bald (vorher: in erwartung) - hermannstadt 2007

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
scarlett

Beitragvon scarlett » 21.05.2007, 09:51

bald
hermannstadt, 2007

entkernt
kehr ich zurück zu dir

entkernte

glänzen werden die fassaden
doch täuschen wir
einander nicht

umwerben
müssen dich die anderen
die keine deiner narben tragen
und niemals sahn
dein leidendes gesicht

erhören
will ich dich
du unerhörte
(mittelalterliche schöne)
auf meinen wegen durch die gassen

wenn deine steine mir noch singen
und durch die zeitenfugen klingen
so will ich einen nußbaum pflanzen

werd mich in deiner mitte finden
und wieder in gewißheit wiegen
daß wir uns nicht entfremdet sind

Änderungen aufgrund von Hinweisen von Gerda, Manfred, Mucki - Danke!

1. Version

entkernt
kehr ich zu dir zurück
entkernte

und glänzen werden die fassaden
(doch täuschen wir
einander nicht)

umwerben
müssen dich die andern
die keine deiner narben tragen
und niemals sahn
dein leidendes gesicht

erhören
will ich dich
du unerhörte
(mittelalterliche schöne)
auf meinen wegen durch die gassen

wenn deine steine mir noch singen
und durch die zeitenfugen klingen
so will ich walnußkerne pflanzen

werd mich in deiner mitte finden
und wieder in gewißheit wiegen
daß wir uns nicht entfremdet sind

scarlett, 2007
Zuletzt geändert von scarlett am 22.05.2007, 11:47, insgesamt 2-mal geändert.

Niko

Beitragvon Niko » 22.05.2007, 21:33

hallo scarlett!
mir würde als titel schlicht: hermannstadt 2007 genügen. ich finde, in dem titel liegt alles drin.
das gedicht gefällt mir sehr. ich weiß nicht, wie du das machst...-natürlich gibt es stellen, die ich für mich nicht gut finde, aber das wichtigste ist doch, dass ein text einen erreicht. und das tut er völlig. obwohl mir hermannstadt so garnix sagt ;-)
entkernt
kehr ich zurück zu dir

entkernte

das erste entkernt würde ich ändern. beim zweiten fände ich es verkehrt, dies zu tun, denn zuviel schwingt an den rändern dieses wortes, da wo es ist mit (entfernte zum beispiel) vielleicht aber geht das ändern des ersten entkernt. vor allem dann, wenn du in dem gleichen bild bleiben würdest. bei entkernt fällt mir beispielsweie "ausgehöhlt" ein oder "geleert"
glänzen werden die fassaden
doch täuschen wir
einander nicht

gibts nix zu sagen: gut geraten

umwerben
müssen dich die anderen
die keine deiner narben tragen
und niemals sahn
dein leidendes gesicht


hier würd ich streichen. und sahn.......ich weiß nicht: sahen würde doch auch gehen. ist nicht wirklich metrikverändernd, oder?
ich täts so schreiben, wenns meins wär:

umwerben
müssen dich
die keine deiner narben tragen
und niemals sahen
dein leidendes gesicht

partizipien vermeidend könntest du vielleicht auch leidvolles oder leidreiches gesicht schreiben...

erhören
will ich dich
du unerhörte
(mittelalterliche schöne)
auf meinen wegen durch die gassen

hier fände ich eine umstellung besser:

erhören
will ich dich
(mittelalterliche schöne)
du unerhörte
auf meinen wegen durch die gassen

auf mich wirkt die klammer wie sie von dir gesetzt wird echt wie dazwischengeklemmt. nicht wirklich ein fluss. - subjektiver eindruck halt.

wenn deine steine mir noch singen
und durch die zeitenfugen klingen
so will ich einen nußbaum pflanzen

werd mich in deiner mitte finden
und wieder in gewißheit wiegen
daß wir uns nicht entfremdet sind

auffallend und höchst interessant finde ich hier die deutliche vokalaufhellung durch die vielen "i". ist es das, was mich das ganze der beiden letzten strophen wie ein kirchenlied erscheinen lässt? dennoch: auf den reim singen / klingen würd ich verzichten. vielleicht statt klingen "hallen"?

aber auch wenn das jetzt nach meckerei aussieht, ist es das nicht. es ist ein sehr gelungener text, mit dem ich mich gerne auseinandergesetzt habe.
lieben gruß: Niko

scarlett

Beitragvon scarlett » 23.05.2007, 07:56

Lieber NIko,

ja das mit den Vokalen in diesem Gedicht, ihre Verteilung, habe ich nicht dem Zufall überlassen ;-) . Die letzten beiden Strophen sollen sich auch dadurch von den vorherigen absetzen und den Inhalt zusätzlich stützen. Und es ist schön, wenn du sie tatsächlich als liedhaft empfindest, es ist ja genau das, was ich wollte (es geht ja um den Gesang der Steine...).

Den Vorschlag "leidvolles gesicht" werde ich wahrscheinlich übernehmen, gefällt mir nicht nur besser sondern drückt auch eigentlich genauer aus, was ich sagen wollte. Merci.

Etwas rätselhaft bleibt mir allerdings, was eine Umstellung in der "erhören" Strophe anders machen soll, im Gegenteil, ich kann dann die doppelte Bedeutung des "unerhört" nicht mehr so ohne weiteres erkennen, wenn überhaupt, und auf die wollte ich ja auch hinaus durch meine Setzung - du unerhörte stadt im Sinne nicht gehörte und du unerhört schöne im Sinne außerordentlich.
Hmm...verstehst du, was ich meine?

Es freut mich jedenfalls sehr, daß dir das Gedicht gefällt, daß es dich erreicht hat - und dir was sagt...

Ganz liebe Grüße und merci vielmals für deine ausführliche Beschäftigung damit,

scarlett

P.S. Hermannstadt bleibt im Untertitel, damit das Gedicht offener ist.

Max

Beitragvon Max » 24.05.2007, 22:55

Liebe Scarlett,

das finde ich ein sehr berührendes Gedicht.
Bis zur Mitte nehmen mich seine/Deine Worte so gefangen, dass ich es als nahezu perfekt empfinde. Das Wort "entkernt" adjektivisch für eine Person, substantivisch für eine Stadt zu verwenden ist einach stark. Auch Strophe 2 , das

doch täuschen wir
einander nicht


ist sehr gut.

Auch der Beginn der dritten Strophe gefällt mir sehr.

Über Inversionen haben wir schon öfter diskutiert und auch hier würde ich bei

und niemals sahn
dein leidendes gesicht

für

und niemals
dein leid sahn

plädieren.

Die Lesehilfe, das Kursive bei
erhören


bräuchte ich nicht.

Bei

wenn deine steine mir noch singen
und durch die zeitenfugen klingen
so will ich einen nußbaum pflanzen


gefällt mir, dass man in Zeile 2 zwischen "zeilen" und "fugen" auch ein leerzeichen lesen kann. Gegen das Pflanzen von Nussbäumen habe ich weiter nichts, aber mir erschließt sie nicht, warum es gerade ein Nussbaum sein soll.

Bei
und wieder in gewißheit wiegen
daß wir uns nicht entfremdet sind


würde ich mir etwas mehr Distanz wünschen, auch eine Stimme der inneren Gewissheit, dass dies natürlich nur teilweise wahr sein wird ...

Ein sher guteas Gedicht.

Liebe Grüße
max

scarlett

Beitragvon scarlett » 25.05.2007, 22:04

Lieber Max,

ich freue mich sehr über deine so positive Resonanz auf mein Gedicht.
Vor allem freut mich, dass bei dir der Anfang offensichtlich so gut ankommt, der ist/war ja nicht unumstritten. (auf den bin ich grad auch ein wenig stolz ... :d040: )

Nu ja, die Inversion ist doch hier doch nicht allzu schlimm, mein ich...mir ist sie nichtmal aufgefallen, erst nachdem du das angesprochen hast, hab ich mir das genauer angesehen.
Das liegt wohl daran, dass ich zwar gedanklich gaaanz lang an diesem Gedicht gekaut habe, mir aber immer das "eine", genau passende Wort fehlte (nämlich entkernt) und als ich das hatte, schrieb sich der Text einfach runter...fast wie von selbst.

Die letzten drei Verszeilen werde ich sicher nochmal bearbeiten - allerdings vielleicht erst nachdem ich aus Hermannstadt zurückgekehrt bin, vielleicht ergibt sich das dann auch wie von selbst.... *g*

Warum ich den Nußbaum gewählt habe: zunächst mal (aber das kann kaum ein Leser wissen) gibt es in Siebenbürgen viele Nußbäume, aber darüber hinaus ist das Holz dieses Baumes dauerhaft, wertvoll, der Baum wird groß und auch alt, außerdem wollte ich das "entkernt" wieder aufnehmen.

Hab lieben Dank für deinen Kommentar!

Liebe Grüße,

scarlett

Max

Beitragvon Max » 25.05.2007, 22:10

Liebe Scarlett,

dass es in 7bürgen (ach wenn sich doch alle Wörter so einfach schreiben ließen) viele Nussbäume gibt, reicht mir als Grund eigentlich völlig aus - für mein gefühl durfte es in diesem Gedicht einfach nicht zufällig sein, welcher Baum gesetzt wird.

Danke und liebe Grüße
Max

scarlett

Beitragvon scarlett » 25.05.2007, 22:17

Nein, lieber Max, in diesem Gedicht ist nichts! zufällig, selbst bestimmte Wörter habe ich aufgrund ihrer Vokalstruktur aufgenommen oder aber verworfen.

Grüße von einer seeehr müden,

scarlett


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