digitalized

Peter

Beitragvon Peter » 05.04.2007, 01:06

Digitalized
Vers. 050407


Es war ein Himmel, der aus den Prozessen entstanden war, ähnlich einem grauen Morgenhimmel, hoch über den Städten, hoch über den Dingen, hoch über den Menschen. Der Raum schien unermesslich; die Zeit ein Stillstand. Jedes schien verschwunden; das Nahe aufgelöst; das Einzelne lose. Es herrschte eine Sprache, die ein Geräusch war, Worte, Bilder, Fluten an Worten und Bildern, die sich über die Gegenstände bogen in die unabsehbare Ferne.

Ich stand in einer Hotelhalle. Um mich herum fuhren Staubsauger in einem scheinbar sinnvollen Durcheinander. Ich war eines, ein Gummibaum, ein letztes einer anderen Zeit, und hatte Furcht, hinausgeworfen zu werden. Denn es begann etwas Neues, wir würden „digitalisiert“ werden, das war ein normales Wort, eigentlich war es ein schreckliches Wort, es hatte einen sehr sauberen Klang, und seltsamerweise hatte es mit einer Fütterung zu tun, irgendein Wesen sollte kommen, ein hungriges Wesen, der Raum war dafür bereit, die Ankunft schien bestimmt, und als das Wesen dann kam, öffnete man ihm alle Türen.

Es schien beschäftigt, es schien kindlich, es war tatsächlich hungrig, es ernährte sich vom Raum, und es fraß so viel, als es eben brauchte, und es brauchte allen Raum. Es durchdrang die Gegenstände, es durchdrang die Luft, es fiel in das Licht ein, es durchdrang die Schatten – wie ich aber bemerkte, wurden manche Stellen freigelassen; ich hatte Glück, ich stand weiter hinten im Raum, und eben dort wurde dem Wesen etwas entzogen, eine Art Struktur, und das Wesen stockte, seine „Keimzellen“ verharrten, es blieb wie abgebrochene Waben stehen, schillernd herrlich vor kalter Farben.

Bis in meine Beine war die Digitalisierung vorgedrungen, sie brachen sich wie in einem Wasser. In meiner Nähe stand ein Schaukelstuhl, der wippte, und mir fiel auf, dass irgend eines an ihm verschwunden war. Er selbst war ganz in jenem Wesen, und es erschien so überaus absurd, dass er noch wippte, und wie er wippte. Er hatte irgend eines verloren.

Bei der Ankunft des Wesens hatte aus dem Hintergrund eine Frauenstimme gesprochen. Das Wesen schien von ihr geführt; sie sprach Anweisungen, die ich erst nicht verstand; wie ich aber hörte, hatte sie den Raum unterteilt, und je dann, wenn das Wesen eine der Unterteilungen passierte, setzte die Frau eine entsprechende Zahl hinzu. Die Unterteilungen nannte sie „corner“, die Zahlen gingen in die Tausende, auf jede Zahl folgte das Wort „digitalized“. Das Wesen trieb diese wie Sekunden voran, aber die Frau hatte keine Mühe und sprach in leichtem Ton.

Ich wusste nicht, warum ich mich immer noch fürchtete, schließlich war es ein ganz normaler Prozess, er war einer von vielen, nicht der erste. Er war nur eine Übersetzung. Er war die Übersetzung der Kontur in die gebrochene Kontur; der Gestalt in die gebrochene Gestalt. Es lag eine abgeschlossene, nicht zu verkehrende Logik darin, dass das Wesen kam, dass es den Raum digitalisierte. Die Digitalisierung wurde nicht als Verlust begriffen; es gab manchen, der sie als Verklärung verstand. Am Ende wurde der Raum nur bereinigt, und war er nicht viel heller geworden, war er nicht aufgewertet, alles Licht, aller Schatten war festgehalten, gleichsam sorgfältig aufgezeichnet. Es gab mich jetzt, wie ich mich nie verstanden hatte. Dort, zu meinen Füßen, schwebte ein Bild. Meine Augen waren gezeichnet, mein Mund war still.
Zuletzt geändert von Peter am 09.04.2007, 06:58, insgesamt 1-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 07.04.2007, 19:24

Lieber Peter,

ich weiß nicht, ob ich diesem Text nahe genug gekommen bin, müsste ich es mit einem Satz sagen, lautete er: Dein Text beschreibt, wie die Welt zu einem Photo angezeigt auf einem riesigen Flachbildschirms, der den neuen Himmel bildet, so sehr wird, dass sie es am Ende schon geworden ist, obwohl die Digitatilisierung ja "real" noch fortschreitet (aber dass es fortschreitet kann man ja schon als Ende begreifen, wie ein Tier, was seine beute noch isst, ja auch anzeigt, dass das Tier tot ist oder so sicher zeigt, dass es sterben wird, dass es tot ist)

Ich muss mich erst einmal ganz primitiv rantasten: Unter Digitalisierung verstehe ich in etwa die Umwandlung von ~analogen~(?) "Daten" (Wesen, Dingen, Bildern,Informationen) wie es der Ton vielleicht sehr gut beschreibt, in (zahlen)codierte Form, wobei das ganze auf "Ja"/"nein" basiert, wie es auch den Neuronen oft zugeschrieben wird (an/aus). Desweiteren dann die ganzen neuen Medien wie handys, kameras...Cds, Dvds...und all das.

Dieses Prinzip aber hinterlässt Leerstellen (sei es, dass in der analogen (=hier unseren) Welt es zwischen Ja und Nein noch "eines" gibt, das verloren geht, sei es, dass die Digitalisierung immer nur eine Annäherung (ich denke zum Beispiel an die Pixelzahlen bei Bildern, die ja immer genauer werden, aber es ginge immer noch feiner, als bisher entwickelt...bis ins Unendliche getrieben, dann merkte man, dass man die Lücke nie erhält...welcher Philosoph war das noch mit dem unendlich großen Raum, weil man ihn unendlich oft teilen kann....man läuft digital ähnlich ins Leere...auch fällt noch mehr von der "Wirklichkeit" weg...der Raum zum Beispiel, der ähnlich wie Verblauung nach hinten auf Gemälden Tiefenwirkung erzeugt, aber ohne Tiefe ist):

In meiner Nähe stand ein Schaukelstuhl, der wippte, und mir fiel auf, dass irgend eines an ihm verschwunden war. Er selbst war ganz in jenem Wesen, und es erschien so überaus absurd, dass er noch wippte, und wie er wippte. Er hatte irgend eines verloren


Schon als der Text beginnt, ist es weit anders gekommen mit der Welt, Menschen* (fleischkörperlich) kommen nicht vor, immerhin eine Frauenstimme und der Beobachter ist ein Gummibaum, immerhin noch ein vegetatives Lebewesen, der Name allerdings klignt auch schon künstlich, zumindest dahcte ich als Kind lange, Gummibäume seien nicht echt (das vermeindlich ursprünglich Unechte berichtet über das neue echte...), biegsam** assoziiere ich außerdem...durch den Schaukelstuhl in der Hotelhalle in Kombination mit dem Gummibaum lande ich dann in einem amerikanischem Hotel, warum weiß ich nicht...(bin nicht sonderlich hotelerprobt;-), nur ein Gefühl).

Mir scheint, du verankerst den "Keinort/Keinraum", der durch die Digitalisierung entsteht in jedem einzelnen Wesen und schaffst so die Perspektive darauf, was fehlt...


Zu deinen Vorversionen kann ich natürlich nichts sagen, der Text fällt für mich in jedem Fall nicht auseinander. Auch weiß ich nicht, ob der Text fertig ist, für mein Gefühl könnte er einen ganzen "Roman" lang dauern, was aber wieder auch seine Vollständigkeit belegt, trotzdem......ich könnte mir ihn schleichender vorstellen, als hielte man 10 Jahre lang die Kamera auf ein zerfallendes Haus und zeigte es nachher im Zeitraffer...Schritt für Schritt Zahl für Zahl für Zahl...Gummibaum für Schaukelstuhl...ja, das prozesshafte könnte für mich noch ein bisschen stärker, auch vor allem am Anfang, ich würde vielleicht früher ansetzen, erst wenn die Digitalisierung anfängt (oder geht das nicht?)...ein blöder Vergleich, der sich mir trotzdem aufdrängt: So wie das Nichst sich asubreitet in der unendlichen Geschichte...da fängt die Beschreibung auch nicht mit dem letzten übrig gebliebenen Gegenstand an...dadurch würde es schmerzhafter, ohne dass man von Schmerz redet, weil ja für diesen kein Platz mehr ist.

Aber ich glaube, diesen Prozess möchtest du gar nicht; für dich ist es ohne Prozess "schlimmer"?

Das ist der erste literarische Text, den ich über dieses Thema lese, und (besitmmt gibt es viele und ich kenne sie nur nicht) mir ging mit ihm eine Perspektive auf, es scheint mir im starken Sinne angebracht, darüber zu schreiben...

Ich weiß, ich bin nicht so weit gekommen...es ist etwas albern geblieben, aber es ist auch schwer! (Vor allem, weil ich denke, dass die klare Perspektive dieses Textes auch in vielen deiner anderen Texte steckt und mir hier erstmals das konkret gezeigt wurde...ich muss das erst einmal zurückeinbinden...)

Liebe Grüße,
Lisa



Kleines Detail:

hinaus geworfen ---> hinausgeworfen

Denn es begann etwas Neues, wir würden „digitalisiert“ werden


hier ist mir "digitalisiert" noch nicht gut eingebunden, die konkrete Nennung gefällt mir an der Stelle so noch nicht (sie muss natürlich bleiben, weil die Beobachtung der Sauberkeit, dann wieder sehr fein ist).


Liebe Grüße,
Lisa



* hierzu habe ich etwas Schönes gefunden:

Die Unterscheidung zwischen analog und digital enthält keine qualitative Aussage über die Bedeutung der Daten (=Semantik) und ihre Bewertung durch Menschen (=Information).


** das Attribut "biegsam" des Schaukelstuhls passt gut zu dem Bewegungsmoment des Schaukelstuhls, da gibt es eine Schnittmenge...das Prozesshafte, aber auch das dann Festgefrorene trotz bestehendem Eindruck das die Bewegung fortdauert.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Peter

Beitragvon Peter » 09.04.2007, 06:54

Liebe Lisa,

danke für deine Auseinandersetzung mit dem Text.

Der Ursprung seiner ist ja ein Traum, der übrigens kein Alptraum, sondern ein Traum getragen von einer Einsicht gewesen war, welche erst im Aufwachen erschreckend wurde. Damals versuchte ich auch, wie du, das Wort "digital" einzufangen, schlug es in Lexika nach, ich kannte es kaum. Interessant vielleicht, dass ich bis dahin geglaubt hatte, "digitalisiert" würde im Englischen "digitallied" heißen - woraus man vielleicht schließen kann, wie "äußerlich" der Traum gewesen war, also nicht innerhalb eines Subjekts.

Am ehesten sehe ich den Text inzwischen auf jener von dir am Ende zitierten Ebene; er entwirft eine Semantik eines Wortes, er schafft eine qualitative Aussage an einer Stelle, die selbst nicht qualitativ ist, oder die bisher nicht als qualitativ begriffen wurde - obwohl man sie doch hier und da auf diese Weise benutzt. Zum Beispiel erinnere ich mich an einen Werbespruch, der hieß: "digitally yours!". Ein eigentlich rein technischer Begriff wird hier zu einer Lebenshaltung - und davon spricht der Text auch.

Am meisten spricht er aber von einem "Tragenden". Er spricht von der Luft (die ja trägt, weil man sie atmet), er spricht vom Raum; er spricht im Kern von der Sprache - von der Existenz-Sprache. Und irgend etwas verschwindet. Es scheint ein "Zwischen", es scheint ein Zwischen-Ton, der verloren geht; der Kontakt; das Gespräch; die Möglichkeit zur Annäherung, die äußere Welt zu übersetzen; das Innen-Gespräch, es wird ersetzt durch eine Kürze, durch eine Verkürzung.

Mein erster Begriff damals des Traumes war der gewesen, dass ich mir dachte, ohne es zu verstehen, dass das "Runde" verloren geht; indem das Runde verloren geht, gibt es keine Rückkehr mehr. Die Dinge im Text werden eckig - übrigens wollte ich eben das im Textrhythmus einfangen - und, dieser Gedanke des Runden, er bezieht sich vielleicht auf das, was du als das "Biegsame" (das Beugbare...) bezeichnest, zu dem auch der Schaukelstuhl gehört. Alles ist zwar später noch da und es rundet noch (es "wippt"), und doch rundet es nicht mehr...

Mir scheint, du verankerst den "Keinort/Keinraum"


Ja, ich würde auch sagen, es entsteht der Kein-Ort. Weil die Verortung fehlt, die Verortung nur wird über das Runde...

Einen längeren Text daraus zu machen, wie du vorschlägst, liebe Lisa, würde ich nicht aushalten. Alles ist nur ein Hauch. Vielleicht muss ich noch lange über diesen Text nachdenken - dann vielleicht. Er gehört ja schon dazu. Es geht um den Zwischenraum, wie auch in den anderen Texten - um die, vielleicht: Semantisierung des Vorausgesetzten/ Unsichtbaren...

Danke Lisa. Ein schwieriger Text. Hier und da sieht man ein paar Schweißtropfenspuren in deinem Kommentar. Aber es schwingt viel Ahnung, soweit ich das ermessen kann, in deinem Begreifen.

Heute mal ganz liebe Grüße,
Peter

Sam

Beitragvon Sam » 09.04.2007, 08:40

Hallo Peter,

sehr interessanter Text (ebenso interessant auch Lisas Stellungnahme dazu).

Mich beschäftigt im Besondern der letzte Absatz, der mich den Text als Metapher darüber lesen lässt, wie der Mensch gesellschaftliche Veränderungen erfährt. Veränderungen, die anfangs unmerklich aber dennoch unumkehrbar sind und gegen die er sich nicht wehren kann.
Aus der Wirklichkeit wird das Abbild einer Wirklichkeit, und man selbst Teil dieses Abbilds. Man wechselt von der willkürlichen, natürlichen Form über zur digitalen, geplanten und strukturierten. Das geht einher, nicht mit dem Verlust der Form, sonder der der Form innenwohnenden Individualität. Um sich nicht ganz zu verlieren, sucht man einen Sinn in der Veränderung. Versucht sie den vertrauten Instanzen zuzuschreiben, damit sie ihren Schrecken verlieren.

es gab manchen, der sie als Verklärung verstand

Religion

Am Ende wurde der Raum nur bereinigt, und war er nicht viel heller geworden, war er nicht aufgewertet, alles Licht, aller Schatten war festgehalten, gleichsam sorgfältig aufgezeichnet.

Wissenschaft

Vielleicht haben meine Assoziationen wenig mit dem zu tun, was du dir bei dem Text gedacht hast.
Jedenfalls gefällt er mir, gerade weil er solche Gedanken auslöst und einen zwingt, eine ganze Zeit lang bei ihm zu bleiben.

LG

Sam

Peter

Beitragvon Peter » 09.04.2007, 10:13

Hallo Sam!

Die Frage nach der Instanz und dem Verhältnis der Instanz zum Menschen, weiter das Verhältnis der Instanz zur Wirklichkeit und umgekehrt, spielt glaube ich eine große Rolle im Text. Vielleicht ist das sogar seine letzte Wahrheit: der alleinige Mensch kann nicht existieren, er existiert über den Verweis, und eben dieser geht im Text oben verloren. Die Instanz, die ihn wohnen ließ, die ihn als Mensch sich begreifen ließ, wird aufgelöst; ein anderes Wesen tritt auf, das zum Maßstab wird.

All das geschieht schleichend, unmerklich, wie du sagst, vielleicht weil es keine partielle Veränderung ist, sondern eine in den Voraussetzungen der Dinge bereits vollkommene.

Lisa sprach oben von einer Welt, von einem Etwas, das so sehr wird, dass es schon geworden ist. Das kann ich mir vorstellen. Die Veränderungen wären die Veränderungen der Veränderung. Irgendwo, in einem anderen Bereich, ist etwas gefallen... Langsam, vage, kommen die Wellen auf...

Liebe Grüße,
Peter

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Beitragvon leonie » 09.04.2007, 22:22

Lieber Peter,

wenn ich Deinen Text lese, werde ich das Wort "Entseelung" nicht mehr los.

Stark (wieder wie einen Schlüssel, der allerdings seinen Dienst verweigert...) finde ich den doppeldeutigen Satz.

Es gab mich jetzt, wie ich mich nie verstanden hatte.


Es kann ein Sich-Völlig-Entfremdet-Sein ebenso ausdrücken wie ein "Sich-völlig-gefunden-Haben (oder-Sein).

Das verführt dazu, das Ganze vielleicht doch eher als einen Segen (also sogar als vielleicht Beseelung) zu begreifen denn einen Fluch. Obwohl es vielleicht genau umgekehrt ist.
Die Interpretationsmaßstäbe gehen mit der "Digitalisierung" völlig verloren.

Einige Gedanken dazu...

Liebe Grüße

leonie

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Beitragvon Mucki » 10.04.2007, 19:52

Lieber Peter,

mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf. Ich habe deine Zeilen jetzt schon so oft gelesen. Wie soll ich ausdrücken, was mir durch den Kopf schwirrt? Am besten einfach so, wie sie es tun.
Da ist der Gummibaum als Stellvertreter des LIs. Ein Gummibaum, warum ein Gummibaum? Weil er so künstlich aussieht, weil man ihn oft übersieht, ihn abstaubt, als wäre er nicht echt? Er fürchtet sich, sieht ohnmächtig zu, wie etwas mit ihm geschieht, versucht sich einzureden, dass es etwas ganz Normales ist, was da passiert. Mir kommt "Orwell 1984" in den Sinn. Big Brother is watching you. Nichts entgeht dem Fokus. Alles wird bis ins kleine Detail festgehalten, festgestempelt, alle im Raum liegen unter dem "Elektronenmikroskop", werden katalogisiert, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, gegen ihren Willen und doch ist es normal ... Ich denke an alte Indiostämme, die sich nicht fotografieren lassen wollen, weil sie glauben, man würde ihnen etwas rauben. Und so geht es auch dem LI, dem Gummibaum.
Das LI wirkt auf mich gehetzt, angetrieben und verloren zugleich.
Ja, das Runde wird eckig, sprich, es bekommt Ecken und Kanten. Wird es dadurch lebendiger, eben weil es nun Ecken und Kanten hat? Oder geschieht genau das Gegenteil. Ich sehe ein Objektiv, ein langes, schwarzes, bedrohliches Rohr, das lauernd durch den Raum schleicht, sich seine Beute sucht, um sie zu fangen mit seinem Objektiv. Ein Kampf zwischen Ur-Sein und Moderne. Die Moderne gewinnt, weil die Ur-Figuren sich nicht wehren können, sondern schweigen, es hinnehmen. Und doch wird die Moderne ad absurdum gezeichnet, weil sie "Leben" raubt... und doch wieder nicht.
Du siehst, ich ringe mit Worten. Das ist wieder so ein Text von dir, der mich nicht loslässt und so viele Gedanken in Fluss bringt, dass ich mich frage, wo ist die Quelle, sind es mehrere Flüsse, in denen sich doch andererseits auch viele Sandbänke befinden, an denen die Bilder stranden, um endgültig zu einem fest-imprägnierten, nicht auslöschbaren Bild zu werden.
Ein zerlaufendes Bild von einem Bild, das keines werden möchte, atomisiert wird und doch konkret wird, zu konkret, eine bildhafte Anklage, intransparent geworden durch einen Gummibaum, der abgestaubt wird, im wahrsten Sinne des Wortes...
Saludos
Mucki

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Beitragvon Lisa » 11.04.2007, 15:16

Lieber Peter,

alle deine Texte sind (für mich) Träume, ich dachte, das müsste nach "Ein verschwundener Zwsichenraum" nicht mehr ausgesprochen werden....


Hier allerdings habe ich - wie du es ja auch richtig bemerkst - anders gelesen:
er spricht im Kern von der Sprache - von der Existenz-Sprache. Und irgend etwas verschwindet. Es scheint ein "Zwischen", es scheint ein Zwischen-Ton, der verloren geht; der Kontakt; das Gespräch; die Möglichkeit zur Annäherung, die äußere Welt zu übersetzen; das Innen-Gespräch, es wird ersetzt durch eine Kürze, durch eine Verkürzung.


Für mich nicht...oder sagen wir wenn..implizit, was heißt nicht weniger oder stärker als in deinen anderen Texten.

Ich glaube dein Text kann nicht so aufgenommen werden, wie du ihn geträumt hast, der Leser ist von Anfang an wach. Da fließt zwar eine Ahnung mit hinein, was ich - wie auch in allen deinen anderen Texten - Ruhe nennen würde, aber dennoch...

Und zu den Schweißtropfen: Wenn dann schwingt die Ahnung in den Schweißtropfen....das ist doch das Geheimnis...und einen gibt es dann, der kann sie als Hauch...~

Liebe Grüße,
Lisa
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Peter

Beitragvon Peter » 11.04.2007, 18:18

Liebe Leonie,

das Wort "Entseelung" trifft das Geschehen doch sehr gut. Natürlich weiß man nicht recht, was Seele eigentlich ist - aber sie hat bestimmt mit Bild zu tun, und daher vielleicht auch mit jenem Bild, das der Prot. am Ende zu seinen Füßen sieht. Vielleicht ist ja Seele dieses eine, das den Dingen, dem Raum jedem plötzlich fehlt.

Die Doppeldeutigkeit jenes von dir zitierten Satzes ist gewollt. In meinem Denken bezieht er sich auf einen Ausspruch von Heidegger über "das Wesen der Technik". Sinngemäß: Das Wesen der Technik entspreche dem Wesen des Menschen; deshalb fordere es den Menschen heraus, in seiner Erkenntnis. Durch die Vernichtung im Text geht der Mensch in das Wesen der Technik ein, und er erkennt dort sein eigenes Wesen. Er gelangt also zum Wesen, ohne dahin zu gelangen. Deshalb vielleicht: Verklärung und zugleich Vernichtung; Sein und Seins-Ende.

Schwierig.

Liebe Grüße,
Peter

--

Liebe Mucki,

den Gummibaum hat, wie ich finde, Lisa zum Großteil getroffen, indem sie vom Biegsamen sprach, vom Elastischen, welches ja, nach der Digitalisierung, aufgehoben ist - jedenfalls so in meiner Vorstellung; danach stelle ich mir alles eisig und brüchig vor.

Der Schaukelstuhl im Text und der Gummibaum gehören für mich zusammen. Ich weiß nicht, ob das deutlich werden kann aus dem Text, sie sind beide Bilder einer Atems/Atmens (wie ich vermute).

Georg Orwells "1984" würde ich selbst nicht heranziehen, da dort der Mensch noch kontrolliert werden muss; in meinem Text spielt er keine Rolle mehr.

(Spannend finde ich, wie du über meinen Text in eine Sprachbewegung gerätst. Es ist, als würde eine Flut auf dich zukommen; du tauchst, bewegst dich wie in Strömen. Das finde ich sehr schön.)

Liebe Grüße,
Peter

--

Liebe Lisa,

ja, die "Existenz-Sprache" ist bestimmt das Thema; aber in den anderen Texten tritt sie nicht einer solchen Entwertung entgegen; dort gibt es immer noch den Aufenthalt; deswegen entsteht im Text oben zwar auch Stille, aber eine mehr und mehr bedrohliche.

Du träumst meine Texte, Lisa?

Nein, ich verstehe, der Traum ist Vorbild. Der (T)Raum...

Liebe Grüße,
Peter

(Dein Avatar-Bild finde ich ja sehr schön, Lisa. Man fühlt sich erinnert. Ich persönlich an Botticellis "Die Geburt der Venus" aus dem Meeresschaum und an Robinson Cruso. Einmal werde ich auch auf einer Insel wohnen...)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 12.04.2007, 00:44

Lieber Peter,

(Spannend finde ich, wie du über meinen Text in eine Sprachbewegung gerätst. Es ist, als würde eine Flut auf dich zukommen; du tauchst, bewegst dich wie in Strömen. Das finde ich sehr schön.)


genauso erging es mir ja. Deshalb schrieb ich zu Beginn, dass mir soviel durch den Kopf schwirrt und ich es einfach so schreibe, wie es halt darumschwirrt.
Ist schon seltsam, deine Texte lösen solche "kuriosen" Kommentare von mir nicht zum ersten Mal aus. Woran das wohl liegt? ;-)
Saludos
Mucki

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Beitragvon Lisa » 13.04.2007, 09:41

Lieber Peter,

ja, die "Existenz-Sprache" ist bestimmt das Thema; aber in den anderen Texten tritt sie nicht einer solchen Entwertung entgegen; dort gibt es immer noch den Aufenthalt; deswegen entsteht im Text oben zwar auch Stille, aber eine mehr und mehr bedrohliche.


Ich bin nicht sicher...und doch auf ganz einfacher Ebene natürlich...aber wenn ich an den verlorenen Zwsichenraum denke; für mich liegt der Unterschied nivht in der Sprache, sondern in der Mächtigkeit des lyr. Ichs, das hier ja letzlich fehlt (auch wenn es noch lächelt im Ansatz). Ich glaube aber (trotz carls Kommenatr nochmal), dass wir letzlich von sehr ähnlichen Dingen reden in diesem Fall, dass du es nur Sprache nennst und ich ..anders (wie weiß ich nicht).

Du träumst meine Texte, Lisa?

Nein, ich verstehe, der Traum ist Vorbild. Der (T)Raum...


kein Kommentar ,-)

Ich kann nur sagen, dass ich immer ganz gespannt bin auf Texte von dir, auch wenn ich beim Kommentieren (in mehr oder wneiger großen Teilen) versage; aber dass das sein muss, hatten wir ja schon ein bisschen ~, und solange es für dich noch - ist es doch gut.

Liebe Grüße,
Lisa
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