Am Lietzensee im Juni

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Klara
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Beitragvon Klara » 27.05.2007, 12:54

Am Lietzensee im Juni

Grinsegras über der Wiese
macht sich über mich lustig
mit seinen mickrigen Haaren
die in der Menge wehen
und fliegen,
verwurzelt im preußischen Sand

Unter meinen Schuhen
knirscht Kies, und ich würd gern
vom Weg abkommen
da!
ins Weiche…

in die Butterblumen
beißen, die so unfassbar gelb!
dass man fliehen könnte –
doch ich weiß schon:
Ein Heimweh am See
schmilzt unter den Augen zurück
lässt nur die Fettflecken stehen
am kochweißen Kinderhemd

wie eine Erinnerung:
Das gescheckte Pferd:
Ich bin von hinten auf seinen Rücken gesprungen:
wie auf einen Bock:
Es rührte keinen Huf:
Es ließ mich:
Es hielt stand.

Ich wollte es
mitnehmen nach Berlin, doch das ging nicht
und hatte kein Wort
für die Traurigkeit beim Abschied.
Hieß sie Liebe?
Oder – vorzeitig? – Heimweh?

Das Grinsegras lacht

wie die Trauerweiden das Wasser vom Rand schlürfen können
– lautlos!
Ich staune
auch über die Hunde, die heute so abwesend bellen.
Das Schwanenpaar hat noch ein Kind,
sein Flaum wie Vanilleeis mit Mokkastaub.

Ich glaube, es ist ein Mädchen

(Mai 2007)
Zuletzt geändert von Klara am 29.05.2007, 09:47, insgesamt 6-mal geändert.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 28.05.2007, 20:07

Liebe Klara!

Was ich jetzt meine zu verstehen, ist, daß du hier großes Heimweh zeigst.

Moshe

aram
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Beitragvon aram » 29.05.2007, 02:27

Klara hat geschrieben:Ich habe die erste Fassung drunter gestellt. Bin selbst noch nicht sicher, vor allem mit den Satzzeichen - müssen die überhaupt korrekt sein? Und das Ende lasse ich, glaube ich, eher in der ersten Fassung, wie vielleicht auch das doppelte Heimweh.


liebe klara,

danke dir - leider bin ich wohl zu langsam zum kommentieren .-) - also dieser komm bezieht sich auf folgendes derzeitiges kopfposting:
Am Lietzensee im Juni

Grinsegras über der Wiese
macht sich über mich lustig
mit seinen mickrigen Haaren
die in der Menge wehen
und fliegen,
verwurzelt im preußischen Sand

Unter meinen Schuhen
knirscht Kies, und ich würd gern
vom Weg abkommen
da!
ins Weiche…

in die Butterblumen
beißen, die so unfassbar gelb!
dass man fliehen könnte –
doch ich weiß schon:
Ein Heimweh am See
schmilzt unter den Augen zurück
lässt nur die Fettflecken stehen
am kochweißen Kinderhemd

wie eine Erinnerung:
Das gescheckte Pferd:
Ich bin von hinten auf seinen Rücken gesprungen:
wie auf einen Bock:
Es rührte keinen Huf:
Es ließ mich:
Es hielt stand.

Ich wollte es
mitnehmen nach Berlin
doch das ging nicht
und hatte kein Wort
für die Traurigkeit beim Abschied.
Hieß sie Liebe?
Oder – vorzeitig? – Heimweh?

Das Grinsegras lacht

wie die Trauerweiden das Wasser vom Rand schlürfen können
– lautlos!
Ich staune
auch über die Hunde, die heute so abwesend bellen.
Das Schwanenpaar hat noch ein Kind,
sein Flaum wie Vanilleeis mit Mokkastaub.

Ich glaube, es ist ein Mädchen

(Mai 2007)

Zuletzt bearbeitet von Klara am 28 Mai 2007 18:54, insgesamt 5-mal bearbeitet


- mein erster komm bezog sich auf eine anderes ende, das ist jetzt wieder weg - wie schön, so wies am anfang war und derzeit wieder ist finde ich es ganz wunderbar!

zu den satzzeichen - für mich kein problem - die doppelpunkte an sechs aufeinanderfolgenden zeilenenden in s4 sind schon sehr eigen und ein wenig 'grenzwertig', aber erstaunlicherweise gehen sie durch - sie bringen mich nicht aus dem fluss - das ist überhaupt sehr sehr selten, aber bei diesem text sind mir die satzzeichen ziemlich wurscht, es wirkt, als könnten sie der bewegung des textes gar nichts anhaben, so ausgeprägt ist die.

ich mag alles andere auch an diesem text, kann gar nicht alles aufzählen - das staunen über die abwesend bellenden hunde begeistert mich z.b., der flaum wie vannilleeis mit mokkastaub - aber das sind nur bilder, mir gefällt noch viel mehr, z.b. das da! - und der letzte satz ist in diesem kontext einfach -*schluck.* (wunderbar zärtlich und liebevoll/ sehnsuchtsvoll)

-ein detail fand ich in der zweiten, zwischenzeitlich entfernten fassung besser (hey klara, kannst du die änderungen nicht einfach schön der reihe nach dokumentieren? - macht nichts, ich zieh dich nur auf, dieser text entschuldigt dafür locker!) - also was ich besser lesbar fand war mitnehmen nach berlin, doch das ging nicht in einer zeile, wegen des bezugs der folgenden.

Nun bin ich aber doch neugierig, weil du, Aram und Lisa die Beschreibung "frei" verwendet haben und üwste sehr gern, was ihr - also jeder einzelne - damit meint.


ich meine frei in der textlichen bewegung - hm, wie lässt sich das veranschaulichen - mit einem hinkenden vergleich - z.b. sind die allermeisten menschen im becken nicht frei - begegnet man mal jemandem auf der straße, dessen becken frei ist (was in unseren breiten wirklich nur alle paar jahre geschieht .-), merkt man das sofort am schwingenden gang (auch die hüften sind dann frei, aber die bewegung kommt aus dem becken) - die meisten texte sind viel "gehaltener" als dieser hier - was nicht heißt, dass das schlecht ist - je freier ein text aber ist, desto weniger "anlehnung" hat er an irgend eine äußere struktur, oder an ein regelwerk, er steht einfach für sich und erschafft seine eigene referenzialität. so ungefähr meine ich das, glaube ich.

der text ist für mich ganz klar lyrik. den liezensee finde ich gut gewählt, oder, äh, er hat dich gut gewählt. finde ich.

aram
there is a crack in everything, that's how the light gets in
l. cohen

Klara
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Beitragvon Klara » 29.05.2007, 09:45

Lieber Aram,

danke dir sehr für deinen Kommentar.

Ich entschuldige mich hiermit in aller Form für meine Versionen-Schlamperei, aber ich kann es einfach schlecht ertragen, manchmal, wenn ich etwas (wieder) verwerfe und dann nicht streichen darf. Wenn du wüsstest, wie sehr das manchmal hin- und hergeht, mit der Streicherei hier am heimischen Schreibtisch, es ist gar nicht so schwerwiegend, aber dann am Ende doch, egal, ob es um ein Komma geht oder um einen großgeschriebenen Versanfang oder um das Wegnehmen einer ganzen Strophe oder... oder...

Ein kleines Lied zu schreiben ist leichter als einen stummen Text zum Klingen zu bringen, denn da bügelt die Melodie Textschwächen glatt.

Als ich jetzt eben deinen Kommentar las, wurde mir ganz warm ums Herz, weil ich das Gefühl hatte, die im Text von dir und anderen LeserInnen wahrgenommene Zärtlichkeit käme zurück. Vielleicht auch die Freiheit, die ja üblicherweise nervös macht, und deshalb hält auch jeder das Becken fest, als könne sonst etwas hinausfallen; ich halte sicherlich auch zu viel, weil wir alle Angst haben, dass der Kopf zusammenbricht, wenn das Becken schwingt. Man sollte vielleicht viel mehr tanzen und viel mehr Sex haben und viel mehr Schwanenbabys anschauen (Mädchen!), aber da steht ja dann dieselbe Angst wie ein Metallstift im Becken, der bis zum Herzen reicht, nicht wahr, und daraus entsteht dann europäische Kunst, wenn wir Glück haben. Aus diesem Metallstift, weil er so drückt.

Dein Kommentar macht mich trotz mutmaßlich steifen Beckens glücklich.

Lieber Gruß
Klara
(Mit der Setzung beim Mitnehmen nach Berlin hast du Recht: ändere ich)

Gast

Beitragvon Gast » 29.05.2007, 12:24

Liebe Klara,

bist du so lieb und schreibst mir auch noch ne Antwort.
(Vor lauter moshe und aram hast du mich übersehen) ;-) (ich glaube leonie auch)
Du hast jetzt im Kopf nur noch die komplett erste Version stehen, ist das richtig?

Liebe Grüße
Gerda

Klara
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Beitragvon Klara » 29.05.2007, 13:05

Hallo Gerda, Leonie,

bist du so lieb und schreibst mir auch noch ne Antwort.
(Vor lauter moshe und aram hast du mich übersehen) ;-) (ich glaube leonie auch)

Das ist unverzeihlich! Ich bin ein chaotisches, unzuverlässiges, wankelmütiges Wesen, bitte dennoch um Vergebung!

Du hast jetzt im Kopf nur noch die komplett erste Version stehen, ist das richtig?

Ja.

Zum Vanilleweiß-Schwangefieder.
Ich hatte es falsch verstanden, denn ich glaubte der Jungschwan habe noch nicht sein bleibendens Federkleid, deswegen kam ich auf Milchschaum @ Flaum
Aber du hast Recht, das ist Vanilleeisweiß...

Jetzt bin ich mir selbst nicht mehr sicher. Ich habe mir das Schwanenbaby gestern noch einmal angeschaut, da hielt es den Schnabel unter dem Flügel versteckt und sah so hellbraun aus, dass ich ins Zweifel kam. Aber auch wieder nicht wirklich hellbraun... Hm. Mir fällt einfach keine bessere Farbbeschreibung ein als Vanille unter Mokkastaub, obwohl das nicht ganz korrekt ist. Ich glaube, es gibt dafür kein Wort...

Ich bevorzuge klar die erste Version der "Vanilleeisstelle", in der Überarbeitung wirkt es auf mich fast wie in einer Werbung. (Achtung Kitschgrenze) ;-)

Das freut mich, denn ich habe ja auch die erste Version eingestellt (so gesehen indirekt auf dein Posting geantwortet ,-))
Ich verstehe unter "freiem Text":

Ganz offen, die Bilder können Bilder sein, für die Liebe stehen oder auch ein Gefühl der Verlorenheit vermitteln, immer auf der Suche nach einem festen Bezugspunkt im Leben (Heimat)

Heimat finde ich ein spannendes Thema.
Die Bilder können aber allein auf Grund ihre Charakters völlig unterschiedliche Assoziationen beim Leser auslösen oder auch 1:1 eine Bedeutungsebene öffnen.

Darauf habe ich nur bedingt Einfluss.

Ich glaube aber, dass du als Autorin ein viel intimere Ebene des Gedichts miteingewebt hast, darauf deutet der letzte Satz (für mich) hin.
Für mich klingt dieser Satz wehmütig. ...
Ich mag ihn nicht entschlüsseln.

Ich weiß nicht - ist er wehmütig?
Ich mag ihn auch nicht entschlüsseln ,-)

Leonie:
dieser letzte Satz: Ich finde ihn besonders schön. Er macht für mich mit das "Zärtliche" an diesem Text aus.

Danke. Der Text läuft darauf hin, ohne darauf hinzulaufen. Es ist nur ein völlig ungerechtfertigter Gedanke. Ein Aberwitz. Ein Hochmut. Eine Liebe.

Neben der Freiheit, die Du zur Interpretation lässt mit den Bildern, meinte ich "frei" auch im Sinne von "leicht": trotz der Wehmut im Text überwiegt das andere für mich.

Für mich auch. Freut mich, dass du das so liest. Man muss das ja erstmal zulassen können, nicht mehr nur wehmütig zu sein, nicht wahr ,-)

Liest Du ihn? (Drängel biggrin )

Vielleicht versuch ich das noch.

Danke euch, ihr lieben Damen, ich hoffe, ihr vergebt mir meine Säumigkeit!
Herzlich
Klara

Max

Beitragvon Max » 29.05.2007, 16:53

Liebe Klara,

das ist eine sehr gekonnte Leichtigkeit, die auf Schwereres komponierst, so dass ich mich sowohl an Berlin (im Mai oder Juni) als auch an meine Heimat erinnert fühlte.

Besonders gefällt mir diese Kombination aus sommerlichen Gedanken, die dann immer wieder einen tiefen Hintergrund haben, beispielsweise in

knirscht Kies, und ich würd gern
vom Weg abkommen
da!
ins Weiche…


Gefällt mir sehr ..

Liebe Grüße
Max

Klara
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Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 29.05.2007, 18:50

Das ist schön, Max!

Ich nehme an, deine Heimat - also die wirkliche gelebte Heimat, nicht die verschwommene des Gedichts - ist Westfalenland? Das wäre dann gar so verwunderlich nicht, denn Westfalen hat mehr mit allerlei Berliner Heimaten zu tun, als man manchmal denkt... - vielleicht ist Westfalen sogar die Heimat schlechthin, so wie bestimmte Kastanienbäume aussehen wie das Urbild des Baumes. So wäre auch Westfalendas Urbild (oder zumindest ein Urbild) der Heimat. Wer weiß. Pferde gibt es jedenfalls eine Menge dort... oder irre ich?

.-)
K.

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Beitragvon Lisa » 29.05.2007, 19:01

Liebe Klara,

da du gefragt hast: Ich meine mit dem Leichten...das fast wie Max...der Text wirft einen Amboß in die Luft als wärs ein Kinderball. Verstehst du? Und weil dazu auch immer rasche, etwas zu wilde, aber zarte Bewegungen gehören, hab ich keine Perspektive, aus der ich was ändern könnte und wills auch nicht.

Liebe Grüße,
Lisa

(ich hör jetzt schon deine Stimme, wenn ich einen Text von dir lese ,-))
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Max

Beitragvon Max » 30.05.2007, 17:47

Liebe Klara,

die erlebt Heimat ist tasächlich irgendwo in Westfalen, wenn es auch in meiner jetzigen Heimat (auch westfalen aber westlich) mehr Pferde gibt als dort .. jedenfalls kann ich ja gar nicht feststellen, ob jede Heimat so aussieht, wie ein Westfalen, weil meine das immer tut ;-) In jedem Falle ein liebes Danke für das schöne Gedicht.
Max


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