Jubrique

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Scal

Beitragvon Scal » 12.05.2007, 17:57

Mein Täglichsein
durchwandert Gassen

An einer Wand
schwimmt weißes Licht

Ich suche Verstecke
mit Sagen gefüllt

und warte auf Wunder
Ein Adler zieht Kreise

der Blick einer Katze
verändert den Traum


_


Im Sommer 05 verbrachte ich einige Wochen in einem abgelegenen andalusischen Bergdorf, notierte Eindrücke. Die Notate regen mich dazu an, sie zu überarbeiten. Hier ein (fertiges ?) Ergebnis als Beispiel.

_


Zweite Version (nach dem Hinweis von Peter)


Mein Täglichsein
durchwandert Gassen

An einer Wand
schwimmt weißes Licht

Ich suche Verstecke
mit Sagen gefüllt

Der Blick einer Katze
verändert den Traum
Zuletzt geändert von Scal am 20.05.2007, 19:49, insgesamt 2-mal geändert.

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noel
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Beitragvon noel » 13.05.2007, 07:53

als ich den text las, sah ich bilder
(wie bereits geschrieben)

"Mein Täglichsein
durchwandert Gassen
An einer Wand
schwimmt weißes Licht "

dieser absatz führt einen in weiß getünchte, südliche
dorfschaften.
wie verkantet die häuser seien, wie klein, wie
verwinkelt, ob die laden der fenster klappern, der lack,
die farbe blättert, alles bleibt im auge des imaginisten.

"Ich suche Verstecke
mit Sagen gefüllt
und warte auf Wunder
Ein Adler zieht Kreise "

dieser absatz zieht tiefer, gibt das gefühl -vorherrschende- des
durch die gassen wandernden preis. des lyrischen ICHS
diese worte lassen eine faszination, ein mit
den augen atmen, ein etwas an gestern sich erinnerndes (im heute für morgen) mir entstehen.
oder beser: einer, der in diesem "mystischen moment" des fast archaischen dorfes
die geschichten sucht, die sagen, die das dorf (fast) noch ausdrückt.

er sucht keine VERSTECKE sondern die sagen darin, weil er sie
zu atmen scheint, weil die phantasie durch die bilder des dorfes
schon geschichten zu fühlen scheint.
alles scheint & ist wundersam...
deshalb bedarf (nur) ich hier der verstecke, der sagen & der wunder. die
verstecke betonen, dass die suche nach den sagen aus dem innern entsteht,
die sagen haben ich eben schon begründet & die wunder haben dies illusorische,
was durch den nächsten absatz zum ende des traumes, der suche & des textes führt.
der adler, der dabei über dem dorf kreist, unterstützt diesen PUNKT in der zeit.

"der Blick einer Katze
verändert den Traum "

hier der ringschluss, die katze holt ins jetzt zurück

meine eindrücke

noel
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

Scal

Beitragvon Scal » 13.05.2007, 10:01

Herzlichen Dank Euch allen für das gedankenvolle Hinschauen und Einfühlen !

Hallo smile,

mehr auf die Verknüfungen zwischen den Bildern zu achten, würde einen anderen stilistischen Ansatz nötig machen. Einer persönlichen Neigung folgend, bevorzuge ich es öfter, die einzelnen Bildaussagen so zu formulieren, dass sie auch alleinstehend eine Art atmosphärischen Empfindungsraum (gewissermaßen eine Atempause) ermöglichen, wobei es freilich insgesamt dann auf den stimmigen Zusammenklang der Teile ankommt.

-

Hallo Louisa,

was Konkretes für "Verstecke" wäre denkbar, ich wüsste aber momentan nicht, wie sich das in diese kurze Impression einfügen ließe. Auch kommt darin mehr ein allgemeines Erwarten zum Ausdruck.
Der tatsächlich täglich über dem Dorf kreisende Adler, hat mich schlicht beeindruckt. Mitunter scheint mir auch das ganz einfach Gesagte (Klischeehafte) nicht unpassend zu sein. Kommt wahrscheinlich drauf an, in welchem Zusammenhang es auftaucht.
Du hast recht, ein Komma im Titel ist besser.

_

Hallo leonie,

danke, ich werde deinem Ratschlag folgen und die zweite Version "oben" dranfügen.
Was das "Täglichsein" auslöst, wird bei den Lesern unterschiedlich sein, und das passt dann schon so, denke ich.

_

Hallo Elsa,

was die Verknüpfungen, das Fließende anlangt, hab ich schon bei smile eine Antwort versucht.
Das Dorf Jubrique liegt übrigens zwischen Estepona und Ronda, in einer archaisch anmutenden Bergwelt. Eine spanische Freundin hatte mir dort ihr Haus zur Verfügung gestellt.

_

Hallo Mucki,

danke, dein Vorschlag wäre eine mögliche Variante, ja. Momentan ist mir "mit Sagen gefüllt" gefühlsmäßig (noch) sympathischer. Wie schon erwähnt war ich vom Adler sehr beeindruckt. Dazu noch von den unzähligen Schwalben und Mauerseglern.

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Hallo Sam,

Wovon du im letzten Abschnitt sprichst, schildert tatsächlich das Manko meiner Zeilen. Es gefällt sehr mir gut, wie du die Bilder bewegst und deine andalusischen Erlebniskenntnisse in das Gedicht hineinliest.

Scal

Beitragvon Scal » 13.05.2007, 10:12

Hallo Noel,

was du schreibst erlebe ich als schönes Beispiel für den -auch von mir erstrebten - Umgang mit Gedichten. Danke dir.

_

Allen liebe Grüße
Scal

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 13.05.2007, 10:42

Hallo Scal,

was die Verknüpfungen, das Fließende anlangt, hab ich schon bei smile eine Antwort versucht.
Ja, hab es gelesen.

Das Dorf Jubrique liegt übrigens zwischen Estepona und Ronda, in einer archaisch anmutenden Bergwelt. Eine spanische Freundin hatte mir dort ihr Haus zur Verfügung gestellt.
Ach, Ronda, das ist einfach traumhaft!

Neidvolle Grüße,
ELsa
Schreiben ist atmen

Sabine

Beitragvon Sabine » 13.05.2007, 11:32

Noels Kommentar ist schon fast ein eigenes Gedicht. Ich kann mich sehr gut darin wiederfinden und schwelge nun den ganzen Tag in Erinnerungen an weißgetünchte Häuser und enge Gassen - und der Sonne, die hier nur sehr spärlich scheint im Moment.

Euch allen einen schönen Sonntag
wünscht
Sabine

Max

Beitragvon Max » 13.05.2007, 21:45

Lieber Scal,

mir ist dieser Text auf Anhieb hängen geblieben und mir kamen - trotz Gefallen - ähnliche Bedenken wie Peter.
Dementsprechen kann ich mich auch mit der zweiten Version noch besser anfreunden als mit der ersten.

Das Wort
Täglichsein

ist für mich ein steter Stolperstein, ein echter Hingucker oder -hörer. Aber nicht nur, weil mir keine brauchbare Alternative einfällt, kann ich mich immer besser damit anfreunden.

In der ersten Version fand ich die Setzung noch etwas störend, weil sie im Mittelteil anscheinend grundlos dem Inhalt zuwider lief, das hat sich aber in der zweiten Version deutlich gebssert.

An einer Wand
schwimmt weißes Licht


bleibt eine Lieblingsstrophe von mir.

Gern gelesen.

Liebe Grüße
max

Scal

Beitragvon Scal » 13.05.2007, 22:15

Hallo Max,

vielen Dank fürs behutsame Lesen und deinen Kommentar.

Ich habe schon öfter die Erfahrung gemacht, dass Geduld und eine gewisse offen bleibende Vorsicht bei der Beurteilung eigener Texte Sinn machen.
Nach langsamem, mehrmaligem Lesen und Behorchen empfinde ich jedenfalls zur Zeit auch die zweite Version überzeugender.

Lieben Gruß
Scal

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 20.05.2007, 10:48

Hallo scalidoro,

ich hab die anderen Komms nicht gelesen, falls ich was anspreche, das sich schon erledigt hat, dann ignoriers bitte. Ich bezieh mich auf die Erstfassung, die gefällt mir trotz des abgegriffenen Adlers besser.

Was mir als erstes aufgefallen ist beim Lesen ist Absatz 2. Da endest du zweimal betont, das passt sich im Lesefluss zu Absatz eins gut an, aber es lässt mich beim Weiterlesen nach Absatz 3 leicht stolpern.

Die verwendeten Bilder sind unmittelbar, sie nehmen mich auf der Kamerafahrt mit. Der Text lässt sich auch variieren. Ich hab das für mich mal durchgespielt, ich hoffe es stört dich nicht, dass ich das probiert habe:

Mein Täglichsein
durchwandert Gassen

wartet auf Wunder
ein Adler zieht Kreise

an Ziegelwänden
ein wanderndes Licht

der Blick einer Katze
verändert den Traum

ich suche Verstecke
mit Sagen gefüllt.

Gruß

reimerle

Scal

Beitragvon Scal » 20.05.2007, 11:54

Hallo reimerle,

mit gefällt sie recht gut, deine Variante.
Statt an Ziegelwänden würde ich aber doch bei an weißen Wänden bleiben (weil es weiße Wände waren) und das ein bei wanderndes Licht käme weg.

Danke dir. Ich werde demnächst an den Text hier noch Teil II und III angliedern.

Lieben Gruß
Scal

aram
Beiträge: 4509
Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 20.05.2007, 15:08

lieber scalidero,

[ich beziehe mich nur auf die erste version]

der text ohne titel spricht mich an - auch das thema des durchdringens von realitäten

Mein Täglichsein / durchwandert Gassen

überlagerung mehrerer anklingender bezüge erzeugt tiefendimension (die mir sehr gefällt)

An einer Wand / schwimmt weißes Licht


die weiterführung unterstreicht sowohl die physis als auch das nichtfassliche, schwebende

-> damit ist das thema eröffnet und bestätigt - im raum ist feine spannung, wohin die parallelität der welten geführt oder aufgelöst wird

Ich suche Verstecke / mit Sagen gefüllt

sie wird ins mythische, archetypische geführt, das motiv der suche / individuation tritt auf

und warte auf Wunder / Ein Adler zieht Kreise


dem aktiven wird umgehend das passive (warten) beigesellt, eines im anderen als haltung des suchenden/reisenden, wieder wird das schwebende betont, das wunderbare ist neutral, ein krafttier tritt auf und spiegelt - synchronizität

-> nachdem s1 und s2 die parallelität von fasslichem und nichtfasslichem im feld physis / wahrnehmung darlegten, erweitern s3 und s4 diese parallelität auf die zeitdimension und eröffnen damit verwoben die frage nach bedeutsamkeit, aus-sage (verstecke, sagen, wunder) - zeitlichkeiten verschmelzen dadurch, bewegung ins innen

der Blick einer Katze / verändert den Traum


ein weiteres mythisches tier tritt auf, geht in kontakt - das schwebende kondensiert, neuer spiegel, anderer focus, traum&realität verändern sich und laufen weiter.

-> die darlegung von parallelitäten wird um die von abgeschlossenheit und kontinuität, bedeutung und andersbedeutung ergänzt, womit der text folgerichtig schließt. (ich finde diese auflösung wunderschön)


die ganze zeit bleibt der text am beobachteten; das innerliche, die aussageebene wird anhand der befindlichkeit/orientierung des lyr.ich eingeführt/benannt, die ebenfalls nur konstatiert, beobachtet ist.

diese einheitlichkeit gefällt mir sehr.
ironischerweise wird sie ausgerechnet vom titel arg bedroht, durch das beigefügte "andalusien" - das scheinbar nichts anderes tut als den physischen ort der erlebnisse zu benennen - dies jedoch nicht kann, ohne mit exotik zu kokettieren.

in dieser form gefährdet der titel das reale-magische, indem er den text ins vordergründige bringt und gefallen anspricht, gefallen an "exotischem" à la "ach ja, andalusien ist traumhaft" - unausgesprochen, da scheinbar nicht bewusst: wenn man eben nicht von dort, sondern z.b. aus mitteleuropa kommt - das finde ich schade, damit wird der text billig und kitschig - es sei denn, du schriebest auch alltagsmagische texte mit z.b. dem titel "leonding, oberösterreich"

(- kommt an, was ich meine?)

ich würde diesen tollen text auf jeden fall anders betiteln - lass z.b. einfach ". andalusien" weg - um nicht in diese primitive falle zu gehen.
darüber hinaus bitte unbedingt bei version eins bleiben - zur abgegriffenheit eines bildes wie "ein adler zieht kreise": natürlich wäre es äußerst problematisch, mit einer solchen zeile zu beginnen - doch da, wo sie steht, kann man doch nicht mehr an ihr 'abgleiten' - es ist so einfach und doch scheinbar schwer zu fassen, wann etwas kitschig wirkt und wann nicht - und dass es nie an den worten als solchen liegt, immer an deren konstellation und kontext.

sehr gern gelesen
aram
there is a crack in everything, that's how the light gets in
l. cohen

Scal

Beitragvon Scal » 20.05.2007, 19:48

Lieber aram,

herzlichen Dank für dein sensibel-genaues Eingehen auf den Text!
Was mir sehr gefällt, ist, dass dein Hinschauen auf die einzelnen Zeilen immer auch von einem beweglichen Gefühl und Wissen um das Ganze begleitet wurde.

Ich habe deine Ausführungen aufmerksam bedacht und finde sie überzeugend und hilfreich. Tatsächlich bringt das "Andalusien" ein Assoziieren in Gang, das den Text in eine Richtung lenkt, die ihn letztlich beeinträchtigt. Vielen Dank, ich werde es ändern (Und Teil II und III mit eigenem Titel extra posten).

Lieben Gruß
Scal


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