Noras Reise

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 05.05.2007, 22:54

3. und letzte Fassung: altes gefeilt, neues in blau, ein Versuch des Plantings vom Finale

Noras Reise

Nora steigt auf ihr Bett und nimmt das gerahmte Foto von Mama vom Nagel. Sie zwängt es in den Rucksack und schleicht die Treppe hinunter. Auch wenn kaum Gefahr droht, ertappt zu werden, tippelt sie auf Zehenspitzen zur Haustür. Papa ist, wie fast immer, auf Reisen und so früh am Morgen schnarcht die Kinderfrau Irene noch. Irene schläft viel. Und sie lügt. Was die alles erzählt!
Wenn Papa fragt, was sie mit Nora so alles macht, erfindet sie tolle Ausflüge in den Tierpark, auf den Spielplatz, ins Schwimmbad oder Kino.

„Ich mag die Irene nicht, Papa“, sagte Nora einmal.
Er nahm sie auf den Schoß und streichelte ihren Kopf.
„Meine kleine Prinzessin, weißt du, wir sind auf ihre Hilfe angewiesen. Sobald etwas Zeit ist und ich länger zu Hause bin, suchen wir eine andere, die du magst. Ich kann dich nicht alleine lassen.“

Nach Noras fünftem Geburtstagsfest brachte Mama die anderen Kinder mit ihrem Auto heim. Auf der Rückfahrt starb sie bei einem Unfall. Der Lastwagen kam von der Fahrbahn ab. Nora hatte an der Tür gelauscht, als Papa am Telefon mit jemand darüber sprach.
Zur ihr sagte er: „Du musst jetzt tapfer sein, Maus. Mami ist zu den Engeln gegangen.“
Dann kam die Irene ins Haus.
„Ich bin aber viel alleiner als du denkst, nimm mich mit, Papa!“
Da schüttelte er den Kopf. Traurig.

Deswegen sagt sie schon lange nichts mehr. Erst gestern ist er wieder weggefahren, obwohl er gerade mal zwei Tage zu Hause war. Und jedes Mal sagt er: „Bis bald.“
Was ist „bald“? Die Tage bis zum Wiedersehen ziehen sich immer wie Kaugummi.
Als er sich verabschiedete, starrte er Nora so ernst wie nie an. „Maus, solltest du mit Irene in die Stadt gehen, bleibe bei ihr. Im Moment ist es sehr gefährlich dort für kleine Mädchen.“
Irene, die mit ihnen in der Diele stand, mischte sich ein. „Die arme Haut! Der Perverse hat sie sicherlich abgemurkst und die anderen zwei auch.“
„Irene!“ Papa schaute sie streng an, so wie er es bei Nora machte, wenn sie schlimm gewesen war.
Irene knallte die Wohnzimmertür hinter sich zu.
„Was heißt Perverse?“
Papa küsste Nora. „Ich muss jetzt los, sonst versäume ich noch meinen Zug.“
„Wohin fährst du?“
„Eine Stadt am Meer. Ich bring dir was Schönes mit!“ Er warf ihr eine Kusshand zu und stieg ins wartende Taxi ein.


Leise zieht Nora die Tür hinter sich zu, marschiert mit festem Schritt die Straße entlang. An den Gärten der Nachbarn vorbei. Jeder einzelne voll mit Blumen. Ihr eigener ist nicht mehr besonders. Der Gärtner Luigi mäht den Rasen, stutzt die Hecken, das ist alles.

Mama hat immer eine Menge bunter Blumen gepflanzt. Nora half ihr dabei. Schmetterlinge umschwärmten den Sommerfliederbusch.
„Ich weiß was, Mami!“
„Hast du dir wieder was für mich ausgedacht?“
Mama mochte Noras Geschichten und schrieb sie alle in ein dickes Buch.
„Für später“, sagte sie, „damit du sie niemals vergisst, meine kleine Dichterin.“
Mama wischte die Erde von den Händen. Sie setzte sich in die Wiese, Nora legte den Kopf in ihren Schoß.
„Weißt du, was Schmetterlinge in Wirklichkeit sind?“
Mama machte ein gespanntes Gesicht, Nora kicherte vor Aufregung. Dann fuhr sie fort: „Schmetterlinge sind Kinderseelen. Wenn ein Kind etwas ganz Böses erlebt hat und sterben muss, dann bekommt es ein Jahr zur Erholung als Schmetterling geschenkt.“
„Oh, das ist aber schön, Nora!“
„Glaubst du, ich werde auch einmal ein Schmetterlingsjahr leben?“
Mama lachte und drückte sie an sich. „Ach wo! Niemand wird dir was tun. Papa und ich sorgen dafür.“

Auf der Hauptstraße angekommen, stellt Nora sich an die Haltestelle. Während sie wartet, fällt ihr die blöde Irene wieder ein. Beinahe den ganzen Tag sitzt sie vor dem Fernseher und schaut Menschen zu, die reden. Manchmal streiten sie miteinander. Die meisten sind hässlich.
Abends schickt Irene sie ins Bett, ohne eine Geschichte vorzulesen. Lange liegt sie wach, wenn Papa nicht da ist. Vor allem bei Vollmond ist das scheußlich. Die Linde vor dem Fenster wirft Schatten, die sich wie Gespenster bewegen. Manchmal sieht es aus, als würden die Stofftiere auf dem Regal lebendig werden. Dann zieht Nora die Decke über den Kopf. Lieber erträgt sie die Hitze und dass sie kaum atmen kann, als die tanzenden Wände und Spielsachen zu sehen.

Die Straßenbahn kommt, Nora klettert hinein.
„Hauptbahnhof Hamburg“, schnarrt der Lautsprecher. Geschafft. Papa wird begeistert sein, wenn er sieht, wie gut Nora das alles kann. Dann nimmt er sie bestimmt auf die nächste Reise mit.

Die Halle ist riesig, der Weg zu den Fahrkartenschaltern dauert ewig. Abgesehen von einem Reinigungsmann, der mit einem ganz breiten Wischmopp über den Boden fährt und den paar Menschen in Lumpen, die auf Wartebänken schlafen, neben sich Flaschen mit Bier oder Wein, ist nichts los hier.
Weil sie noch nicht lesen kann, fragt sie den Mann hinter dem Glasschutz, welcher Zug zum Meer fährt.
Er starrt sie eine Weile an.
Nora will zum Nebenschalter gehen, da sagt er schnell: „Zu welchem Meer, Kleine?“
„Meer ist Meer, oder?“
Der Kartenverkäufer grinst. „Es gibt viele Meere.“
Sie holt das Foto aus dem Rucksack. „Dieses Meer!“
Nora schiebt es durch die Öffnung. Der Mann studiert das Bild. Es zeigt Mama am Meer. Auf dem Kopf trägt sie einen hellblauen Strohhut mit langen Seidenbändern, die der Wind mit den blonden Locken vermischte. Sie lacht und winkt in die Kamera.
„Es könnte die Ostsee sein ...“
Im Hintergrund sieht man Strandkörbe.
„An der Nordsee sieht die Küste anders aus“, sagt er und reicht ihr die Aufnahme zurück. Er hält dabei ihre Hand fest. Seine fühlt sich klebrig an.
„Bitte einen Fahrschein nach Ostsee.“ Zehn Euro hat sie von ihrem Taschengeld für die Reise gespart.
Neugierig fragt er: „Kleine, wie alt bist du denn?“
„Bald sechs“, antwortet sie, entzieht ihm ihre Hand und kramt den Geldschein aus dem Rucksack.
„Dann reist du gratis. Erst nach dem nächsten Geburtstag musst du ein Ticket bezahlen.“
„Das ist gut.“ Sie steckt den Schein zurück. „Damit kann ich in Ostsee was zu essen kaufen.“
Der Schalterbeamte zwinkert ihr zu. „Hast du heute schon was gegessen?“
„Nein.“
„Ich heiße Frank und habe eine Tochter zu Hause, die ist auch sechs. Nicki lacht fast immer, im Gegensatz zu dir. Warum bist du denn so ernst?“
Nora weiß nicht, was er meint und schweigt lieber.
„Ist das deine Mama auf dem Foto? Besuchst du sie am Meer?“, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf. „Sie ist tot.“
„Und dein Papa?“ Er wischt über seine Augen, schnäuzt sich und tupft mit dem Taschentuch die Stirn trocken.
Nora legt die Unterarme auf das Schalterbrett, stützt ihr Kinn darauf und erzählt. „Er kauft in fremden Ländern Tee ein. Sogar in China war er, das ist ganz weit weg. Deswegen passt die Kinderfrau auf mich auf. Warum sie so heißt, weiß ich nicht. Weil, machen tut die nie was mit mir und ich bin doch ein Kind, oder?“ Sie verdreht die Augen.
„Was willst du denn am Meer? Das Geld wird bald alle sein.“
Nora runzelt die Stirn. Langsam und deutlich sagt sie: „Damit Papa sieht, wie groß ich schon bin. So weiß er, dass er mich mitnehmen kann. Bin dann nicht mehr so alleine. Verstehst du jetzt?“
Da steht Frank auf, schaut über die Abgrenzung zum Nebenschalter und spricht mit dem Mann, der dort sitzt. Wendet sich wieder Nora zu: „Warte, ich komm raus.“
Er verschwindet durch eine Tür. Kurz darauf steht er neben ihr.
„Weißt du was?“ Frank greift nach Noras Rucksack. „Wir fahren jetzt zu mir nach Hause, da bekommst du etwas zu essen, ehe du deine lange Reise antrittst.“
„Nein, danke. Ich würde lieber in den Zug nach …“
„Tja, der nächste fährt erst wieder am Abend und kleine Mädchen dürfen sich hier nicht herum treiben. Dann bringe ich dich besser zu deiner Kinderfrau zurück.“
Nora versteift sich. „Nein“, sagt sie bestimmt.
„Wie machen wir es also? Bei mir könntest du mit Nicki spielen und danach bringe ich dich pünktlich hierher.“ Frank lächelt aufmunternd.
„Ja, wirklich?“
Er ergreift ihre Hand. „Versprochen!“
„Darfst du einfach weg von deinen Fahrscheinen?“
„Weißt du, ich hatte Nachtbereitschaft und nun ist Schluss für mich.“
Nora nickt beruhigt. Sie steigt zu Frank ins Auto, er fährt los.
Auf dem Parkplatz vor einer Hochhaussiedlung hält er.
„Wir sind da. Steig aus.“ Mit dem Lift fahren sie in den siebten Stock.

„Das ist Nicki.“
„Aber sie bewegt sich nicht!“
Nicki sieht eigenartig aus, irgendwie alt. Sie ist so groß wie Nora und sitzt auf einem Stuhl, die Hände reglos im Schoß gefaltet. Ihre Haut hat die braunrote Farbe von Bratäpfeln und die Augen starren blicklos.
„Das ist mein kleines Mädchen. Und du wirst mit ihr spielen. Später.“ Frank streichelt Noras Haar. Das heißt, er will es, kommt jedoch nicht dazu. Seine Hand schwebt über ihrem Kopf. Sie taucht darunter weg und schreit: „Die lebt doch nicht! Du lügst auch! Wie die Irene!“
Sie weicht zurück, bis dorthin, wo die Puppe sitzt, die einen modrigen Geruch verströmt.
Nora sagt zu ihr: „Warum lügen nur alle Erwachsenen? Weißt du es?“
Frank grinst, macht einen Riesenschritt, hebt Nora hoch, presst sie an sich. Sie spürt die große Hand auf ihrem Po und schlägt mit der Faust auf seinen Kopf ein.
„Hilfe!“, brüllt Nora.

Da geht ein Zucken durch das kleine, verschrumpelte Mädchen, es hebt ruckartig die Arme, hüpft steif vom Stuhl herunter und marschiert auf den erstarrten Frank zu. Nora schlüpft aus seinem Griff.
Nicki raunt: „Niemals wieder …“
Er fällt um wie ein Stück Holz. Schnappt nach Luft, dreht die Augen nach oben und hinten, dass Nora nur das Weiße sieht, zuckt und rührt sich nicht mehr.
Der Mund der Puppe, die neben Frank steht, öffnet sich weit, heraus taumelt ein Schmetterling, groß, mit blauschwarzen Kringeln auf den Samtflügeln. Nora läuft zum Fenster, öffnet es. Noch mehr bunt schillernde Falter folgen, tanzen um sie herum und flattern hinaus. Nora hat das Gefühl, dass die Schmetterlinge der ganzen Welt in dem Puppenmädchen versammelt sind. So viele schwirren aus ihr heraus.
„Fliegt, ihr Kinder, fliegt …“ Sie winkt ihnen nach. Als alle fort sind, schließt sie das Fenster.
Das Bratapfelmädchen Nicki liegt jetzt auf Franks Körper, ihre Hand wie eine Klaue um seinen Hals gekrallt.

Nora schultert den Rucksack und macht sich wieder auf den Weg. Nach Ostsee.







2. Fassung: Anfang gekürzt, Teddy raus, Dialog mit Mutter (Schmetterlinge) umgedreht, Kontaktaufnahme von Frank zu Nora etwas verstärkt.

Noras Reise

Nora steigt auf ihr Bett und nimmt das gerahmte Foto von Mama vom Nagel. Beinahe hätte sie es vergessen. Sie zwängt es in den Rucksack, schultert ihn und tippelt auf Zehenspitzen durch das Haus zur Eingangstür. Auch wenn kaum Gefahr besteht, ertappt zu werden, schleicht sie die Treppe hinunter. Papa ist, wie fast immer, auf Reisen und so früh am Morgen schnarcht die Kinderfrau Irene noch. Irene schläft viel. Und sie lügt. Was die alles erzählt!
Wenn Papa fragt, was sie mit Nora so alles macht, erfindet sie tolle Ausflüge in den Tierpark, auf den Spielplatz, ins Schwimmbad oder Kino.

„Ich mag die Irene nicht, Papa.“, sagte Nora einmal.
Er nahm sie auf den Schoß und streichelte ihren Kopf.
„Meine kleine Prinzessin, weißt du, wir sind auf ihre Hilfe angewiesen. Sobald etwas Zeit ist und ich länger zu Hause bin, suchen wir eine andere, die du magst. Ich kann dich hier nicht allein lassen.“
Nach Noras fünftem Geburtstagsfest brachte Mama die anderen Kinder mit ihrem Auto heim. Auf der Rückfahrt starb sie bei einem Unfall. Der Lastwagen kam von der Fahrbahn ab. Nora hatte an der Tür gelauscht, als Papa am Telefon mit jemand darüber sprach.
Zur ihr sagte er: „Du musst jetzt tapfer sein, Maus. Deine Mami ist zu den Engeln gegangen.“
Dann kam die Irene ins Haus.
„Ich bin aber viel alleiner als du denkst, nimm mich mit, Papa!“
Da schüttelte er den Kopf. Traurig.

Deswegen sagt sie schon lange nichts mehr. Jetzt wird sie ihm beweisen, dass sie groß genug ist. Leise zieht sie die Tür hinter sich zu, marschiert mit festem Schritt die Straße entlang. An den Gärten der Nachbarn vorbei. Jeder einzelne voll mit Blumen in allen möglichen Farben. Ihr eigener ist nicht mehr besonders. Der Gärtner Luigi mäht den Rasen, stutzt die Hecken, das ist alles.

Mama hat immer eine Menge bunte Blumen gepflanzt. Nora half ihr dabei. Farbenprächtige Falter umschwärmten sie.
„Ich weiß was, Mami!“
„Hast du dir wieder was für mich ausgedacht?“
Mama mochte Noras Geschichten und schrieb sie alle in ein dickes Buch.
„Für später“, sagte sie, „damit du nie vergisst, was für ein fantasievolles Mädchen du bist.“
Mama wischte die Erde von den Händen. Sie setzte sich in die Wiese und nahm Nora auf den Schoß.
„Weißt du, was Schmetterlinge in Wirklichkeit sind?“
Mama machte ein gespanntes Gesicht, Nora kicherte, sie mochte das. Dann fuhr sie fort: „Schmetterlinge sind Kinderseelen. Wenn ein Kind etwas ganz Böses erlebt hat und sterben muss, dann bekommt es ein Ferienjahr als Schmetterling geschenkt.“
„Oh, das ist aber schön, Nora!“
„Glaubst du, ich werde auch einmal ein Schmetterlingsjahr leben?“
Mama lachte und drückte sie an sich. „Ach wo! Niemand wird dir was tun. Papa und ich sorgen dafür.“

Auf der Hauptstraße angekommen, stellt Nora sich an die Haltestelle. Während sie auf die Bahn wartet, fällt ihr die blöde Irene wieder ein. Beinahe den ganzen Tag sitzt die vor dem Fernseher und schaut Menschen zu, die reden. Manchmal streiten sie miteinander. Die meisten sind hässlich.
Abends schickt sie Nora allein ins Bett. Ohne eine Geschichte vorzulesen, bei der sie gut einschlafen könnte. Lange liegt sie wach, wenn Papa nicht da ist. Vor allem bei Vollmond ist das scheußlich. Die Linde vor dem Fenster wirft Schatten herein, die sich wie Gespenster bewegen. Es sieht aus, als würden die Stofftiere auf dem Regal lebendig werden. Schnell zieht sie dann die Decke über den Kopf. Lieber will sie ersticken als die tanzenden Wände und Spielsachen zu sehen. Sie hasst das.

Die Straßenbahn kommt, Nora klettert hinein.
„Hauptbahnhof Hamburg“, schnarrt der Lautsprecher. Geschafft. Papa wird begeistert sein, wenn er sieht, wie gut Nora das alles kann. Bestimmt nimmt er sie auf die nächste Reise mit.

Die Halle ist riesig, der Weg zu den Fahrkartenschaltern kommt Nora ewig vor. Abgesehen von einem Reinigungsmann, der mit einem ganz breiten Wischmopp über den Boden fährt und den paar Menschen in Lumpen, die auf Wartebänken schlafen, neben sich Flaschen mit Bier oder Wein, ist nichts los hier.
Weil sie noch nicht lesen kann, fragt sie den Mann hinter dem Glasschutz, welcher Zug zum Meer fährt.
Er starrt sie lange an. Nora will schon zum Nebenschalter gehen, da sagt er schnell: „Zu welchem Meer, Kleine?“
„Meer ist Meer, oder?“
Der Kartenverkäufer grinst. „Es gibt viele Meere.“
Sie holt das Foto aus dem Rucksack. „Dieses Meer!“
Nora schiebt es durch die Öffnung in der Abtrennung. Der Mann studiert das Bild. Es zeigt Mama am Meer. Auf dem Kopf trägt sie einen hellblauen Strohhut mit langen Seidenbändern, die der Wind mit den blonden Locken vermischt. Sie lacht und winkt in die Kamera.
„Es könnte die Ostsee sein ...“
Im Hintergrund sieht man Strandkörbe.
„An der Nordsee sieht die Küste anders aus“, sagt er und reicht ihr die Aufnahme zurück. Er hält dabei ihre Hand fest. Seine fühlt sich klebrig an.
„Bitte einen Fahrschein nach Ostsee.“ Zehn Euro hat sie von ihrem Taschengeld für die Reise gespart.
Neugierig fragt er: „Kleine, wie alt bist du denn?“
„Bald sechs“, antwortet sie, entzieht ihm ihre Hand und kramt den Geldschein aus dem Rucksack.
„Dann reist du gratis. Erst nach dem nächsten Geburtstag musst du ein Ticket bezahlen.“
„Das ist gut.“ Sie steckt den Schein zurück. „Damit kann ich in Ostsee was zu essen kaufen.“
Der Schalterbeamte zwinkert ihr zu. „Hast du heute schon was gegessen?“
„Nein.“
„Ich heiße Frank und habe eine Tochter zu Hause, die ist auch sechs. Nicki lacht fast immer, im Gegensatz zu dir. Warum bist du denn so ernst?“
Nora weiß nicht, was er meint und schweigt lieber.
„Ist das deine Mama auf dem Foto? Besuchst du sie am Meer?“, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf. „Sie ist tot.“
„Und dein Papa?“ Er wischt über seine Augen, schnäuzt sich und tupft mit dem Taschentuch die Stirn trocken.
Nora legt die Unterarme auf das Schalterbrett, stützt ihr Kinn darauf und erzählt. „Er kauft in fremden Ländern Tee ein. Sogar in China war er, das ist ganz weit weg. Deswegen passt die Kinderfrau auf mich auf. Warum sie so heißt, weiß ich nicht. Weil, machen tut die nie was mit mir und ich bin doch ein Kind, oder?“ Sie verdreht die Augen.
„Was willst du denn am Meer? Das Geld wird bald alle sein.“
Nora runzelt die Stirn. Wieso versteht der Mann sie nicht? Langsam und deutlich sagt sie: „Damit Papa sieht, wie groß ich schon bin. So weiß er, dass er mich mitnehmen kann. Bin dann nicht mehr so einsam. Verstehst du jetzt?“
Da steht Frank auf, schaut über die Abgrenzung zum Nebenschalter und spricht mit dem Mann, der dort sitzt. Wendet sich wieder Nora zu: „Warte, ich komm raus.“
Er verschwindet durch eine Tür. Kurz darauf steht er neben ihr.
„Weißt du was?“ Frank greift nach Noras Rucksack. „Wir fahren jetzt zu mir nach Hause, da bekommst du etwas zu essen, ehe du deine lange Reise antrittst.“
„Nein, danke. Ich würde lieber in den Zug nach …“
„Tja, der nächste fährt erst wieder am Abend und kleine Mädchen dürfen sich hier nicht herum treiben. Dann bringe ich dich besser zu deiner Kinderfrau zurück.“
Nora versteift sich. „Nein“, sagt sie bestimmt.
„Wie machen wir es also? Bei mir könntest du mit Nicki spielen und danach bringe ich dich pünktlich hierher.“ Frank grinst aufmunternd.
„Ja, wirklich?“
Er nimmt mit festem Griff ihre Hand. „Versprochen!“
„Darfst du einfach weg von deinen Fahrscheinen?“
„Weißt du, ich hatte Nachtbereitschaft und nun ist Schluss für mich.“
Nora nickt beruhigt. Sie steigt zu Frank ins Auto, er fährt los.
Auf dem Parkplatz vor einer Hochhaussiedlung hält er.
„Wir sind da. Steig aus.“ Mit dem Lift fahren sie in den siebten Stock.

„Das ist Nicki.“
„Aber sie bewegt sich nicht!“
Nicki sieht eigenartig aus, irgendwie alt. Sie ist so groß wie Nora und sitzt auf einem Stuhl, die Hände reglos im Schoß gefaltet. Ihre Haut hat die braunrote Farbe von Bratäpfeln und die Augen starren blicklos.
„Das ist mein kleines Mädchen. Und du wirst mit ihr spielen. Später.“ Frank streichelt Noras Haar. Das heißt, er will es, kommt jedoch nicht dazu. Seine Hand schwebt über ihrem Kopf. Sie taucht darunter weg und schreit: „Die lebt doch nicht! Du lügst auch! Wie die Irene!“
Sie weicht zurück, bis dorthin, wo die Puppe sitzt, die einen modrigen Geruch verströmt.
Nora sagt zu ihr: „Warum lügen nur alle Erwachsenen? Weißt du es?“
Frank grinst, macht einen Riesenschritt, hebt Nora hoch, presst sie an sich. Sie spürt die große Hand auf ihrem Po und schlägt mit der Faust auf seinen Kopf ein.
„Hilfe!“, brüllt Nora.

Da geht ein Zucken durch das kleine, verschrumpelte Mädchen, es hebt ruckartig die Arme, hüpft steif vom Stuhl herunter und marschiert auf den erstarrten Frank zu. Nora schlüpft aus seinem Griff.
Nicki raunt: „Niemals wieder …“
Er fällt um wie ein Stück Holz. Schnappt nach Luft, dreht die Augen nach oben und hinten, dass Nora nur das Weiße sieht, zuckt und rührt sich nicht mehr.
Der Mund der Puppe, die neben Frank steht, öffnet sich weit, heraus taumelt ein Schmetterling, groß, mit blauschwarzen Kringeln auf den Samtflügeln. Nora läuft zum Fenster, öffnet es. Noch mehr bunt schillernde Falter folgen, tanzen um sie herum und flattern hinaus. Nora hat das Gefühl, dass die Schmetterlinge der ganzen Welt in dem Puppenmädchen versammelt sind. So viele schwirren aus ihr heraus.
„Fliegt, ihr Kinder, fliegt …“ Sie winkt ihnen nach. Als alle fort sind, schließt sie das Fenster.
Nicki liegt jetzt auf Franks Körper, ihre Hand wie eine Klaue um seinen Hals gekrallt.

Nora schultert den Rucksack und macht sich wieder auf den Weg. Nach Ostsee.




1. Fassung

Nora schnauft angestrengt. Der Rucksack will den Teddy einfach nicht schlucken. Prallvoll ist er. Dabei hat sie nur das Nötigste eingepackt. Die Jeanslatzhose nimmt viel Platz weg, aber auch im Sommer gibt es kalte Tage. Auf die zwei Paar Lieblingssöckchen mit den rosa Spitzenrändern und den roten Pullover mit den Wollpuscheln am Ausschnitt kann sie nicht verzichten. Geschenke von Mama. Die letzten.

Nach Noras fünftem Geburtstagsfest brachte Mama die anderen Kinder mit ihrem Auto heim. Auf der Rückfahrt starb sie bei einem Unfall. Der Lastwagen kam von der Fahrbahn ab.
Papa sagte: „Du musst jetzt tapfer sein, Maus. Deine Mami ist zu den Engeln gegangen. Wir sind nun auf uns allein gestellt.“

Sie steigt auf ihr Bett und nimmt das Bild von der Wand. Beinahe hätte sie es vergessen. Nora zwängt es in den Rucksack. Teddy Felix glubscht sie mit seinen blauen Augen an.
„Keine Angst, Felix, dich nehme ich unter meinem Arm mit.“ Sie schultert den Rucksack, schnappt sich den Plüschbären und tippelt auf Zehenspitzen durch das Haus zur Eingangstür. Auch wenn kaum Gefahr besteht, ertappt zu werden, schleicht sie die Treppe hinunter. Papa ist, wie fast immer, auf Reisen und so früh am Morgen schnarcht die Kinderfrau Irene noch. Irene schläft viel. Und sie lügt. Was die alles erzählt!
Wenn Papa fragt, was sie mit Nora so alles macht, erfindet sie tolle Ausflüge in den Tierpark, auf den Spielplatz, ins Schwimmbad oder Kino.
„Ich mag die Irene nicht, Papa.“, sagte Nora einmal.
Dann nahm er sie auf den Schoß, streichelte ihren Kopf und antwortete: „Meine kleine Prinzessin, weißt du, wir sind auf ihre Hilfe angewiesen. Sobald etwas Zeit ist und ich länger zu Hause bin, suchen wir eine andere, die du magst. Ich kann dich hier nicht allein lassen.“
„Dann nimm mich mit, Papa!“
Da schüttelte er den Kopf. Traurig.
Deswegen sagt sie schon lange nichts mehr.
Jetzt wird sie ihm beweisen, dass sie groß genug ist. Leise zieht sie die Tür hinter sich zu, marschiert mit festem Schritt die Straße entlang. An den Gärten der Nachbarn vorbei. Jeder einzelne voll mit Blumen in allen möglichen Farben. Ihr eigener ist nicht mehr besonders. Der Gärtner Luigi mäht den Rasen, stutzt die Hecken, das ist alles.

Mama hat immer eine Menge bunte Blumen gepflanzt. Nora half ihr dabei.
„Wieso gibt es bei uns so viele Schmetterlinge, Mami?“
„Weil sie gern in der Nähe von glücklichen Menschen sind.“
„Und woher wissen die das?“
Farbenprächtige Falter umschwärmten sie. Mama nahm Nora auf den Schoß. „Sie spüren es. Schmetterlinge sind Seelen von Kindern, denen Böses widerfahren ist. Sie sind daran gestorben und dürfen nun ein Erholungsjahr als Schmetterling verbringen, ehe sie als Menschen wiedergeboren werden.“
Nora verstand nicht genau, was sie meinte, doch die Idee gefiel ihr.
„Werde ich denn auch einmal ein Schmetterlingsjahr leben?“
Mama lachte und drückte sie an sich. „Ach wo! Niemand wird dir was tun. Papa und ich sorgen dafür.“

Auf der Hauptstraße angekommen, stellt Nora sich an die Haltestelle. Während sie auf die Bahn wartet, fällt ihr die blöde Irene wieder ein. Beinahe den ganzen Tag sitzt die vor dem Fernseher und schaut Menschen zu, die reden. Manchmal streiten sie miteinander. Die meisten sind hässlich.
Abends schickt sie Nora allein ins Bett. Ohne eine Geschichte vorzulesen, bei der sie gut einschlafen könnte. Lange liegt sie wach, wenn Papa nicht da ist. Vor allem bei Vollmond ist das scheußlich. Die Linde vor dem Fenster wirft Schatten herein, die sich wie Gespenster bewegen. Es sieht aus, als würden die Stofftiere auf dem Regal lebendig werden. Schnell zieht sie dann die Decke über den Kopf. Lieber will sie ersticken als die tanzenden Wände und Spielsachen zu sehen. Sie hasst das.

Die Straßenbahn kommt, Nora klettert hinein.
„Hauptbahnhof Hamburg“, schnarrt der Lautsprecher. Geschafft. Stolz steigt sie aus. Papa wird begeistert sein, wenn er sieht, wie gut Nora das alles kann. Bestimmt nimmt er sie auf die nächste Reise mit.
Die Halle ist riesig, der Weg zu den Fahrkartenschaltern kommt Nora ewig vor. Abgesehen von einem Reinigungsmann, der mit einem ganz breiten Wischmopp über den Boden fährt und den paar Menschen in Lumpen, die auf Wartebänken schlafen, neben sich Flaschen mit Bier oder Wein, ist nichts los hier.
Weil sie noch nicht lesen kann, fragt sie einen der Männer hinter dem Glasschutz, welcher Zug zum Meer fährt.
„Zu welchem Meer, Kleine?“
„Meer ist Meer, oder?“
Der Kartenverkäufer schüttelt den Kopf. „Es gibt viele Meere.“
Sie holt das Foto aus dem Rucksack. „Dieses Meer!“
Nora schiebt es durch die Öffnung in der Abtrennung. Der Mann studiert das Bild. Es zeigt Mama am Meer. Auf dem Kopf trägt sie einen hellblauen Strohhut mit langen Seidenbändern, die der Wind mit den blonden Locken vermischte. Sie lacht und winkt in die Kamera.
„Es könnte die Ostsee sein ...“
Im Hintergrund sieht man Strandkörbe.
„An der Nordsee sieht die Küste anders aus“, sagt er und reicht ihr die Aufnahme zurück.
„Bitte einen Fahrschein nach Ostsee.“ Zehn Euro hat sie von ihrem Taschengeld für die Reise gespart. Nora gibt dem Mann den Schein.
Neugierig fragt er: „Kleine, wie alt bist du denn?“
„Bald sechs“, antwortet sie und spreizt zugleich alle Finger der einen Hand, nimmt den Daumen der anderen dazu.
„Dann reist du gratis. Erst nach dem nächsten Geburtstag musst du ein Ticket bezahlen.“
„Das ist gut.“ Sie legt den Schein in die Börse zurück. „Damit kann ich in Ostsee was zu essen kaufen.“
Der Schalterbeamte zwinkert ihr zu. „Ich heiße Frank und habe eine Tochter zu Hause, die ist auch sechs. Nicki lacht fast immer, im Gegensatz zu dir. Warum bist du denn so ernst?“
Nora weiß nicht, was er meint und schweigt lieber.
„Ist das deine Mama auf dem Foto? Besuchst du sie am Meer?“, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf. „Sie ist tot.“
„Und dein Papa?“ Er wischt über seine Augen, schnäuzt sich und tupft mit dem Taschentuch die Stirn trocken.
Nora legt die Unterarme auf das Schalterbrett, stützt ihr Kinn darauf und erzählt. „Er kauft in fremden Ländern Tee ein. Sogar in China war er, das ist ganz weit weg. Deswegen passt die Kinderfrau auf mich auf. Warum sie so heißt, weiß ich nicht. Weil, machen tut die nie was mit mir und ich bin doch ein Kind, oder?“ Sie verdreht die Augen.
„Was willst du denn am Meer? Das Geld wird bald alle sein.“
Nora runzelt die Stirn. Wieso versteht der Mann sie nicht? Langsam und deutlich sagt sie: „Damit Papa sieht, wie groß ich schon bin. So weiß er, dass er mich mitnehmen kann. Bin dann nicht mehr so einsam. Verstehst du jetzt?“
Da steht Frank auf, schaut über die Resopalwand und spricht mit dem Mann, der dort sitzt. Wendet sich wieder Nora zu: „Warte, ich komm raus.“
Er verschwindet durch eine Tür. Kurz darauf steht er neben ihr.
„Nimm deinen Teddy. Ich zeig dir was.“ Frank greift nach Noras Rucksack. „Wir fahren jetzt zu mir nach Hause, da ist es lustiger als an der Ostsee.“
„Nein, danke. Ich würde lieber in den Zug nach …“
„Tja, der nächste fährt erst wieder am Abend und kleine Mädchen dürfen sich hier nicht herum treiben. Dann bringe ich dich besser zu deiner Kinderfrau zurück.“
Nora versteift sich. „Nein“, sagt sie bestimmt.
„Wie machen wir es also? Bei mir könntest du mit Nicki spielen und danach bringe ich dich pünktlich hierher.“ Frank grinst aufmunternd.
„Ja, wirklich?“, fragt sie und sieht ihn an.
Er nimmt mit festem Griff ihre Hand. Seine ist ganz klebrig.
„Darfst du einfach weg von deinen Fahrscheinen?“
„Weißt du, ich hatte Nachtbereitschaft und nun ist Schluss für mich.“
Nora nickt beruhigt. Sie steigt zu Frank ins Auto, er fährt los.
Auf dem Parkplatz vor einer Hochhaussiedlung hält er.
„Wir sind da. Steig aus.“ Mit dem Lift fahren sie in den siebten Stock.
„Das ist Nicki.“
„Aber sie bewegt sich nicht!“
Nicki sieht eigenartig aus, irgendwie alt. Sie ist so groß wie Nora und sitzt auf einem Stuhl, die Hände reglos im Schoß gefaltet. Ihre Haut hat die braunrote Farbe von Bratäpfeln und die Augen starren blicklos.
„Das ist mein kleines Mädchen. Und du wirst mit ihr spielen. Später.“ Frank streichelt Noras Haar. Das heißt, er will es, kommt jedoch nicht dazu. Seine Hand schwebt über ihrem Kopf. Sie taucht darunter weg und schreit: „Die lebt doch nicht! Du lügst auch! Wie die Irene!“
Sie weicht zurück, bis dorthin, wo die Puppe sitzt, die einen modrigen Geruch verströmt.
Nora sagt zu ihr: „Warum lügen nur alle Erwachsenen? Weißt du es?“
Frank grinst, macht einen Riesenschritt, hebt Nora hoch, presst sie an sich. Sie spürt die große Hand auf ihrem Po. Mit Felix schlägt sie auf seinen Kopf ein.
„Hilfe!“, brüllt Nora.

Da geht ein Zucken durch das kleine, verschrumpelte Mädchen, es hebt ruckartig die Arme, hüpft steif vom Stuhl herunter und marschiert auf den erstarrten Frank zu. Nora schlüpft aus seinem Griff.
Nicki raunt: „Niemals wieder …“
Er fällt um wie ein Stück Holz. Schnappt nach Luft, dreht die Augen nach oben und hinten, dass Nora nur das Weiße sieht, zuckt und rührt sich nicht mehr.
Der Mund der Puppe, die neben Frank steht, öffnet sich weit, heraus taumelt ein Schmetterling, groß, mit blauschwarzen Kringeln auf den Samtflügeln. Nora läuft zum Fenster, öffnet es.
Noch mehr bunt schillernde Falter folgen, tanzen um sie herum und flattern hinaus.
Nora hat das Gefühl, dass die Schmetterlinge der ganzen Welt in dem Puppenmädchen versammelt sind. So viele schwirren aus ihr heraus.
„Fliegt, ihr Kinder, fliegt …“ Sie winkt ihnen nach. Als alle fort sind, schließt sie das Fenster.
Nicki liegt jetzt auf Franks Körper, ihre Hand wie eine Klaue um seinen Hals gekrallt.

Nora schultert den Rucksack, klemmt Felix unter den Arm und macht sich wieder auf den Weg. Nach Ostsee.


(c)ELsa Rieger
Zuletzt geändert von Elsa am 20.05.2007, 11:02, insgesamt 3-mal geändert.
Schreiben ist atmen

Sam

Beitragvon Sam » 06.05.2007, 10:18

Liebe Elsa,

ich habe den Text jetzt ein paar Mal gelesen und mir ist, als hätte ich einen Film gesehen. Der Text, vor allem das Ende, erzeugt in mir Bilder, die ich so schnell nicht vergessen werde.

Du erzählst aus der Sicht eines sechsjährigen Kindes. Jeder, der sich ernsthaft mit dem Schreiben von Geschichten auseinandersetzt weiß, wie schwierig das ist. Man kann sich ja fast nur aufs Beobachten beschränken. Reflexives darf nur am Rande und dem Alter entsprechend auftauchen. Ich denke, dass ist dir weitestgehend gelungen (gut, Resopalwand würde ein Kind glaube ich nicht sagen). Streiten könnte man sich, ob die Erzähl- und Sichtweise einem sechsjährigen Mädchen entspricht, oder ob sie nicht ein wenig älter sein müsste.

Wie schon erwähnt, finde ich das Ende sehr gelungen. Hier bekommt auch das Gespräch mit der Mutter einen Sinn, das ich zunächst etwas befremdlich fand. Aber es ist sehr gut gesetzt. Spätestens hier dämmert dem Leser, dass es um mehr gehen könnte, als nur um ein Mädchen, das seine Mutter verloren hat, und die Welt nun für sich neu ordnen muss. Freilich ahnt man schwer den folgen Gang der Geschichte. Daran liegt für mich auch der einzige wirkliche Schwachpunkt der Geschichte. Denn im Grunde sind es zwei Geschichten, die hier erzählt werden. Es gibt zwei Handlungsstränge, die miteinadner konkurieren und sich so gegenseitig in Wirkung und Intensität schwächen. Man könnte sogar sagen, die Geschichte, die am Anfang erzählt wird - nämlich die eines Mädchens, das seine Mutter verloren hat und aus Angst, den Vater auch noch zu "verlieren" eine Reise unternimmt - wird von der zweiten Haupthandlung - das Zusammentreffen mit dem perversen Frank - regelrecht an die Seite gedrückt bzw. abgewürgt. Denn da, wo du die Geschichte enden lässt, kann sie nicht zu Ende sein.

Du siehst, ich bin einerseits sehr angetan von deiner Geschichte, von der Idee, die ihr zugrunde liegt und auch von der sprachlichen Qualität des Textes. Auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass durch die Gestaltung des Textes, die Art wie du hier komponiert und zusammengesetzt hast, eine großer Teil des Potentiales, den diese Geschichte ohne Zweifel hat, unterdrückt, bzw. nicht ausgeschöpft wird.

Es war dennoch sehr, sehr anregend sich mit dem Text auseinander zu setzen. Und dieses Auseinandersetzen ist mit diesem Kommentar bestimmt noch nicht abgeschlossen.

Herzliche Grüße

Sam

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 06.05.2007, 10:40

Lieber Sam,

dein wunderschönes Lob, für das ich sehr dankbar bin (habe ich doch die Geschichte mit etwas Bauchweh reingestellt) zitiere ich nicht.

Aber das hier:
Freilich ahnt man schwer den folgen Gang der Geschichte.
Das ist schon mal übel.

Daran liegt für mich auch der einzige wirkliche Schwachpunkt der Geschichte. Denn im Grunde sind es zwei Geschichten, die hier erzählt werden. Es gibt zwei Handlungsstränge, die miteinadner konkurieren und sich so gegenseitig in Wirkung und Intensität schwächen. Man könnte sogar sagen, die Geschichte, die am Anfang erzählt wird - nämlich die eines Mädchens, das seine Mutter verloren hat und aus Angst, den Vater auch noch zu "verlieren" eine Reise unternimmt - wird von der zweiten Haupthandlung - das Zusammentreffen mit dem perversen Frank - regelrecht an die Seite gedrückt bzw. abgewürgt. Denn da, wo du die Geschichte enden lässt, kann sie nicht zu Ende sein.


Macht mich nun nachdenklich. Ich wollte zeigen und die Wünsche der Nora mit den Gefahren da draußen verknüpfen. Sie länger zu schreiben, glaube ich nicht. Was tun? Besseres Verknüpfen der Handlungsstränge? Frank im ersten Teil "ankündigen"?

Wenn die Auseinandersetzung mit dem Text für dich noch nicht zu Ende ist, habe ich noch Hoffnung, auf einen grünen Zweig zu kommen.

Fragende und herzliche Grüße,
ELsa
Schreiben ist atmen

Sam

Beitragvon Sam » 06.05.2007, 11:01

Liebe Elsa,

Aber das hier:

Zitat:Freilich ahnt man schwer den folgen Gang der Geschichte.

Das ist schon mal übel.


Ach nein, das ist nicht übel. Aber man rechnet halt damit, die kleine Nora auf ihrer Reise zu begleiten und natürlich auch, am Ende zu sehen, wohin sie diese Reise führt. Das ist ja auch der Titel - Noras Reise. Diese Geschichte aber wird nur halb erzählt.

Ich glaube ja, dass du dich für eine Sache entscheiden musst. Willst du Reise in den Mittelpunkt stellen, oder die Begegnung mit Frank. Beides auf diesem kurzen Raum, das wird m.E. schwierig.

Würde ich vor die Wahl gestellt, ich entschiede mich für Frank und vor allem die Schmetterlinge. Das ist wirklich ein so starkes Bild.

Aber es ist dein Text liebe Elsa, und meine sehr subjektive Meinung ist nur eine von den vielen, die da noch kommen werden.

Liebe Grüße

Sam

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 06.05.2007, 11:41

Lieber Sam,

Auf jeden Fall will ich Frank und die Schmetterlinge ....

Das heißt, die Reise muss in den Hintergrund treten, inhaltlich und auch im Titel.
Das hilft mir schon ziemlich, um weiter nachzudenken.

Ja, eine Meinung von vielen, Sam, klar. Aber ich schätze Meinungen, die sich mit meinen "Plotsorgen" decken, eben hoch!

Vielen Dank und liebe Grüße,
ELsa
Schreiben ist atmen

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 07.05.2007, 19:58

Liebe Elsa,

ich finde es auch gut, dass die Geschichte nicht so weitergeht, wie es am Anfang den Anschein hat, sich also nicht nur auf den Tod der Tochter beschränkt, sondenr mehr vom Alleinsein erzählt.

Für mich ist der Ton der Geschichte das einzige grundsätzliche Problem. Ich stimme Sam zu, dass es sehr schwer ist, den Ton eines Kindes zu treffen, ich glaube der Versuch führt hier eher dazu, dass der Ton klingt wie eine Geschichte, die für Kinder ist und nicht von einem Kind handelt. Das kommt vor allem durch die Motive: Teddybär, Puppe, Schmetterlinge (die ich am Schluss allerdings genau wie Sam wieder gut aufgegriffen finde)...auch das Gespräch mit der Mutter ist schwierig. Durch diese Geschichte bekommt für mich die Geschichte einen etwas pathetischen Touch. Dieser Ton wäre an sich nicht problematisch, aber die Wende zum zweiten Thema zeigt dann doch, dass es sich um einen Text für "Erwachsene" Leser handelt. Darum würde ich die Motivebene etwas aufarbeiten, ich glaube, das ist schon das einzige, was nötig ist...

Das Bild der Falter würde ich allerdings so lassen, gerade die etwas (für sich allein genommene für mich) süße Färbung zu Beginn, schafft dann nachher die Wirkung zum "Trauma~ton".

Aber die ganze Teddybärszene würde ich zu Gunsten eines schlichteren Auftaktes streichen. Ich denke, du hast es vornehmlich gewählt, um sofort kenntlich zu machen, dass es sich um ein junges Kind handelt, ich denke aber, da gäbe es ein originelleres Anzeichen?(ich habe immer die Originalität von Soal im Hinterkopf).

Gleiches gilt für das Puppenmotiv - Teddy, Puppe, schmetterling zusammen sind zu oft Teil eines so individuellen.-psychologischem Blick, der nicht bei Analysen stehen bleibt und zusammen wirken sie nicht richtig, weil sie sich nicht entfalten können, weil ich sie zu typisch lese (ich muss vor allem an Filme denken, da kommen diese Motive häufig vor...).

Als zweites würde ich vielleicht noch das Gespräch zwischen Bahnangestelltem und Nora etwas variieren...ich dachte beim Lesen bis zur plötzlichen Wende, warum der Bahnangestellte denn überhaupt mit ihr so redet...(einem sechsjhrigem Kind eine Karte verkaufen etc.) dann kommt der unvorbereitete Wechsel...ich würde es von Anfang so aussehen lassen, dass nach und nach ein ungutes gefühl entsteht...

Das klingt jetzt grudnsätzlicher, als es ist - ich glaube nur, dass das wichtige Punkte sind. Dann trägt die Geschichte ihren doppelten Strang, weil dann erkennbar wird, dass es eihgentlich gar nicht zwei sind, sondenr nur einer...

Liebe Grüße,
Lisa
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Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon Elsa » 07.05.2007, 20:35

Liebe Lisa,

ich danke dir sehr für die Auseinandersetzung mit dem Text. Diese detaillierten Anregungen sind wirklich gut und ich werde versuchen, sie umzusetzen.

Wie ich das allerdings mit der Mutter und den Schmetterlingen hinkriege ... nun wir werden sehen.

Nochmals danke schön, :blumen: ich schnappe mir deine Überlegungen und melde mich mit Überarbeitung wieder.

Lieben Gruß
ELsa
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Beitragvon Lisa » 07.05.2007, 20:36

Liebe Elsa,

na Mutter und Schmetterlinge so lassen, sag ich doch ;-)) ( :blumen: ) *gg

Liebe Grüße,
Lisa
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Beitragvon Elsa » 07.05.2007, 20:38

Liebe Lisa

Öhm, du schriebst, das sei
auch das Gespräch mit der Mutter ist schwierig. Durch diese Geschichte bekommt für mich die Geschichte einen etwas pathetischen Touch


Deswegen dachte ich ...

Nicht?

Verwirrte Grüße,
ELsa
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Beitragvon Lisa » 07.05.2007, 20:56

Liebe Elsa,

ohja, ja!

Also erstmal soll das erste Geschichte "passage" heißen, entschuldige @wirrniss. Und dann nochmal ungenau: ich meinte nur den Dialog! Die umliegende Anlage (Schmetterlinge etc.) finde ich gut, wie sie ist. Entschuldige die wirren Tipper.

Liebe grüße,
Lisa
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Beitragvon Elsa » 07.05.2007, 20:59

Ach, Lisa,

dann bin ich doch nicht ganz verhuscht *g*
Ok, der Dialog! Gut, das verstehe ich nun.

Lieben Gruß und Dank,
ELsa
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Beitragvon Elsa » 08.05.2007, 19:17

Liebe Lisa, lieber Sam,

Ich habe versucht die Anregungen umzusetzen und die 2. Fassung eingestellt.

Vielen Dank! Es war sehr hilfreich. :hut0039:

Lieben Gruß
Elsa
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Sam

Beitragvon Sam » 10.05.2007, 07:01

Hallo Elsa,

die zweite Version hat meine Bedenken, was die zwei Handlungsstränge angeht, noch nicht ganz ausgeräumt. Aber das macht nichts.
Es gibt Texte, die haben eine eindringliche Bildhaftigkeit, sodass man sie für lange Zeit nicht mehr vergisst. Und das sind nicht unbedingt perfekte Texte, sondern solche, die in mir etwas auslösen, jenseits selbstanerzogener Leseansprüche. Was von solchen Texten bleibt, ist die Erinnerung an ein Gefühl, welches einem beim Lesen beschlich und das man sehr genossen hat.

Aus diesem Grund: Danke!

Liebe Grüße

Sam

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Beitragvon Elsa » 10.05.2007, 09:21

Lieber Sam,

die zweite Version hat meine Bedenken, was die zwei Handlungsstränge angeht, noch nicht ganz ausgeräumt. Aber das macht nichts.
Ich habe lange nachgedacht darüber, aber ich kann es nicht anders schreiben.

Ich überlege aber noch, ob ich nicht den Titel in: Nora und die Schmetterlinge ändern sollte? Das würde den Fokus verschieben.

Danke, dass du das mit der Perfektion bzw. dem Ergreifen durch das Gefühl *im* Text sagst. Ich möchte wirklich gern gute, unterhaltsame Geschichten schreiben, die zu greifen sind. Ich schreibe keine große Literatur, wie ich z.B. Lisas oder Peters Texte sehe. Diesen Anspruch kann ich auch nicht erfüllen. Ich schreibe Alltag. Aber der soll zu genießen sein.

Danke dir!

Lieben Gruß
ELsa
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