Flugstunden Teil 1

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 03.06.2007, 13:25

3. Fassung (Vielen Dank an leonie für die technischen Fluginfos!)

Flugstunden

Nach einer Sturzgeburt im Supermarkt war Pit fürs Leben geprägt. Hätte nicht die Angestellte der Gemüseabteilung flugs eine Steige zwischen die Beine seiner Mutter geschoben, wäre er auf den Steinfliesen aufgeschlagen. So landete er in einem Bett aus Salat.

Sobald Pit laufen konnte, kletterte er auf alles hinauf und verschaffte sich einen Überblick. Zuerst vom Gitterbett, später von Stühlen, danach kamen die Tische dran. Mit ausgestreckten Armen segelte er hinab. Mit vier eroberte er den Schrank im Kinderzimmer.
„Mami“, rief er.
Sie schlug die Hand vor den Mund. Zitternd sagte sie: „Bleib oben, ich hole dich.“
„Nein!“ Er flog aus der Höhe von einem Meter achtzig in ihre Arme.
Der Vater schraubte Stuhl und Tisch am Boden des Kinderzimmers fest.

Im Alter von zehn zwängte er sich durch die Dachluke und balancierte auf dem First zum Giebel. Seine Mutter jätete Unkraut, stolperte bei „juhu, Mama!“ durch die Salatsetzlinge. Sie verharrte mit bleichem Gesicht und starrte ihren Jungen an, der sich am Wetterhahn festhielt.
„Pass auf, ich fliege jetzt!“
„Bitte nicht, Pit, ich flehe dich an!“
Doch er streckte wie gewohnt die Arme aus und stieß sich ab. Die Mutter fing ihn auf und brach sich drei Rippen.

„Er ist verrückt. Stell dir vor, wir hätten mehr als ein Stockwerk“, schluchzte sie leise, als Pit abends im Bett lag; jeder Atemzug verursachte ihr Schmerzen.
Der Vater kratzte sich im Nacken. „Ein schweres Los. Was können wir tun?“

Pit überlebte seine Kindheit. Die Pubertät schien ihn von weiteren Flugversuchen abzulenken; er benahm sich wie alle seiner Altersgruppe, fuhr Skateboard, wenn auch auf den höchsten Rampen, und machte seine ersten sexuellen Erfahrungen.
„Er hat es überwunden!“ Die Eltern schöpften Mut.
Doch bei all dem vermisste Pit das besondere Gefühl, das ihm das Fliegen verschafft hatte. Er hatte nur den Eltern zuliebe damit aufgehört.

„Ich möchte Physik studieren mit Schwerpunkt Aerodynamik“, eröffnete er ihnen nach dem Abitur, verschwieg allerdings, dass er sich selbst als Forschungsobjekt einplante. Er bewarb sich um einen Studienplatz an der Universität Innsbruck. Am Zug klopfte ihm der Vater auf den Rücken, „mach’s gut, Pit“, und die Mutter weinte.

Sofort der Immatrikulation schrieb er sich in einen Kurs für Paragliding ein.
Danach schaffte er sich von seinem Ersparten einen Gleitschirm an. An den Wochenenden kletterte Pit auf die Berge. Bald hatte er eine Steilwand gefunden, die eintausend Meter hochragte. Er biwakierte am Felsabsturz und wartete auf den morgendlichen Aufwind, der sich um sieben Uhr einstellte. Dann zog er den Schirm auf und rannte los. Mit einem Schrei warf er sich über die Wand, gewann an Höhe und sein Jubel schallte übers Tal.
„Ich fliege“, schrie er ein ums andere Mal. Nach zwei Stunden landete er in einem Kornfeld.

Am nächsten Wochenende kletterte er auf einen Zweitausender. Sein Herz klopfte wild, als er ganz weit unten das winzige Dorf ausnahm. Ein Steinadler segelte auf Augenhöhe vorbei.
„Du wirst gleich den Himmel mit mir teilen“, sagte Pit, der beginnende Morgenwind raubte ihm den Atem.
Er rannte los, die Luftkammern des Schirms füllten sich und seine Sprünge berührten kaum mehr den Boden. Kurz vor der Kante hob er ab, rauschte darüber, schwebte höher und höher.
„Frei“, flüsterte er und fühlte, wie sehr ihn die rätselhafte Sorge seiner Eltern bedrückt hatte. Er sah auf die Almen hinunter und rief: „Frei!“
Pit legte sich in die Kurve, immer steiler und wirbelte in einer Spirale hinab, tiefer und tiefer. Als er auf der Höhe von dreihundert Metern den Schirm stabilisieren wollte, schoss ein Schatten auf ihn zu und im nächsten Moment blickten ihn Raubvogelaugen an. So nah, dass er die gesprenkelte Iris sah. Erschrocken riss Pit an den Steuerleinen, verlor die Strömung und der Schirm klappte zusammen. Über ihm stieß der Adler einen Pfiff aus. Triumphierend.
Pit raste abwärts. Und auf einmal blitzen innere Bilder auf, die er nicht einordnen konnte. Grelles elektrisches Licht, Blut, das von seinem Kopf tropfte – er war ein Baby! – und hing bis zum Hals senkrecht aus einer Öffnung, die seinen Körper saugend festhielt. Rundherum standen Menschen, seine Mutter schrie und es roch nach Salat. Er stürzte auf einen Nadelwald zu.

Als er zu sich kam, spürte Pit das getrocknete Blut an seiner Schläfe. Sein rechtes Bein schien gebrochen. Auf ihm und um ihn herum lagen die Äste des Baumes, der ihm das Leben gerettet hatte. Er griff nach dem Handy in der Brusttasche und rief den Notdienst an. Viele Stunden vergingen, reichlich Zeit für ihn nachzudenken, bis er geborgen wurde.

Die Genesungszeit verbrachte Pit im Elternhaus. Er fragte die Mutter über die Umstände seiner Geburt aus.
Sie wand sich. „Wenn der Salat nicht gewesen wäre ...“
Pit lachte. „Ich bin als Flieger geboren!“
Er kratzte ein Stück Schorf von der Stirn. „Vielleicht sollte ich zur Raumfahrt gehen?“
Er zuckte zusammen, weil die Mutter einen spitzen Schrei ausstieß.
„Du willst zum Mond fliegen, oh nein!“
„Höher, Mama, viel höher.“









1. Fassung

Nach einer Sturzgeburt war Pit fürs Leben geprägt. Hätte nicht die Angestellte der Gemüseabteilung flugs eine Steige unter die Gebärende geschoben, wäre der Säugling auf den Steinfliesen aufgeschlagen. So landete er in einem Salatbett.

Sobald Pit laufen konnte, kletterte er auf alles hinauf und sah hinunter. Zuerst vom Gitterbett, später von Stühlen, danach kamen die Tische dran. Er streckte die Arme aus und segelte herab. Mit vier eroberte er den Schrank im Kinderzimmer.
„Mami“, rief er.
Sie schlug die Hand vor den Mund. Dann sagte sie: „Bleib oben, ich hole dich.“
„Nein!“ Er flog aus der Höhe von einem Meter achtzig in ihre Arme.
Der Vater schraubte Stuhl und Tisch am Boden des Kinderzimmers fest.

Im Alter von zehn zwängte er sich durch die Dachluke und balancierte auf dem First. Seine Mutter jätete Unkraut, stolperte bei seinem „juhu, Mama!“, durch die jungen Salatpflänzchen. Verharrte mit bleichem Gesicht und starrte ihren Jungen an, der sich am Wetterhahn festhielt.
„Pass auf, ich fliege jetzt!“
„Bitte nicht, Pit, ich flehe dich an!“
Doch er streckte wie gewohnt die Arme zur Seite und stieß sich vom einstöckigen Haus ab. Die Mutter fing ihn auf und brach sich drei Rippen.

„Er ist verrückt“, schluchzte sie leise, als Pit abends im Bett war; jeder Atemzug verursachte ihr Schmerzen, obwohl der Arzt sie in ein Korsett aus Bandagen geschnürt hatte.
Der Vater kratzte sich im Nacken. „Ein schweres Los. Was können wir tun?“

Pit überlebte seine Kindheit. Die Pubertät schien ihn von weiteren Flugversuchen abzulenken; er benahm sich wie alle seiner Altersgruppe, fuhr Skateboard, wenn auch auf den höchsten Rampen und machte seine ersten sexuellen Erfahrungen.
„Er hat es überwunden!“ Die Eltern schöpften Mut.
Doch bei all dem vermisste Pit das besondere Gefühl, das ihm das Fliegen verschafft hatte. Er hatte nur den Eltern zuliebe damit aufgehört.

„Ich möchte Physik studieren mit Schwerpunkt Aerodynamik“, eröffnete er ihnen nach dem Abitur, verschwieg allerdings, dass er sich selbst als Forschungsobjekt einplante. Er bewarb sich um einen Studienplatz an der Universität Innsbruck. Am Zug klopfte ihm der Vater auf den Rücken, „mach’s gut, Pit“, und die Mutter weinte.

Nach der Immatrikulation schrieb er sich in einen Kurs für Fallschirmspringen ein.
Aufgeregt schnallte er im Sportflugzeug das Päckchen um; der Lehrer kontrollierte die Gurten und dann wurde die Tür geöffnet. Pit sprang als letzter der fünf Teilnehmer hinaus. Wie ein Sack raste er erdwärts, ihm hob sich der Magen bis zur Brust. Erst als sich der Fallschirm öffnete, Pit hochriss und dann hinunter trug, stellte sich ein Glücksgefühl ein. Das Aufkommen war hart und unangenehm. Nachdem er die Einheit von zehn Stunden absolviert hatte, in denen das Sackplumpsen jedes Mal Übelkeit hervorrief, ließ er den Fortgeschrittenenkurs bleiben.
Von seinem letzten Ersparten schaffte er einen Gleitschirm an.

An den Wochenenden kletterte Pit auf die Berge. Bald hatte er seine Rampe gefunden; eine Steilwand, die zweitausend Meter hochragte. Er biwakierte am Felsabsturz und wartete auf den morgendlichen Aufwind, der sich um sieben Uhr einstellte. Mit einem Schrei warf er sich über die Wand, gewann an Höhe und sein Jubel schallte übers Tal.
„Ich fliege“, schrie er ein ums andere Mal. Das war doch ganz was anderes. Ein Fallwind brachte ihn nach zwei Stunden zur weichen Landung in einem Kornfeld.

Am nächsten Wochenende kletterte er auf den einzigen Dreieinhalbtausender in der Umgebung. Sein Herz klopfte wild, als er ganz weit unten das winzige Dorf ausnahm. Ein Steinadler segelte auf Augenhöhe vorbei.
„Du wirst gleich den Himmel mit mir teilen“, der Morgenwind raubte Pit den Atem.

Pit rannte los, die Haut des Schirms über ihm füllte sich mit Luft und seine Sprünge zum Abgrund hin berührten kaum mehr den Boden. Er rauschte über die Kante, flog höher und höher ins Blau.
„Frei“, flüsterte er ergriffen und fühlte, wie sehr ihn die rätselhafte Sorge seiner Eltern bedrückt hatte. Er sah auf die Almen hinunter und sagte lauter: „Frei!“
Pit legte sich in die Kurve, um in den Fallwind zu gelangen und wirbelte tiefer mit der Strömung. Auf der Höhe von eintausend Meter schrie er: „Freier Fall!“
Im Augenwinkel machte er einen Schatten aus, dann knatterte es links von ihm und Pit sackte ein paar Hundert Meter tiefer. Über ihm stieß der Adler einen Pfiff aus. Triumphierend.
Schnell vergrößerte sich der Riss, Pit trudelte mit wahnsinnigem Tempo hinab. Und auf einmal blitzen innere Bilder auf, die er nicht einordnen konnte. Grelles elektrisches Licht, Blut, das von seinem Kopf tropfte – er war ein Baby! – und hing bis zum Hals senkrecht aus einer Öffnung, die seinen Körper saugend festhielt. Rundherum standen Menschen, seine Mutter schrie und alles roch intensiv nach Gemüse.

Kopfüber raste er auf einen Nadelwald zu, ließ im Sturz den Schirm los und wurde von den Ästen aufgefangen.

Als er zu sich kam, spürte Pit das getrocknete Blut an seiner Schläfe. Sein rechtes Bein schien irgendwo gebrochen. Als er nach dem Handy in der Brusttasche fischte, merkte er, dass der Daumen ebenfalls gebrochen war. Pit suchte die Nummer eines Kommilitonen heraus.
Viele Stunden vergingen, reichlich Zeit für ihn nachzudenken, bis er geborgen wurde.

Die Genesungszeit verbrachte Pit im Elternhaus. Er fragte die Mutter über die Umstände seiner Geburt aus. Sie wand sich vor Peinlichkeit. Stockend berichtete sie.
„Wenn der Salat nicht gewesen wäre ...“
Pit lachte. „Ich bin als Flieger geboren!“
Er kratzte ein Stück Schorf von der Stirn. „Vielleicht sollte ich zur Raumfahrt gehen?“
Er zuckte zusammen, weil die Mutter einen spitzen Schrei ausstieß.
„Du willst zum Mond fliegen, oh nein!“
„Höher, Mama, viel höher.“

(c) Elsa Rieger
Zuletzt geändert von Elsa am 08.06.2007, 00:07, insgesamt 6-mal geändert.
Schreiben ist atmen

Max Dernet

Beitragvon Max Dernet » 06.06.2007, 17:20

Elsa hat geschrieben:3. Fassung (Vielen Dank an leonie für die technischen Fluginfos!)

Flugstunden

Nach einer Sturzgeburt im Supermarkt war Pit fürs Leben geprägt. Hätte nicht die Angestellte der Gemüseabteilung flugs eine Steige unter seine Mutter geschoben, wäre er auf den Steinfliesen aufgeschlagen. So landete er in einem Bett aus Salat.



(c) Elsa Rieger



der erste abschnitt ist stark!

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 06.06.2007, 17:30

Lieber Max D.

Und dann? Alles Schei.... ? :-)

Aber trotzdem danke!

Lieben Gruß
ELsa
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Beitragvon leonie » 06.06.2007, 17:52

Elsa!

Nur weil jemand den Anfang lobt, ist doch der Rest nicht "Schei...":-)
Zum Klettern kann ich aus Nahstudien sagen, dass das durchaus auch schon im Kindergarten praktiziert wird, aber mit 10 Jahren in jedem Fall noch aktuell ist.
Auf dem Dachgiebel ist mein Sohn noch nicht rumspaziert (wisch-sich-den-Schweiß-von-der-Stirn), wir haben ein Flachdach, da ist es nicht ganz so adrenalinausstoßfördernd.

Liebe Grüße

leonie

Max Dernet

Beitragvon Max Dernet » 06.06.2007, 19:36

leonie hat geschrieben:Elsa!

Nur weil jemand den Anfang lobt, ist doch der Rest nicht "Schei...":-)


eben. allerdings finde ich den anfang am stärksten

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 06.06.2007, 21:31

Liebe leonie, lieber Max D.

Es war nur ein Scherz. Ich schreib mir die Finger wund, würge mir Forumlierungen raus und dann sind es die ersten 3 Sätze. Versteht ihr? Das fand ich einfach lustig.

Aber sie sind auch stark, stimmt. :-)

Zum Klettern kann ich aus Nahstudien sagen, dass das durchaus auch schon im Kindergarten praktiziert wird, aber mit 10 Jahren in jedem Fall noch aktuell ist.
Auf dem Dachgiebel ist mein Sohn noch nicht rumspaziert (wisch-sich-den-Schweiß-von-der-Stirn), wir haben ein Flachdach, da ist es nicht ganz so adrenalinausstoßfördernd.


*g* Eine entsetzliche Vorstellung, was? Und danke, dass du das sagst, sie fangen früh an und klettern auch noch gern mit 10 oder auch länger.

Lieben Gruß
ELsa
Schreiben ist atmen

Sam

Beitragvon Sam » 07.06.2007, 08:12

Hallo liebe Elsa,

ja, die ersten drei Sätze - sind wirklich stark. Wie Gerda musste ich unwillkürlich an Das Parfüm denken, was aber der Originalität deines Anfanges keinen Abbruch tut. Auch die folgende Geschichte Pits, die du erzählst ist ebenso originell und amüsant.

Ich frage mich aber, warum stechen denn die ersten Sätze so heraus? Was fehlt dem Rest?
Jeder der Abschnitte deines Textes ist ja eine kurze Episode aus dem Leben Pits, jeder für sich ein Kurzkurztext. Momentaufnahmen, Bilder. Nun kann man so schreiben, dass beim Leser Bilder entstehen. Oder so, dass er nur betrachtet, Informationen aufnimmt, aber aussen vor bleibt. Beim ersten Absatz entsteht so ein Bild, unwillkürlich und nimmt den Leser gleich mit. Daran messen sich die nachfolgenden Absätze und kommen nicht hinterher, weil sie irgendwie statisch, rein beschreibend sind. Was im ersten Absatz vollkommen gelingt, gelingt beim Rest des Textes nur noch Ansatzweise.

Als Beispiel vielleicht einmal ein Abschnitt:
Pit überlebte seine Kindheit. Die Pubertät schien ihn von weiteren Flugversuchen abzulenken; er benahm sich wie alle seiner Altersgruppe, fuhr Skateboard, wenn auch auf den höchsten Rampen, und machte seine ersten sexuellen Erfahrungen.
„Er hat es überwunden!“ Die Eltern schöpften Mut.
Doch bei all dem vermisste Pit das besondere Gefühl, das ihm das Fliegen verschafft hatte. Er hatte nur den Eltern zuliebe damit aufgehört.

Der Anfang ist wirklich stark, nimmt wieder Geschwindigkeit auf. Doch ab "Die Eltern schöpften Mut" bremst es wieder und bleibt beim letzten Satz gänzlich stehen.
Ähnliches trifft auf viele weitere Absätze zu.
Ich hoffe, ich konnte mich ein wenig Verständlich machen *zweifel*

Wie dem auch sei, ich habe den Text gerne gelesen, finde die Idee wirklich gut, bin aber der Meinung, dass der Text noch weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.

Liebe Grüße

Sam

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 07.06.2007, 12:20

Lieber Sam,

Danke für deine Betrachtung des Textes! Das freut mich.

Ich frage mich aber, warum stechen denn die ersten Sätze so heraus? Was fehlt dem Rest?
Ich glaube, es fehlt genau das, was du in weiterer Folge anschneidest. Es sind Episoden und keine lineare Entwicklung. das liegt an der Kürze des Textes, es sind bloß Blitzlichter.
Ich muss mal in Pit "hineinkriechen" das Umfeld abtasten und eine richtige Geschichte bis Erzählung draus machen. Das fehlt hier alles noch.
Während der Anfang ein bombastischer Auftakt ist. Man erwartet dann Epik. Das vermute ich.

Daran messen sich die nachfolgenden Absätze und kommen nicht hinterher, weil sie irgendwie statisch, rein beschreibend sind. Was im ersten Absatz vollkommen gelingt, gelingt beim Rest des Textes nur noch Ansatzweise.
Du sagst es. Zu narrativ zu wenig Showing, zu wenig am Protag und seiner Gefühlswelt dran, weil mir der verd... AE hereingeraten ist. Ich muss den POV in den Griff kriegen. Aus welcher Perspektive erzähle ich? Muss mir erst klar werden darüber.

Ich hoffe, ich konnte mich ein wenig Verständlich machen *zweifel*
Wenn meine Antworten oben klar sind, dann hast du :-)

Wie dem auch sei, ich habe den Text gerne gelesen, finde die Idee wirklich gut, bin aber der Meinung, dass der Text noch weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.
Danke und stimmt.

Lieben Gruß
ELsa
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Beitragvon Elsa » 11.05.2010, 14:43

Hallo, lang hat es gedauert bis die neue Fassung geschrieben war. Ich möchte sie euch nicht vorenthalten:

Flugstunden

Nach seiner Sturzgeburt im Supermarkt war Pit fürs Leben geprägt. Hätte nicht die Angestellte der Gemüseabteilung eine Steige Salatherzen zwischen die Beine seiner Mutter geschoben, wäre er mit dem Kopf voran auf den Fliesen zerschellt.
Der Vater, der ums Eck an der Fleischtheke anstand, um Schnitzel für das Sonntagsessen auszusuchen, wurde durch das Kreischen einer Frau alarmiert, die danach über den Orangen ohnmächtig zusammenbrach. Inzwischen war seine Frau sanft auf den Boden gelagert worden, auf ihrem Bauch sein Sohn. Der Notarzt war schon unterwegs.

Pit war das lang ersehnte Kind, beim Stillen sagte die Mutter immer wieder erstaunt, „du bist kopfüber in die Welt gestürzt, so was.“
Der Vater meinte: „Der Junge wird sicher Großes tun im Leben – so eilig, wie er es hatte.“

Sobald Pit laufen konnte, kletterte er auf alles hinauf und verschaffte sich einen Überblick. Zuerst vom Gitterbett, später von Stühlen, danach kamen die Tische dran. Mit ausgestreckten Armen segelte er hinab. Mit vier eroberte er den Schrank im Kinderzimmer. „Mami“, rief er.
Sie schlug die Hand vor den Mund. Zitternd sagte sie: „Bleib oben, ich hole dich.“
„Nein!“ Er flog aus der Höhe von einem Meter achtzig in ihre Arme.
Der Vater schraubte Stuhl und Tisch am Boden des Kinderzimmers fest, damit Pit keine Klettertürme mehr bauen konnte.

Im Alter von zehn zwängte er sich durch die Dachluke und balancierte auf dem First. Seine Mutter jätete Unkraut, stolperte bei „Juhu, Mama!“ durch die Salatsetzlinge. Sie verharrte mit bleichem Gesicht und starrte ihren Jungen an, der sich am Wetterhahn festhielt.
„Pass auf, ich fliege jetzt!“
„Bitte nicht, Pit, ich flehe dich an!“
Doch er streckte wie gewohnt die Arme aus und stieß sich ab. Die Mutter fing ihn auf und brach sich drei Rippen.
„Er ist verrückt“, schluchzte sie leise, als Pit abends im Bett lag; jeder Atemzug verursachte ihr Schmerzen.
Der Vater kratzte sich im Nacken. „Ein schweres Los. Was können wir tun?“

Pit überlebte seine Kindheit. Die Pubertät schien ihn von weiteren Flugversuchen abzulenken; er benahm sich wie alle seiner Altersgenossen, fuhr Skateboard, wenn auch über die höchsten Rampen, und machte seine ersten sexuellen Erfahrungen.
„Er hat es überwunden!“ Die Eltern schöpften Mut, denn Pit sprang nirgends mehr hinunter. Ein einziges Mal nur konnte er einen Sturz spüren in dieser Zeit – er schluckte mit ein paar Freunden LSD, schwebte und fiel lange Stunden durch sein inneres Weltall. Er fragte die Mutter über die Umstände seiner Geburt aus, weil er immer wieder vage davon träumte. Sie wand sich und lächelte nur.

„Ich möchte Physik studieren mit Schwerpunkt Aerodynamik“, eröffnete er den Eltern nach dem Abitur, verschwieg allerdings, dass er Selbstversuche einplante. Er bewarb sich um einen Studienplatz an der Universität Innsbruck. Am Zug klopfte ihm der Vater auf den Rücken, „Mach’s gut, Pit“, und die Mutter weinte.
Sofort nach der Immatrikulation schrieb er sich in einen Kurs für Paragliding ein. Danach schaffte er sich von seinem Ersparten einen Gleitschirm an. An den Wochenenden kletterte Pit auf die Berge. Bald hatte er eine Steilwand gefunden, die eintausend Meter hochragte. Er biwakierte am Felsabsturz und wartete auf den morgendlichen Aufwind, der sich um sieben Uhr einstellte. Dann zog er den Schirm auf und rannte los. Mit einem Schrei warf er sich über die Wand, gewann an Höhe und sein Jubel schallte übers Tal.
„Ich fliege“, schrie er ein ums andere Mal. Nach zwei Stunden landete er in einem Kornfeld.
Am nächsten Wochenende kletterte er auf einen Zweitausender. Sein Herz klopfte wild, als er ganz weit unten das winzige Dorf ausnahm. Ein Steinadler segelte auf Augenhöhe vorbei.
„Du wirst gleich den Himmel mit mir teilen“, rief Pit. Der beginnende Morgenwind raubte ihm den Atem. Er rannte los, die Luftkammern des Schirms füllten sich und seine Sprünge berührten kaum mehr den Boden. Kurz vor der Kante hob er ab, rauschte darüber, schwebte höher und höher.
„Frei“, flüsterte er. Er sah auf die Almen hinunter. „Frei!“, schrie er.
Pit legte sich in die Kurve, immer steiler und wirbelte in einer Spirale hinab, tiefer und tiefer. Als er auf der Höhe von dreihundert Metern den Schirm stabilisieren wollte, schoss ein Schatten auf ihn zu und im nächsten Moment blickten ihn Raubvogelaugen an. Pit riss an den Steuerleinen, verlor die Strömung und der Schirm klappte zusammen. Über ihm stieß der Adler einen Pfiff aus. Pit raste abwärts. Und auf einmal blitzen innere Bilder auf, die er nicht einordnen konnte. Grelles elektrisches Licht, Blut, das von seinem Kopf tropfte – er war ein Baby und hing bis zum Hals senkrecht aus einer Öffnung, die seinen Körper saugend festhielt.

Als er zu sich kam, spürte Pit den Schlauch in seiner Kehle, hörte ein rhythmisches Atmen neben sich. Er öffnete die Augen, Neonlicht blendete ihn. Der Wunsch, sich mit seinem Schmerz zu verkriechen, am besten in einer tiefen Höhle, in warmer, weicher Dunkelheit, schwappte über ihm zusammen. Er benötigte einen Moment, um sich davor zu schützen. Erst musste er doch wissen, wo er war, was mit ihm passierte. Pit blickte herum. Die Geräusche kamen von einer Art Blasebalg. Fiel er in sich zusammen, blähte sich Pits Brustkorb, breitete er sich aus, sank die Brust. Da waren noch viel mehr Schläuche und Kabel. Seine Überlegungen führten nirgendwohin, die Atemmaschine zwang ihm ihren Rhythmus auf und plötzlich rauschte ein aufgeregter Typ in weißem Mantel herein.
Dass er sich in einer Klinik aufhielt, hatte Pit mittlerweile verstanden, aber sonst nichts.
Der Arzt sah aus wie ein Grubenarbeiter mit seiner Stirnlampe. Er setzte sie in Betrieb, zog Pits Augenlider auseinander und leuchtete ihm in die Pupillen. „Alles bestens“, sagte er abschließend, „willkommen zurück in der Welt!“
Aber was für eine Welt war das nur, fragte sich Pit. Er schwieg, wollte nur zurück ins Dunkel.

Ein Ehepaar besuchte ihn und behauptete, seine Eltern zu sein. Wenigstens wusste er aus Erzählungen, dass er drei Monate in ein künstliches Koma verbannt worden war, damit ein komplizierter Schädelbruch heilen konnte.
Nach einem Reha-Aufenthalt, der jedoch sein Gedächtnis auch nicht wieder brachte, baten die Eltern ihn, heimzukommen. Pit wagte einen ersten Besuch. Er sichtete das Zimmer seiner Kindheit und Jugend, alle Gegenstände schienen ihm fremd, geradezu unheimlich. Viel zu hell und blankgeputzt waren die Räume, in denen er angeblich aufgewachsen war. Am Liebsten lag er unter seinem Bett. Er zog die Zierdecke bis zum Boden herab, dann war es wohlig dunkel dort. Sein Studium, seine Ambitionen, höher und höher zu steigen, seine Begeisterung fürs Herabsegeln, alles war ausgelöscht. Die Geschichten darüber waren rätselhaft und bedrohlich. Bei dem kleinsten Gedanken daran begann die Narbe auf seiner Schädeldecke wie verrückt zu jucken.
Er spazierte durch die Wälder der Umgebung, wartete darauf, sein bisheriges Leben wiederzubekommen und studierte derweil Ameisenhügel, Maulwurfsstollen, das Unterirdische. Er meldete sich zu einem Höhlengang an. Mit der Zeit bezwang Pit immer größere und vor allem tiefere Grotten und Höhlen. Es artete zu einer Sucht aus. Das hohle Tropfen von den Wänden, der Hall, den ein Seufzer Pits erzeugte, die Dunkelheit beglückten ihn.
Eines Tages, er kroch schon lange verbotenerweise ganz ohne Führung durch die Unterwelt, endete der Gang vor einem Abgrund. Pit schätzte die Tiefe auf einhundert Meter. Etwas in ihm wollte die Arme ausbreiten und abwärts schweben. Mit aller Willenskraft stemmte er sich dagegen und umklammerte den Tropfstein neben sich. Er presste die Lider zusammen, hoffte, wenn er nicht mehr hinsähe, würde das Gefühl abklingen, sich dort hinabwerfen zu wollen. Er schrie erstmals nach dem Erwachen aus dem Koma, der Schrei vervielfachte sich, schlug von den Wänden zurück, schraubte sich in Pits Gehörgang. Dazu zeigte ihm sein Gehirn Bilder eines Adlers, der durchs Blau segelte, ihn selbst, wie er pfeilschnell auf einen Wald zuschoss.
Er zitterte, die Beine knickten ihm weg und er sank an dem Fels zu Boden.

Als Pit danach in das Haus seiner Eltern zurückkehrte, sagte er: „Mama, Papa, wisst ihr was? Ich bin als Flieger geboren! Vielleicht sollte ich zur Raumfahrt gehen?“
Er zuckte zusammen, weil die Mutter einen spitzen Schrei ausstieß.
„Du willst zum Mond fliegen, oh nein!“
Er stand im Sonnenlicht, streckte die Arme dem Himmel entgegen und lachte. „Weiter, Mama, viel weiter.“
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