den
Zeltplatz.
Der fette Arsch eines Wohnwagens hatte
sich 1 Meter neben mein Zelt gepflanzt.
Ich nehme mein Zelt unter den Arm
und kaufe mir in Husum Abführzäpfchen.

Ein Gast hat in die Hose geschissen.
Sie hängt auf Halbmast.
Picasso steht inzwischen neben mir und sabbert
mich bierselig schulterklopfend wie vorhin seinen
Kumpel
voll.
Er fragt, ob ich auf Urlaub sei.
Ich hätte mir eine Urhusumer Kneipe ausgesucht.
Nebenbei sehe ich, höre ich, rieche ich
den "Hosenscheißer aus Garding", wie er
selbst wiederholt betrunken tönt.
Sie sammeln für das Taxigeld
und geben ihm eine Tageszeitung
als Unterlage
mit.

pandora

Beitragvon pandora » 15.06.2007, 16:57

hallo chiquita,

und willkommen hier im salon.
ich habe deinen text jetzt mehrfach gelesen und frage mich ehrlich, wieso du ihn nicht im prosa-ordner veröffentlicht hast. vielleicht magst du etwas dazu sagen.

ein paar dinge, die mir aufgefallen sind, habe ich im text angemerkt.

Chiquita hat geschrieben:Husumer Impressionen



"Spaßbremse", sagt der dickliche Picasso, weil
das westfälische Kind schimpft wie ein
Rohrspatz.
Ich flüchtete vor der Sonne in
eine dunkle Ecke
Husums,
wo sich die Abgestürzten, die Benachteiligten
die Klinke in die Hand geben.
Picasso sagt: "Diese Frau übersteigt meinen
geistigen Horizont."
Das Bier kühlt meine Seele.
Die Hitze hängt mir noch im Gesicht.
18 Uhr - "Die Glocken von Rom", sagt der
gemütliche Wirt mit
den gutmütigen Augen.
Picasso umarmt seinen Kumpel bierselig.
Sie sitzen auf einer durchgewetzten Bank vor einem
Triptychon verblichener Bilder Husumer Stadtlebens.
Der westfälische Rohrspatz mit dem Damenbart
erzählt Geschichten aus ihrem Leben ...---> beim dritten mal "westfälisch" kapiere ich, dass es weder um ein kind, noch um einen vogel, sondern um eine frau geht. um den grammatischen bezug zu wahren, müsste es heißen: "...erzählt geschichten aus seinem leben", oder?
Woran soll man sich sonst halten
als an den alten Geschichten?---> sich an etwas halten? im sinne von: sich an etwas orientieren? dann würde ich "als an die alten geschichten" schreiben.

Am Bier?

Auf dem Weg nach Nordstrand kam mir
in den Kopf,
daß eigentlich die Maschinen
die Welt erschufen
samt Natur und Menschen.
Jedenfalls
erinnern sich die Maschinen an nichts anderes.
Bald darauf erfindet der Mensch die ersten
Automaten,
und dann
die ersten Computerherzen.

Am Mittag kam ich zurück auf den
Zeltplatz.
Der fette Arsch eines Wohnwagens hatte
sich 1 Meter neben mein Zelt gepflanzt. ---> das bild vom wohnwagenarsch finde ich klasse.
Ich nehme mein Zelt unter den Arm
und kaufe mir in Husum Abführzäpfchen. ---> warum plötzlich abführmittel beschafft werden, erschließt sich mir nicht!!!

Ein Gast hat in die Hose geschissen.
Sie hängt auf Halbmast.
Picasso steht inzwischen neben mir und sabbert
mich bierselig schulterklopfend wie vorhin seinen
Kumpel---> nochmal: "bierselig" - gibts noch ein anderes adjektiv?
voll.
Er fragt, ob ich auf Urlaub sei.
Ich hätte mir eine Urhusumer Kneipe ausgesucht.
Nebenbei sehe ich, höre ich, rieche ich
den "Hosenscheißer aus Garding", wie er
selbst wiederholt betrunken tönt. ---> "wie er sich selbst trunken nennt"?
Sie sammeln für das Taxigeld
und geben ihm eine Tageszeitung
als Unterlage
mit.


lg
pan

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 15.06.2007, 17:24

Hallo Chiquita,

die Episode gefällt mir gut - habs vorhin schon gelesen, auch ich dachte sofort: Das ist doch Prosa? Also nicht falsch verstehen, ist ja eigentlich wurscht (Mischtyp/Kategorien hier eh nur Annäherung), aber ich find auch, das wäre was für die Kurzprosaecke - und es würde dem Text vor allem nicht schaden, ihn etwas "länger" zu setzen? (nicht ganz lang, aber etwas weiter schon).

Die Sprache und Art des Textes finde ich gelungen - ansprechend (wenn man das sagen kann ;-)), amüsierend, aber auch gut beobachtet und nicht zu selbsternst (deshalb find ich auch die Abführzäpfchen gut, auch wenns keinen erzählten Grund für sie gibt (sogar das find ich gut)).

Der Text würde sich in einer Reihe von Texten sicher auch gut machen - so ganz allein für sich wartet er "irgendwie noch auf seine Brüder" (~).

Hat mir aber gut gefallen, dein Einstand.

Viel Freude hier,
schön ein wenig Eigenwilligkeit zu lesen,
Lisa

(Kurzprosa ist es trotzdem ,-))
Zuletzt geändert von Lisa am 15.06.2007, 17:28, insgesamt 1-mal geändert.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Gast

Beitragvon Gast » 15.06.2007, 17:26

Hallo Chiquita und Bild im Salon,

pandora hat schon gefragt, warum der Text nicht als Prosatext gepostet wurde. Nun gut, du bist neu hier und hast vielleicht noch nicht entdeckt, dass es auch eine "Prosabteilung" gibt. :smile:

(Als Lyrik, wenn auch unter Bauchgrummeln, ginge es bei Erzähllyrik wohl noch am ehesten).

Der erste Satz kommt bei mir grammatisch nicht ganz gelungen an.
Zum einen, dieses "weil", das würde ich ganz weglassen. Einen Punkt machen, dann groß weiter, also so:

Das westfälische Kind schimpft wie ein Rohrspatz.
"Spaßbremse", sagt der dickliche Picasso.


Insgesamt kommt mir der Text noch ein wenig unfertig vor.
Ich weiß z. b. nicht so recht, warum er an dieser Stelle endet.
was haben die Abführzäpfchen mit Husum zu tun, was mit Vorfall, dass sich einen der Gäste beschissen hat?
Ich ahne auch nur, dass sich die Icherzählerin offenbar nicht direkt ins Pennermilieu, sondern in einen einschlägige Kneipe begeben hat, in der sie offenbar ein Fremdkörper ist.

Das Thema finde ich interessant und ich würde mir wünschen, dass du die Geschichte, denn es ist eine, ;-) ausführlicher und genauer schreibst.

Liebe Grüße
Gerda

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 15.06.2007, 17:36

hi, das ist sehr lieb und ausführlich kommentiert.
da der rohrspatz eine frau ist, sind es freilich "ihre" geschichten. als "westfälisches kind" bezeichnete sich die alte nudel selbst andauernd. die impressionen sind einigermaßen authentisch. ich dachte, daß die authentizität in diesem und in anderen fällen eine eigene poesie entfaltet. aber das kommt natürlich auf lesart und geschmack an. vielleicht schrammte ich da einfach an deinem geschmack vorbei. gibt es ein besseres wort als "bierselig"? das weiß ich nicht. aus meiner biertrinkenden erfahrung trifft es die anschauung bzw. den sachverhalt des menschlichen benehmens und der ausdünstungen in dieser urhusumer kneipe am besten.
richtig: wie er sich selbst trunken nennt, bzw. wie er wiederholt betrunken tönt, er sei der hosenscheißer aus garding.
das abführmittel kam mir gerade recht. ich kaufte es tatsächlich an jenem tage. nicht wegen dem hosenscheißer und auch nicht wegen des wohnwagenarsches - aber ich fand es in diesem bezug eine gelungene merkwürdigkeit - die man frei assoziieren darf.
das macht übrigens die meisten meiner "prosagedichte" aus - künstlerisch aus dem leben und aus meinen gedanken kopiert - mit möglichst vielem assoziativem freiraum, auf die gefahr hin, daß ich auch mal nicht jeden sprachlichen/literarischen geschmack befriedige.
ja, wir halten uns alle an unsere geschichten, oder nenne es die alten geschichten. jedenfalls um so älter wir werden, und je nach bildungsstand und schreibgewohnheiten beurteilen wir dann die "geschichten" der anderen - und so saß ich also in der kneipe unter den säufern, westfälischen kindern und hosenscheißern, und gab mein bestes, alles in einem gefälligen lichte zu sehen.

danke pandora. du hast den text gelesen, gar mehrmals gelesen. ich muß mich an einer solchen resonanz messen lassen. vielleicht war`s nicht gerade ein guter debüt-text in einem so hochkarätigen literaturforum.

gruß
chiquita

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 15.06.2007, 17:42

hallo gerda jäger. wenn ich die geschichte genauer schreiben würde, wäre es in der tat ein wasserdichter prosatext. ich dachte allerdings, daß gerade die bezeichnung "freies weben - themaunspezifisch" für diesen text zutreffend ist.
auch dir vielen dank für antwort und lesen.

gruß
chiquita

Gast

Beitragvon Gast » 15.06.2007, 17:46

Hallo Chiquita,

deine antwort hat sich fast mit meiner erneuten überschnitten.

Authenzität entfaltet immer dann ihre Wirkung, wenn sie beim Leser als solche ankommt.
Es kommt nicht darauf an, dass etwas "wahr" ist, aber es muss dem Leser glaubwürdig erscheinen und so manche Geschichte, die wahr ist, wird nur für Leser lebendig, wenn sie "verfeinert" wird.

Der Bezug bei "Rohrspatz" kann nur männlich sein, auch wenn sich dahinter eine Frau verbirgt.

Das wollte ich nu noch schnell mal hinterherschieben.

Gerade sehe ich auch, was Lisa geschrieben hat, ja, so ein Gefühl hatte ich auch, dass es da mehrere Texte in diese Richtung
geben könnte... :smile:
Ich bin gespannt.

Liebe Grüße
Gerda

PS: Schau mal hier herein:
http://www.blauersalon.net/literaturfor ... x.php?c=14
da kannst du Prosa posten

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 15.06.2007, 18:11

die frau, die wie ein rohrspatz klingt, hat obwohl der rohrspatz grammatikalisch maskulin ist, einen weiblichen bezug, und erzählt also ihre geschichten und nicht die geschichten des rohrspatzens.
der zum tode verurteilte mann, der wie eine memme weint, weint zwar wie eine memme, aber er beichtet dem pfarrer seine üblen geschichten und nicht die geschichten der memme.
hoffentlich wirke ich nun nicht rechthaberisch.

danke lisa, du sagst es, der text könnte in einer folge ähnlicher texte eine gute figur machen. als ausgesprochene lyrik würde ich ihn nicht ansehen, aber er ist das, was ich unter prosagedicht einordnen würde, wie sie bukowski, wondratschek, fauser schreiben/schrieben. allerdings würde ich auch die gesänge von walt whitman dazuzählen, deren lektüre mich immer wieder fasziniert.
oder nehme die dichtungen von pablo neruda oder nazim hikmet.

mit sicherheit wollte ich mit diesem text keine kurzprosa abliefern. vielleicht kristallisiert sich diese form der dichtung vor eurem geistig-lesenden auge besser heraus, wenn ihr die nächsten werke von mir lest.

"authentizität" ist wahrlich der schliff, den ein autor seinen werken charakterlich gibt. nicht jeder leser kann die authentizitäten der autoren nachempfinden. kunst und authentizitäten bleiben zu einem guten teil geschmackssache.

gruß
chiquita


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