The Show's Left Town

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Rala

Beitragvon Rala » 27.03.2007, 21:06

The Show’s Left Town (Versuch einer Variation)
Eine Straße, als habe jemand die Anfangsszene von The Last Picture Show schlampig nachcoloriert. Betty scheint es nicht aufzufallen. Sie sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz, Füße in ausgewaschenen Tennissocken auf dem Armaturenbrett. Leere Getränkedosen vor ihrem Sitz auf dem Boden, Stone Temple Pilots im Kassettenrekorder, Zigarettenkippen im offenen Aschenbecher.
Sie ist nicht Cybil Sheperd, ich bin nicht Jeff Bridges. Gerade hat uns eine Turbohummel überholt und fliegt jetzt im Zickzack vor uns her. Die Motorhaube ist schmutzig. Auf der Windschutzscheibe kleben schwärmeweise kleine tote Mücken, platt.
„Wie lange noch?“ Es wird langsam dämmrig.
„Mir egal. Wenn du willst, können wir uns hier was suchen.“
„Okay.“
Wir gehen essen. Das Lokal ist einfach, aber gut. Die Wände hellblau, der Boden ein weiß-blaues Schachbrettmuster. Die Frau ist nicht Eileen Brennan, aber ihre Cheeseburger sind trotzdem sehr gut. Bettys Augen sind so furchtbar grün. Ein toller Kontrast zu Ketchup. Die Fliege auf der Wachstuchdecke. Gierig. Wie der Typ am Nebentisch. Er guckt auch gierig. Als würde auch er gleich seinen Rüssel ausfahren. Es ist keine Nahrung, die er begehrt. Er ist nicht die Fliege. Er will Betty. Er wird sie nicht kriegen. Sie hat ihn bemerkt. Sieh nicht hin, Schatz, ignorier ihn einfach. Denk dran, du bist mit mir zusammen. Das ist nicht Timothy Bottoms und du bist nicht Cybil Sheperd. Nein, verdammt, du gehörst mir! Er wird dich nicht kriegen!
Ich habe es geahnt, eines Tages wird sie sich einbilden, es könnte mit einem anderen Mann schöner sein als mit mir. Dass sie sich irgendwann fragen wird, warum sie sich ausgerechnet mit einem wie mir abgibt, wenn sie doch jeden anderen haben kann. Ich werde ihr die Antwort geben. Plötzlich ist nicht mehr nur das Ketchup rot.
„Wo kann man hier ein Zimmer bekommen?“
Die Frau, die nicht Eileen Brennan ist, sammelt unser Geschirr ein.
„Wenn ihr die Hauptstraße noch 'n bisschen langfahrt und dann die zweite rechts nehmt, kommt ihr zu Babs. Sie hat 'n großes Schild draußen hängen, ist nicht zu übersehen. – 8,50.“
„Der Rest ist für Sie. Und danke.“
„Schon gut.“
Er sieht uns nach. Er sieht ihr nach. Seine Gesichtszüge haben etwas Kakerlakenartiges. Time to take her home. Betty, wage nicht, dich umzudrehen. Oh nein! Du hast es getan. Und du hast dabei gelächelt. Das war nicht sehr gut. Es war ein großer Fehler. Aber du wirst lernen. Ganz sicher. Es ist dunkel draußen. Schritte. Er wagt es tatsächlich.
„Wartet mal. Ich habe gehört, ihr braucht ein Zimmer. Für länger oder nur für eine Nacht?“
„Was geht dich das an?“
„Sei doch nicht so batzig, Chaz. – Vorerst mal für eine Nacht.“
„Ihr könnt mit zu mir kommen. Meine Alten sind 'n paar Tage weg. Bei mir könnt ihr kostenlos pennen.“
„Danke, aber das können wir nicht annehmen.“
„Denk doch mal nach, Chaz. So viel Geld haben wir nun auch wieder nicht. Ich bin dafür, dass wir sein Angebot annehmen.“
„Scheint ja nicht besonders gut drauf zu sein, dein Freund. Übrigens, ich heiße Scott.“
„Ich bin Betty, und das ist Chaz. Das mit seiner Laune wird schon vorbeigehen. Hat er öfter.“
Wie sie über mich reden. Wie damals in der Schule. So, als sei ich unfähig, mich selbst auszudrücken. Als sei ich bescheuert. Nicht zurechnungsfähig.
Ich dachte, das sei alles Vergangenheit. Ich hatte Betty und Träume. Ich war glücklich. Und jetzt kommt Scott.
„Also, okay, fahrt einfach hinter mir her.“
„Hab ich ja gesagt?“
„Ach komm schon, sei nicht immer so krampfig.“
Na gut. Wenn sie meint. Sie wird schon sehen. Sie hockt ganz anders neben mir als vorher, so verdammt vergnügt und erwartungsvoll. Ihre Augen sehen noch eine Spur grüner aus. Wo fährt der denn hin mit seiner Schrottkiste? Wohnt wohl am Arsch der Welt. Wundert mich nicht. Ist aber 'ne tolle Hütte. Naja. Ziemlich protzig irgendwie. Müssen nicht grad arm sein, dem seine Eltern. Noch was, was ich nicht hab. Na, soll ich dich hier absetzen und gleich weiterfahren?
„He, sieht doch toll aus, oder? Wer weiß, wie's bei dieser Babs gewesen wäre.“
Freu dich nicht zu früh. Ich riech's schon von Weitem: hier gibt's Kakerlaken. Vor allem zweibeinige.
„Okay, bitte einzutreten. Herzlich willkommen in der Granger-Villa.“
Mein Gott, jetzt spiel dich doch nicht so auf. Ist sowieso nicht mehr nötig. Du hast sie bereits am Haken.
„Also, hier ist das Wohnzimmer, da die Küche und dort drüben das Gästezimmer mit Bad. Ihr könnt es gleich nehmen, die Betten sind frisch bezogen.“
„Nicht schlecht. Und wie kommen wir zu der Ehre, das alles gratis genießen zu dürfen?“
„Tja, ich bin halt einfach ein so extrem wohltätiger Mensch ...“
Dummschwätzer.
„Wenn ihr Lust habt, können wir ja noch 'n Bierchen zusammen trinken.“
Betty hat Lust. Natürlich hat sie. Hoffentlich stört es sie nicht, wenn ich die ganze Zeit neben ihr sitze. Das wäre mir wirklich unangenehm. Aber ich muss wenigstens nichts sagen. Das übernehmen die beiden ganz allein. Schön, wenn zwei fremde Menschen einander so viel zu erzählen haben. Diese Sofakissen machen mich krank. Wasserränder von den Bierdosen auf dem schönen Couchtisch. Mama Granger wird heulen, wenn sie das sieht. Ich hab noch nie eine Uhr so laut ticken gehört. Und ich habe noch nie eine Tapete mit einem derart geschmacklosen Blümchenmuster gesehen. Vier kackbraune Blütenblätter umringen ein pissgelbes Loch. Und das allein an einer Wand dreitausenddreihundertsechzigmal. Achtzig senkrechte Reihen à zweiundvierzig Blüten. Unerträglich.
„Chaz? He, schläfst du schon? Ich geh jetzt ins Bett, kommst du?“
Aha, ins Bett darf ich noch mit. Haben die beiden grad 'n flotten Dreier geplant? Sieht glücklicherweise nicht so aus, mindestens einem von uns würde sonst schlecht werden. Ihre Wärmflasche trottelt brav hinter ihr her. Wohlerzogen. Wie lange wohl noch?
Ich kann nicht schlafen. Und ich bin sicher, Betty schläft auch nicht. Ich höre es an ihrem Atem. Es muss mindestens zwei Uhr sein. In dem Kuhkaff herrscht Totenstille. Ich wette, man könnte hier 'ne Bombe fallen lassen und der Knall würde von der Stille restlos verschluckt.
Ich muss wohl doch eingeschlafen sein. Betty? Verdammt, sie hat sich doch tatsächlich weggeschlichen. Wahrscheinlich hat sie nur darauf gewartet, dass ich einpenne. Da kommt sie ja wieder. Sie tut so, als sei sie total verschlafen.
„Wo warst du?“
„Kontrollierst du mich jetzt auch nachts? Aber wenn es dich beruhigt: ich hab mir nur ein Glas Wasser geholt. Hier, siehst du?“
Gutes Alibi. Wirklich, umwerfend gut, Kleines. Aber mich kannst du nicht so leicht reinlegen. Das solltest du dir langsam merken. Hoffentlich hast du dir sonst nichts geholt. Du weißt ja, hier gibts Ungeziefer.
„Also, meinetwegen kannst du mich ja jetzt die ganze Nacht über bewachen. Ich werde jedenfalls schlafen.“
Wenn ich nur wüsste, wie lange sie weg war. Keine Ahnung. Sie scheint tatsächlich schon wieder eingeschlafen zu sein. Ich höre es an ihrem Atem. Sie kann sich nicht gut verstellen. Diesmal bescheißt sie mich ausnahmsweise nicht. Meine Nachtruhe ist jedenfalls dahin. Ich glaube, jetzt geh ICH mir mal ein Glas von diesem sagenhaften Wasser hier holen. Scheiße, ist das dunkel. Hier sparen sie offenbar sogar am Mond. Es ist, als würde man mit jedem Schritt gleich gegen eine Wand knallen. Und der Fußboden knarrt. Hoffentlich wacht sie nicht wieder auf. Wo war noch mal die Küche? Da vorne glaub ich. Ja, das muss sie sein. Eiskalte Steinfliesen. Und verdammt grelles Licht. Und Scott.
„Ach, du bist es. Hallo.“ Er klingt überrascht. Und enttäuscht.
Kein Wunder.
„Hast wohl Betty noch mal erwartet, was?“
„Red keinen Unsinn.“ Seine Augen sagen was anderes. Sie sagen ja.
Ich werde sie zum Schweigen bringen.
„He, verdammt, leg das Messer weg!“
Ach, sieh an, er kriegt Panik. Der tolle große Scottie hat Angst vor dem kleinen hässlichen Chaz. Pech gehabt.
„Mach keinen Scheiß, verdammt!“ Nicht so laut, du machst mir noch mein Mädchen wach. In die Ecke gedrängt wie ein Karnickel. Hast eh keine Chance mehr. He, geht ganz leicht. Muss wohl eins von diesen tollen neuen Messern aus Chirurgenstahl sein. Für Scottie-Baby nur das Beste. Allerdings wird diese Operation garantiert tödlich verlaufen. Er ist nicht Timothy Bottoms, ich bin nicht Jeff Bridges. Wir sind keine Freunde. Ich werde ihn nicht nur verletzen. Ich werde ihn töten. Seine Versuche, mich abzuwehren, mir irgendwie das Messer aus der Hand zu nehmen, sind kläglich. Muttersöhnchen. Gib’s auf. Wenigstens jetzt bin ich dir überlegen. Er fühlt sich fast ein bisschen matschig an. Ich habe immer gedacht, Menschenfleisch sei fester. Vor allem in dem Alter. Scheiße. Ich bringe tatsächlich jemanden um. Warum bin ich so cool dabei? Ich habe immer gedacht, es müsste mehr Überwindung kosten. Wenn er nur nicht so schreien würde. Er liegt schon auf dem Boden und hört immer noch nicht auf. Das ist ja schon nicht mehr menschlich Fuck, jetzt ist Betty auch noch da.
„Kreisch nicht so hysterisch rum, verdammt!“
„Hör auf, du bringst ihn um, bist du wahnsinnig!“
„Komm mir bloß nicht zu nahe!“
Wie oft habe ich jetzt schon zugestochen? Er müsste längst tot sein. Seine seltsamen Zuckungen haben aufgehört, aber er röchelt immer noch. Wenn Betty nicht gleich still ist, wird das ganze Dorf hier zusammenlaufen. Rote Flüssigkeiten bilden nicht nur zu Bettys Augen einen tollen Kontrast. Mama Granger wird ausflippen, wenn sie die Sauerei hier sieht. Endlich, er ... ist tot. Er ist wirklich tot. Ich glaubs nicht. Ich habe tatsächlich einen Menschen ermordet. Und ich fühle nichts. Gar nichts. Keine Schuld. Keine Reue. Keine Befriedigung. Und jetzt? Bestimmt hat uns jemand gehört. Was macht man nach einem Mord? Die Spuren verwischen und wegrennen? Wozu? Jetzt sitz ich blöd rum, neben einer ziemlich kaputten Leiche – Jesus, hab ich wirklich so rumgewütet? – mit der Tatwaffe in der Hand, Betty hockt in einer Ecke, die Hände vor ihren grünen Augen, und heult hysterisch. Und das ganze Blut ... dass so viel Blut in einen ... Moment mal. Verdammt, das sieht aus wie Ketchup. Ich glaub ich dreh jetzt total durch. Betty auch. Ihre Augen sind nicht nur grün, sie sind mittlerweile neong... Natürlich, und Scott erhebt sich wieder, als Zombie. Und greift nach dem Messer und mich an. Und das soll ich glauben? Scheiße, Peter, ich bin im falschen Film! Das ist echt nicht witzig. Wo bist du jetzt? HILF MI...




The Show’s Left Town (OV)
Eine Straße, als habe jemand die Anfangsszene von The Last Picture Show schlampig nachcoloriert. Betty scheint es nicht aufzufallen. Sie sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz, Füße in ausgewaschenen Tennissocken auf dem Armaturenbrett. Leere Getränkedosen vor ihrem Sitz auf dem Boden, Stone Temple Pilots im Kassettenrekorder, Zigarettenkippen im offenen Aschenbecher.
Sie ist nicht Cybil Sheperd, ich bin nicht Jeff Bridges. Gerade hat uns eine Turbohummel überholt und fliegt jetzt im Zickzack vor uns her. Die Motorhaube ist schmutzig. Auf der Windschutzscheibe kleben schwärmeweise kleine tote Mücken, platt.
„Wie lange noch?“ Es wird langsam dämmrig.
„Mir egal. Wenn du willst, können wir uns hier was suchen.“
„Okay.“
Wir gehen essen. Das Lokal ist einfach, aber gut. Die Wände hellblau, der Boden ein weiß-blaues Schachbrettmuster. Die Frau ist nicht Eileen Brennan, aber ihre Cheeseburger sind trotzdem sehr gut. Bettys Augen sind so furchtbar grün. Ein toller Kontrast zu Ketchup. Die Fliege auf der Wachstuchdecke. Gierig. Wie der Typ am Nebentisch. Er guckt auch gierig. Als würde auch er gleich seinen Rüssel ausfahren. Es ist keine Nahrung, die er begehrt. Er ist nicht die Fliege. Er will Betty. Er wird sie nicht kriegen. Sie hat ihn bemerkt. Sieh nicht hin, Schatz, ignorier ihn einfach. Denk dran, du bist mit mir zusammen. Das ist nicht Timothy Bottoms und du bist nicht Cybil Sheperd. Nein, verdammt, du gehörst mir! Er wird dich nicht kriegen!
Ich habe es geahnt, eines Tages wird sie sich einbilden, es könnte mit einem anderen Mann schöner sein als mit mir. Dass sie sich irgendwann fragen wird, warum sie sich ausgerechnet mit einem wie mir abgibt, wenn sie doch jeden anderen haben kann. Ich werde ihr die Antwort geben. Plötzlich ist nicht mehr nur das Ketchup rot.
„Wo kann man hier ein Zimmer bekommen?“
Die Frau, die nicht Eileen Brennan ist, sammelt unser Geschirr ein.
„Wenn ihr die Hauptstraße noch 'n bisschen langfahrt und dann die zweite rechts nehmt, kommt ihr zu Babs. Sie hat 'n großes Schild draußen hängen, ist nicht zu übersehen. – 8,50.“
„Der Rest ist für Sie. Und danke.“
„Schon gut.“
Er sieht uns nach. Er sieht ihr nach. Seine Gesichtszüge haben etwas Kakerlakenartiges. Time to take her home. Betty, wage nicht, dich umzudrehen. Oh nein! Du hast es getan. Und du hast dabei gelächelt. Das war nicht sehr gut. Es war ein großer Fehler. Aber du wirst lernen. Ganz sicher. Es ist dunkel draußen. Schritte. Er wagt es tatsächlich.
„Wartet mal. Ich habe gehört, ihr braucht ein Zimmer. Für länger oder nur für eine Nacht?“
„Was geht dich das an?“
„Sei doch nicht so batzig, Chaz. – Vorerst mal für eine Nacht.“
„Ihr könnt mit zu mir kommen. Meine Alten sind 'n paar Tage weg. Bei mir könnt ihr kostenlos pennen.“
„Danke, aber das können wir nicht annehmen.“
„Denk doch mal nach, Chaz. So viel Geld haben wir nun auch wieder nicht. Ich bin dafür, dass wir sein Angebot annehmen.“
„Scheint ja nicht besonders gut drauf zu sein, dein Freund. Übrigens, ich heiße Scott.“
„Ich bin Betty, und das ist Chaz. Das mit seiner Laune wird schon vorbeigehen. Hat er öfter.“
Wie sie über mich reden. Wie damals in der Schule. So, als sei ich unfähig, mich selbst auszudrücken. Als sei ich bescheuert. Nicht zurechnungsfähig.
‚He, was ist denn das für einer?‘
‚Ach, irgendso 'n Bekloppter.‘
‚Kann der überhaupt normal reden?‘
‚He, Spacko, lass deine Finger von unseren Mädchen! Am Schluss steckst du sie noch an mit deiner Hackfresse!‘
‚Der hat bestimmt zuviel gewichst!‘
‚Kinder, lasst ihn doch in Ruhe! Nur, weil er anders aussieht als ihr, ist er doch nicht blöd!‘
‚Das mit seiner Laune geht schon wieder vorbei. Hat er öfter.‘
‚Kuck mal, der Liebling von Frau Lehrerin!‘
‚Hosenschisser!‘
SCHEISSE! Kann mal jemand die Stimmen in meinem Kopf abstellen?
Ich dachte, das sei alles Vergangenheit. Ich hatte Betty und Träume. Ich war glücklich. Und jetzt kommt Scott.
„Also, okay, fahrt einfach hinter mir her.“
„Hab ich ja gesagt?“
„Ach komm schon, sei nicht immer so krampfig.“
Na gut. Wenn sie meint. Sie wird schon sehen. Sie hockt ganz anders neben mir als vorher, so verdammt vergnügt und erwartungsvoll. Ihre Augen sehen noch eine Spur grüner aus. Wo fährt der denn hin mit seiner Schrottkiste? Wohnt wohl am Arsch der Welt. Wundert mich nicht. Ist aber 'ne tolle Hütte. Naja. Ziemlich protzig irgendwie. Müssen nicht grad arm sein, dem seine Eltern. Noch was, was ich nicht hab. Na, soll ich dich hier absetzen und gleich weiterfahren?
„He, sieht doch toll aus, oder? Wer weiß, wie's bei dieser Babs gewesen wäre.“
Freu dich nicht zu früh. Ich riech's schon von Weitem: hier gibt's Kakerlaken. Vor allem zweibeinige.
„Okay, bitte einzutreten. Herzlich willkommen in der Granger-Villa.“
Mein Gott, jetzt spiel dich doch nicht so auf. Ist sowieso nicht mehr nötig. Du hast sie bereits am Haken.
„Also, hier ist das Wohnzimmer, da die Küche und dort drüben das Gästezimmer mit Bad. Ihr könnt es gleich nehmen, die Betten sind frisch bezogen.“
„Nicht schlecht. Und wie kommen wir zu der Ehre, das alles gratis genießen zu dürfen?“
„Tja, ich bin halt einfach ein so extrem wohltätiger Mensch ...“
Dummschwätzer.
„Wenn ihr Lust habt, können wir ja noch 'n Bierchen zusammen trinken.“
Betty hat Lust. Natürlich hat sie. Hoffentlich stört es sie nicht, wenn ich die ganze Zeit neben ihr sitze. Das wäre mir wirklich unangenehm. Aber ich muss wenigstens nichts sagen. Das übernehmen die beiden ganz allein. Schön, wenn zwei fremde Menschen einander so viel zu erzählen haben. Diese Sofakissen machen mich krank. Wasserränder von den Bierdosen auf dem schönen Couchtisch. Mama Granger wird heulen, wenn sie das sieht. Ich hab noch nie eine Uhr so laut ticken gehört. Und ich habe noch nie eine Tapete mit einem derart geschmacklosen Blümchenmuster gesehen. Vier kackbraune Blütenblätter umringen ein pissgelbes Loch. Und das allein an einer Wand dreitausenddreihundertsechzigmal. Achtzig senkrechte Reihen à zweiundvierzig Blüten. Unerträglich.
„Chaz? He, schläfst du schon? Ich geh jetzt ins Bett, kommst du?“
Aha, ins Bett darf ich noch mit. Haben die beiden grad 'n flotten Dreier geplant? Sieht glücklicherweise nicht so aus, mindestens einem von uns würde sonst schlecht werden. Ihre Wärmflasche trottelt brav hinter ihr her. Wohlerzogen. Wie lange wohl noch?
Ich kann nicht schlafen. Und ich bin sicher, Betty schläft auch nicht. Ich höre es an ihrem Atem. Es muss mindestens zwei Uhr sein. In dem Kuhkaff herrscht Totenstille. Ich wette, man könnte hier 'ne Bombe fallen lassen und der Knall würde von der Stille restlos verschluckt.
Ich muss wohl doch eingeschlafen sein. Betty? Verdammt, sie hat sich doch tatsächlich weggeschlichen. Wahrscheinlich hat sie nur darauf gewartet, dass ich einpenne. Da kommt sie ja wieder. Sie tut so, als sei sie total verschlafen.
„Wo warst du?“
„Kontrollierst du mich jetzt auch nachts? Aber wenn es dich beruhigt: ich hab mir nur ein Glas Wasser geholt. Hier, siehst du?“
Gutes Alibi. Wirklich, umwerfend gut, Kleines. Aber mich kannst du nicht so leicht reinlegen. Das solltest du dir langsam merken. Hoffentlich hast du dir sonst nichts geholt. Du weißt ja, hier gibts Ungeziefer.
„Also, meinetwegen kannst du mich ja jetzt die ganze Nacht über bewachen. Ich werde jedenfalls schlafen.“
Wenn ich nur wüsste, wie lange sie weg war. Keine Ahnung. Sie scheint tatsächlich schon wieder eingeschlafen zu sein. Ich höre es an ihrem Atem. Sie kann sich nicht gut verstellen. Diesmal bescheißt sie mich ausnahmsweise nicht. Meine Nachtruhe ist jedenfalls dahin. Ich glaube, jetzt geh ICH mir mal ein Glas von diesem sagenhaften Wasser hier holen. Scheiße, ist das dunkel. Hier sparen sie offenbar sogar am Mond. Es ist, als würde man mit jedem Schritt gleich gegen eine Wand knallen. Und der Fußboden knarrt. Hoffentlich wacht sie nicht wieder auf. Wo war nochmal die Küche? Da vorne glaub ich. Ja, das muss sie sein. Eiskalte Steinfliesen. Und verdammt grelles Licht. Und Scott.
„Ach, du bist es. Hallo.“ Er klingt überrascht. Und enttäuscht.
Kein Wunder.
„Hast wohl Betty noch mal erwartet, was?“
„Red keinen Unsinn.“ Seine Augen sagen was anderes. Sie sagen ja.
Ich werde sie zum Schweigen bringen.
„He, verdammt, leg das Messer weg!“
Ach, sieh an, er kriegt Panik. Der tolle große Scottie hat Angst vor dem kleinen hässlichen Chaz. Pech gehabt.
„Mach keinen Scheiß, verdammt!“ Nicht so laut, du machst mir noch mein Mädchen wach. In die Ecke gedrängt wie ein Karnickel. Hast eh keine Chance mehr. He, geht ganz leicht. Muss wohl eins von diesen tollen neuen Messern aus Chirurgenstahl sein. Für Scottie-Baby nur das Beste. Allerdings wird diese Operation garantiert tödlich verlaufen. Er ist nicht Timothy Bottoms, ich bin nicht Jeff Bridges. Wir sind keine Freunde. Ich werde ihn nicht nur verletzen. Ich werde ihn töten. Seine Versuche, mich abzuwehren, mir irgendwie das Messer aus der Hand zu nehmen, sind kläglich. Muttersöhnchen. Gib’s auf. Wenigstens jetzt bin ich dir überlegen. Scheiße. Ich bringe tatsächlich jemanden um. Warum bin ich so cool dabei? Ich habe immer gedacht, es müsste mehr Überwindung kosten. Wenn er nur nicht so schreien würde. Er liegt schon auf dem Boden und hört immer noch nicht auf. Fuck, jetzt ist Betty auch noch da.
„Kreisch nicht so hysterisch rum, verdammt!“
„Hör auf, du bringst ihn um, bist du wahnsinnig!“
„Komm mir bloß nicht zu nahe!“
Wie oft habe ich jetzt schon zugestochen? Er müsste längst tot sein. Seine seltsamen Zuckungen haben aufgehört, aber er röchelt immer noch. Wenn Betty nicht gleich still ist, wird das ganze Dorf hier zusammenlaufen. Rote Flüssigkeiten bilden nicht nur zu Bettys Augen einen tollen Kontrast. Mama Granger wird ausflippen, wenn sie die Sauerei hier sieht. Endlich, er ... ist tot. Er ist wirklich tot. Ich glaubs nicht. Ich habe tatsächlich einen Menschen ermordet. Und ich fühle nichts. Gar nichts. Keine Schuld. Keine Reue. Keine Befriedigung. Und jetzt? Bestimmt hat uns jemand gehört. Was macht man nach einem Mord? Die Spuren verwischen und wegrennen? Wozu? Jetzt sitz ich blöd rum, neben einer ziemlich kaputten Leiche – Jesus, hab ich wirklich so rumgewütet? – mit der Tatwaffe in der Hand, Betty hockt in einer Ecke, die Hände vor ihren grünen Augen, und heult hysterisch. Scheiße, Peter, das war nicht geplant! Wo bist du jetzt? HILF MIR!
Zuletzt geändert von Rala am 18.06.2007, 22:34, insgesamt 1-mal geändert.

Klara
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Beitragvon Klara » 27.03.2007, 22:32

Hallo Rala,
gut geschrieben.
Spannend.
Man flutscht so mit.
Auch wenn man (wie ich) den Film nicht kennt, der als Folie dient - ist egal, glaube ich.
Vielleicht ahnt man ein bisschen zu früh, dass er eine böse Macke hat. Dass es böse enden wird. Vielleicht kommt das Morden ein klitzekleines Bisschen zu wenig überraschend. Aber das sind Feinheiten.
Vielleicht ist es ein bisschen horrorpsychopathenkonventionell - und wäre noch hübscher, wenn es gar keinen Mord gäbe - oder einen anderen: den AM Erzähler durch den Konkurrenten? Kommt drauf an, was du damit machen willst. Wenn du ein B-Movie-Drehbuch damit vorhast, geht es wahrscheinlich so durch ,-)

lg
Klara

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 03.04.2007, 13:08

Liebe Rala,

weiß gar nicht, wann du wiederkommst, also habe ich ein bisschen gewartet...

hat auch bei mir geflutscht, um es mit Klara zu sagen ;-). Allerdings ist der Typ natürlich von Anfang an gleich krank, das heißt, ich kann auch ihren Vorschlag für ein anderes Ende verstehen. Allerdings finde ich bei aller "klassischen Bearbeitung dieses Themas" dass dein Stil wirklich gut ist, unterstützt das ganze prima, und das ganze ist bei allem Blut auch nicht ohne Humor (die Tapetenbeobachtungen und die entsetzte mama etc.). Es wäre allerdings besonders skurril, wenn der andere Typ auch so ein kranker wäre und die beiden sich duellieren, wer nun wen umbringt. Oder Betty dreht durch, oder alle drei, :-). Was meinst du? Ich finde, der Stil würde es bringen.

Ich wäre gespannt auf die den Bezug zum oben genannten Film, den ich zwar gegoogelt habe, der mir aber eben kein Psychopathenfilm zu sein scheint? Die Inhaltsangaben zeigen ähnliche Konstellationen, aber wohl weniger heftige Handlung?

Ob ich es als angenehm oder unangenehm empfinden soll, dass im gesamten Text nicht versucht wird, das Verhalten von Chaz zu erklären, sondern nur mit Standardbezügen (Diskrimierung Kindheit etc.) gearbeitet wird, weiß ich nicht. Gefallen tut mir das, weil es so ein Vorhaben meist misslingen würde und unecht wirken würde, nicht gefallen tut mir daran, dass es dadurch natürlich nur um Unterhalten geht, was ich selten genieße - bei so blutigen Themen dann nochmal (reine Geschmacksfrage) wie vielleicht auch das, was ich zum Beispiel an Tarantino-Filmen kenne - durchaus stilvoll, künstlerisch ausgereift, witzig, aber...letzlich doch nicht meien Wahl.

Vielleicht kannst du es ja nutzen, dann deine Geshcichte im grunde am Ende noch nicht zuende zu sein scheint und sie noch fortführen mit einem Bruch oder einer interessanten Wende? Wenn die Geschichte aber nur pure, gute Unterhaltung sein soll, würde ich das jetzige Ende variieren.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Rala

Beitragvon Rala » 08.05.2007, 16:07

Hallo,

und danke erst mal. Der Bezug zum Film besteht darin, dass der Erzähler sich durch äußere Ähnlichkeiten ständig in ihn hineinversetzt fühlt, andereseits aber immer wieder betont, dass es trotzdem nicht dieser Film ist, sondern sein ganz persönlicher, dass er darin also auch anders handeln darf, kann und vielleicht auch muss, als die Filmfiguren. Natürlich geht es in "The Last Picture Show" nicht um Psychopathen und Mord, aber um starke Gefühle und immerhin schwere Körperverletzung. Aber da Chaz' Story sich unabhängig davon entwickelt, endet sie, auch von ihm unerwartet, mit Mord, und an diesem Punkt plötzlich wünscht er sich, ganz im Gegensatz zu all dem, was er vorher gesagt hat, es sei doch nur der Film und Peter (Bogdanovich, der Regisseur) sei da, um ihn irgendwie zu retten.
Ihr habt Recht, das Ganze ist natürlich sehr voraussehbar ... werde mal über den Vorschlag mit einem anderen Ende nachdenken ... wenn ich wieder Zeit habe (s. meine Rückmeldung am Blauen Brett) ...

Liebe Grüße,
Rala

Nifl
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Beitragvon Nifl » 21.05.2007, 20:30

Hallo Rala,

habe gerade noch mal die Geschichte gelesen und bin immer noch begeistert. Besonders beeindruckt mich die sprachliche Authentizität, die Treffsicherheit mit der du das Milieu skizzierst. Toll. Eigentlich gibt es nichts zu nifln. Vielleicht hätte ich mir den Ausflug in seine Kindheit erspart. Das macht mir sein Profil zu deutlich, nimmt etwas Spannung raus.

Den Film kenne ich übrigens auch nicht, was mich aber überhaupt nicht stört, weil ich die Figuren trotzdem kenne (zB. die Bedienung… köstlich)

LG
Nifl.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Max Dernet

Beitragvon Max Dernet » 22.05.2007, 10:23

"Hier sparen sie offenbar sogar am Mond."

sauber geschrieben, kein falscher ton und schöne sätze wie der obige, gefällt mir trotz der thematik


max

Rala

Beitragvon Rala » 29.05.2007, 21:58

Hallo Nifl, hallo Max,

habe endlich mal wieder Zeit gefunden, hier vorbeizuschauen, und dann gelich zweimal Lob. Das freut mich außerordentlich. Ist auch eine meiner persönlichen Lieblingsgeschichten. Werde sie aber trotzdem wahrscheinlich noch einmal ein klitzekleines bisschen überarbeiten, denn 100%ig ist sie immer noch nicht.
Danke Euch beiden fürs Lesen!

Liebe Grüße,
Rala

Charly

Beitragvon Charly » 30.05.2007, 17:08

Hier ist noch ein dickes Lob!
Tolle Geschichte.

Hab auch nur eine einzige Stelle gefunden, die mir nicht verständlich war:

Rala hat geschrieben:mit der Tatwaffe in der Hand, Betty hockt in einer Ecke, die Hände vor ihren grünen Augen, und heult hysterisch. Scheiße, Peter, das war nicht geplant! Wo bist du jetzt? HILF MIR!


Erst nachdem ich deine Erklärung las, verstand ich, was du damit ausdrückst.

Rala

Beitragvon Rala » 30.05.2007, 18:15

Hallo Charly,

danke auch Dir. Schade, dass offenbar keiner diesen Film kennt (ich hatte gedacht, er sei bekannter), aber ich kann ihn nur empfehlen.

Liebe Grüße,
Rala

Rala

Beitragvon Rala » 18.06.2007, 22:40

Hallo alle,

nachdem von einigen der Vorschlag gemacht wurde, den Text, vor allem das Ende, zu variieren, habe ich lange überlegt, aber mir ist nicht wirklich was eingefallen. Dann kam plötzlich aus heiterem Himmel eine Idee, die ich mal umgesetzt habe (s.o), aber unkommentiert lassen möchte :verwirrt: . Seht selbst.

Liebe Grüße,
Rala


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