1974

Max

Beitragvon Max » 23.03.2007, 21:57

Liebes Forum,

die kleine Erzählung hat eigentlich drei Hauptpersonen, zwei er's und ein ich und alle sind dieselben. Dennoch hat es mich gedrängt, in einigen Sätzen "er" zu sagen, in anderen "ich". Ich probier noch, ob es weniger Ebenen geben kann, ansonsten hoffe ich, das ist verzeihlich.

Liebe Grüße
max





1974


Manchmal fragt er sich, warum ihm das Denken an jenes Jahr so seltsam zäh wird.

Nicht das Anekdotische, das stets bereit steht erzählt zu werden. Wie jener Sonntagsspaziergang, auf dem er (ein kleiner Junge damals) einen Ast als Spazierstock aufgehoben und trotz der Warnung von Oma („was willst du mit Knüppel, Junge“), Großtante und Vater auch mitgenommen hatte. Wie dann eine Ameise von diesem Ast auf seine Hand und weiter auf seinen Arm kletterte, unter die steife, weiße Kunstlederjacke, auch unter den in Brauntönen geringelten Pullover und ihn biss, in den Oberarm und in die Schulter. Wie er dann auf dem Weg noch seine Jacke vom Leib riss, seinen Pullover. Wie andere Spaziergänger den kleinen Jungen im Unterhemd anstarrten, dem Oma und Großtante die Ameise vom Körper zu klauben versuchten und der dabei schrie, dass ihm das Wasser in den Augen stand, natürlich nicht vor Schmerz, aber vor Wut, dass die Ameise entkommen war und aus Schmach, weil die Erwachsenen wieder einmal Recht behalten hatten.
Ein Foto zeugt von dieser Episode.

Das Anekdotische fiel ihm seit jeher leicht. Mehr noch: Einer Geschichte, hat er sie einmal erzählt, entsinnt er sich immer in der erzählten Form, das Erzählte wird stärker als das Erlebte, so dass er vereinzelt, wenn er (von sich) erzählt das Gefühl eines Verlusts verspürt, eines irreversiblen Auslaufens, eines Sich-Vergebens.
Wieso aber gelingt es ihm so schwer, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie der Junge gelebt hat, was er gespürt und gedacht hat, wo es doch niemanden gibt, der das besser wissen könnte als er? Wieso würgt es ihn, wieso erbricht er seine Erinnerungen schließlich und wieso ist es so schwer in dem Gewölle ein Faktum zu finden, an dem sich ein Wiedererleben fest machen ließe, wo sind die Gefühle, die den Weg zu den Tatsachen weisen könnten?

Festzuhalten bliebe: 1974 war der Junge neun, wurde zehn. Er ging in die dritte Klasse, im Herbst dann in die vierte. Seine Klassenlehrerin hieß Fräulein Hüging, das „Fräulein“ war wichtig. Sie zog das linke Bein nach und trug blickdichte weiße Strümpfe und Blusen, die schon damals altmodisch waren. Auf dem Grundschulzeugnis, das in ein graues Büchlein im A5-Format eingetragen wurde, würde sich neben den Kopfnoten für Betragen und häuslichen Fleiß für alle anderen Fächer nur die Note „gut“ finden – das braucht er nicht nachzuschauen. In jenem Jahr auch für Sport, das auf dem Zeugnis noch Leibesübungen hieß.

Namen von damaligen Freunden:
Thomas Grischke, der in der gleichen Straße wohnte, den der Junge aus den Augen verlor, als dieser zur Realschule ging, der Junge aber zum Gymnasium.
Frank Schäfer, dem er ein Jahr später gestand, dass er ebenso wie Frank in Michaela Klinke verliebt war. Der dann alles versuchte, um ihn bei Michaela zu verdrängen. Dennoch, einmal forderte er sie zum Tanz auf, sie lehnte ab. Es war eine Party am letzten Tag der Grundschule.
Matthias Kruck, der seinen Namen immer als „großes K, kleiner Ruck“ buchstabierte und der schon mit neun Jahren Goethe las, um nichts zu versäumen.
Es gab auch noch Volker Holle, Jörg Wilke, der ihm ein Jahr zuvor die Schultasche getragen hatte, als sich der Junge den Arm gebrochen hatte.

Wo war er in jenem Jahr im Urlaub, warum will ihm das nicht einfallen? 1972 war er mit seinem Vater in Bulgarien (war zum ersten Mal geflogen und hatte zum ersten Mal ein halbes Hähnchen gegessen), 1973 in Wyk auf Föhr (hieß die Insel nun Wyk oder hieß sie Föhr, das konnte sich der Junge nie merken), 1975 mit seinem Onkel in Italien (in Milano Marittima, der Perle der Adria, wie der Onkel immer reimte). Wo aber war er 1974?
Das Fotoalbum gibt Auskunft: Er war mit seinem Vater und seinem Bruder in Millstatt am See. Er weiß bis heute nicht, wie der Vater auf Millstatt als Urlaubsziel gekommen ist. Aus einem Katalog konnte er es nicht haben, denn sie mieteten sich erst vor Ort in einer Pension ein.
Sie fuhren einen moosgrünen Peugeot 504 mit einem Herforder Kennzeichen. Das ist wichtig, denn einmal, sie kamen gerade vom Schwimmen im See, stiegen sie in einen solchen moosgrünen Peugeot, der auf dem Parkplatz vor dem Bad parkte. Der hatte auch ein Herforder Kennzeichen und der Schlüssel passte. Erst als der Vater losfahren wollte, fiel ihm auf, dass es nicht ihr Wagen war. – Und wieder beginnt das Anekdotische.
Was sonst von diesem Urlaub geblieben ist: Der ehrfürchtige Gedanke an einen Sprungturm, von dessen oberstem Brett auch eine Wasserrutsche in den See führte. Die mutigsten Springer, die auf diesem Plateau noch auf die Brüstung des Geländers kletterten, um einen letzten Meter Sprunghöhe zu gewinnen und sich schließlich aus 13 Metern ins Wasser stürzten. Ein Wels, der im See gefangen worden war und nun in einem Aquarium zur Schau gestellt wurde, das gerade so lang war wie dieser. Die merkwürdigen Antennen, die dieser Wels hatte. Und ein Foto, das ihn mit seinem Bruder am See zeigt, beide in karierten Hemden, mit Bundlederhosen und Spazierstock. Und, das fällt ihm jetzt ein, für den Spazierstock bekam er einen Stocknagel in Hirschform geschenkt, ein Emblem, das den Herkunftsort verriet.

Was sonst ließe sich über den Jungen in diesem Jahr erzählen?
Dass er seine zukünftige Stiefmutter kennen lernte vielleicht. Die Gedanken legen die Geschichte in den Frühherbst und das wäre möglich. Der Junge könnte die helle Jacke getragen haben und die Schirmmütze. Vater und Oma werden ihn herausgeputzt haben, es war ein Sonntag und es war ein wichtiger Besuch. Noch trug er keine Brille, die kam ein Jahr später.
An die halbstündige Autofahrt kann er sich nicht mehr erinnern, auch nicht an das Krankenhaus, in dem sie arbeitete (was merkwürdig ist, denn er wohnte später sechs Jahre lang nicht weit von diesem Krankenhaus, aber da ist kein Bild, er könnte nicht sagen, wie dieses Krankenhaus aussieht). Fand der Junge es so seltsam, wie ich jetzt, dass er seine Mutter zuletzt vor einem Krankenhaus gesehen hatte, dass sie ihm zum Abschied gewinkt hatte (und drei Tage später war sie tot) und dass er nun, drei Jahre danach seine zukünftige Stiefmutter wieder vor einem Krankenhaus kennen lernte? Vielleicht dachte der Junge damals weniger in Symbolen.
Der Vater hatte seinen Söhnen beigebracht die Frau „Fräulein Gehrmann“ zu nennen. Auch ihm schien das „Fräulein“ wichtig zu sein. Ein paar Monate später sollten sie sie „Fräulein Christa“ nennen, dann nur „Christa“ und sie durften sie duzen, schließlich im Oktober des darauffolgenden Jahres – nach einer Hochzeit – mit einem Mal „Mama“. Das ging ihm anfänglich schwerer über die Lippen als „Fräulein Gehrmann“.
Sie gingen spazieren in einem Wald nahe beim Krankenhaus. Die fremde Frau gab sich Mühe, sie sagte mehrfach, dass sie den jüngeren der beiden Söhne mochte (der wuchs ihr auch später schneller ans Herz). Sicher fragte sie auch den älteren etwas. Das weiß er nicht mehr. Auch nicht, ob ihm schon bei diesem ersten Treffen Fräulein Gehrmanns linker Daumennagel aufgefallen war, den ein Pilz zerfressen hatte. Später hatte er den hässlich gefunden. Es war kein leichter Beginn.

Was könnte sie den Jungen gefragt haben? Und was hätte er geantwortet? Hat sie ihn nach Hobbys gefragt? Hat er darauf „Lesen“ gesagt? Und was hat der Junge in jenem Jahr gelesen? Die Bücher, die er im Vorjahr zur Erstkommunion bekommen hatte, waren aufgebraucht. Er verschlang die Bücher damals, las im Halbdunkel des ersten Lichts, das durch die Jalousie im Kinderzimmer drang. Das Bücherregal gibt kaum mehr Auskunft. Jemand, seine Stiefmutter, hat seine Bücher großzügig verschenkt. Oder Fußball spielen (womit sie wiederum nichts hätte anfangen können, aber das konnte der Junge damals noch nicht wissen)? Hat sie ihn gefragt, was er mal werden wolle? Sicher, das wollten alle Erwachsenen immer wissen. Der Junge sagte darauf in jenem Jahr oft „Chirurg“. Und das war nicht falsch: Sein Wille, sein Verstand, was kühl in ihm war, wollten das. Ein Chirurg hatte den Fehler gemacht, der seine Mutter das Leben gekostet hatte. Er wollte besser sein, dann zu diesem Chirurgen gehen (auch seinen Namen hat er vergessen) und sagen: Sehen Sie, so macht man das. Oder noch besser gar nichts sagen, ihn einfach durch seine Anwesenheit und seinen Erfolg anklagen.
In seinen Träumen aber war er Fußballer wie Gerd Müller und die Vorstellung fühlte sich an wie ein heißer Stich.

Ich erinnere mich: Der Junge liebte Fußball. Er bewunderte Franz Beckenbauer, zitterte mit Bayern München und schwärmte für Gerd Müller und Sepp Maier.

Ein Fernsehabend fällt mir ein. Es muss im Mai gewesen sein, das weiß er nicht mehr, aber ich kann es mir ausrechnen. Der Junge durfte mit dem Vater aufbleiben (nur schon im Bademantel, der blau, weiß und rot gestreift war), weil das Europapokalfinale der Landesmeister übertragen wurde: Bayern München gegen Atletico Madrid. Ich fühle seine heißen Wangen und seine Enttäuschung, als er in der 119. Minute ins Bett gehen muss, weil Madrid seit fünf Minuten mit 1:0 führt und in der letzten Minute doch nichts mehr geschieht. Ich weiß, wie der Vater Minuten später in sein Zimmer kommt (er liegt oben in einem Etagenbett, der Bruder schläft unten) und flüstert: „Sie haben es ausgeglichen. Der Schwarzenbeck hat den Ball aus 40 Metern reingehauen.“
In der Zeitung am nächsten Tag waren es nur noch 25 Meter, aber er glaubte der Freude des Vaters und schließlich gewannen die Bayern ja auch das Entscheidungsspiel am übernächsten Abend 4:0 (zwei Tore von Hoeneß, zwei Tore von Müller, das weiß er noch).

Es war das perfekte Jahr, auch für eine Weltmeisterschaft. Noch vier Jahre zuvor hatte der Junge die Fußballregeln nicht richtig gekannt, hatte jeden Pfiff des Schiedsrichters gegen das deutsche Team als ungerecht empfunden. Vier Jahre später saß er in einem Steinbruch und versuchte mit einem rostigen Hämmerchen Ammoniten aus dem Schiefer zu lösen, während Deutschland denkwürdig gegen Österreich verlor. In jenem Jahr aber hatte Deutschland eine Mannschaft, mit der sich mitfiebern, mit der sich gewinnen ließ.

Ich erinnere mich. An den Fernseher, an dem er diese Weltmeisterschaft verfolgte. Ein Empfangsgerät, das in erster Linie Möbelstück war. Vollständig mit dunkelbraunem Holz ummantelt, auf vier Füßen, stand er in einer Ecke des Wohnzimmers der Großmutter wie eine kleine Truhe. Eine Truhe, die ihre Schätze erst Preis gab, wenn man ihre Flügeltüren aufschloss, die dann unter einer grauen Mattscheibe genau drei gelbliche Tasten zeigte, eine für das erste Programm, eine für das zweite und die Austaste (dass es schon damals drei Fernsehprogramme gab, erfuhr der Junge erst über ein Jahr später, als nach der Hochzeit mit Christa auch ihr Fernseher einzog, eine technische Revolution mit neun Programmknöpfen). Ich erinnere mich an den Storch aus schwarzem Stein, der zur Zierde auf einem weißen Spitzendeckchen auf dem Fernseher stand und daran, dass das Bild schwarz-weiß war und dass die Reporter das natürlich wussten (immer kam erst die Erklärung, wer die Mannschaft in den hellen oder dunklen Trikots war, dann die für die Zuschauer mit einem Farbfernseher).

Ich erinnere mich, dass den Jungen die Siege gegen Chile und Australien freuten (die Namen Breitner und Cullmann fallen mir noch als Torschützen ein), dass er auf die Tore von Gerd Müller wartete, der nur langsam in Tritt kam. Er war sich so sicher, dass Deutschland das Turnier gewinnen würde. Und ich erinnere mich an sein fassungsloses Entsetzen als Deutschland gegen die DDR verlor. Der Vater hatte schon vorher geunkt, aber der Junge war siegessicher gewesen. Wieso hatte Beckenbauer nichts gemacht, wieso hatte Maier den Ball nicht gehalten, Müller kein Tor geschossen? Am Sonntag betete der Junge in der Kirche mit der Hostie im Mund kniend für die deutsche Mannschaft.
Von da an begann das Zittern. 2:0 gegen Jugoslawien, 4:2 gegen Schweden (und wieder lag Deutschland zurück) – der Vater brüllte bei jedem Tor, das Deutschland schoss vor Jubel (eine Angewohnheit, die der Junge nun selbst hat). Das Beten half.
Um den Regen vor dem Polenspiel hatte er nicht gebetet, doch auch der half: Der Vater bestand trotz des anstehenden Halbfinalspiels darauf, dass der Junge zum Flötenunterricht ging. Das Spiel wartete dank des Unwetters auf ihn. Als er wiederkam, hatte es immer noch nicht begonnen, man konnte Menschen sehen, die mit großen Walzen das Wasser vom Spielfeld entfernten. Dann spielte man doch und endlich waren Gerd Müller und Sepp Maier die Helden. Maier hielt alles, Müller schoss das 1:0. Endlich.

Ich erinnere mich an das Endspiel, an das Kaffeetrinken davor, an die übliche Sonntagskaffeetafel mit dem Silberbesteck, aus der Schublade, die immer noch nach den Zigarren des toten Großvaters roch und dem elfenbeinfarbenen Geschirr mit den goldenen Pünktchen am Rand, „dem guten“, wie die Oma immer sagte. Ich ahne, dass die Großtante wieder einmal erzählte, dass sie zur Olympiade 1936 in Berlin gewesen war (ohne natürlich eine Veranstaltung zu sehen) und dass der Junge, der Kuchen liebte, vor Aufregung nichts aß. Ich erinnere mich, wie der Fernseher endlich geöffnet wurde und wie die Fischer-Chöre auf der Laufbahn das Spielfeld säumten. Als sie „Das große Spiel“ sangen, bekam der Junge Gänsehaut, als die Kamera zum ersten Mal den neuen Pokal zeigte (den alten hatten die Brasilianer behalten dürfen) wurde ihm warm im Bauch. Ich erinnere das Erstarren des Jungen beim 1:0 der Holländer, sein zages Hoffen beim Ausgleich und den Torschrei (der Vater schrie, aber er schrie auch), als Gerd Müller die Führung erzielte. Ich weiß, dass der Junge die zweite Halbzeit stehend verbrachte, bei Chancen der Holländer aus dem Zimmer ging. Ich weiß es, weil er auch heute große Anspannung nur schwer still sitzend erträgt. Und immer wieder betete er heimlich, faltete die Hände so, dass es keiner merkte.
Es waren lange 45 Minuten. Dann endlich streckte Franz Beckenbauer den Pokal in den Himmel und Gerd Müller kniete auf dem Rasen nieder. Deutschland war Weltmeister.

Der Junge schnappte sich seinen Fußball, den einzigen Lederball, den er je besessen hatte. Er hatte ihn im Jahr zuvor zum Geburtstag bekommen. Wenige Monate später hauchte der Ball sein Leben an einem spitzen Ast der Hecke aus (die Nähte waren aufgegangen und die Blase schaute heraus). Draußen wartete schon Olaf von gegenüber. Wieder und wieder spielten sie das Endspiel nach wie so viele Spiel zuvor und danach. Eine Einfahrt war das Tor, die Straße das Spielfeld. Wer im Tor stand, musste auch noch kommentieren, oft war es der Junge. Jedes Mal, wenn er im Ton der Radioreporter rief:“ Und Bohnhof auf Müller, Müller dreht sich, Schuss und Tooooor …“, wusste er , dass dies der schönste Tag seines Lebens war. Schöner noch als die Erstkommunion.

So ergäben die Teile einen Sinn. Ich denke sie mir so. Auch er ist zufrieden, doch er bleibt wachsam. Sein Erinnern ist vorläufig, bis es schmerzt.
Zuletzt geändert von Max am 25.03.2007, 14:16, insgesamt 4-mal geändert.

Klara
Beiträge: 4530
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 23.03.2007, 23:00

Hallo Max, nur kurz erstmal:

deine Geschichte finde ich hochinteressant! Das Jungenhafte ist interessant, die Annäherungen an etwas so Schwieriges wie "Erinnerung" und Verfremdetes wie "Kindheit". Nur im Verfremden gelingt, glaube ich, Wahrhaftigkeit, und das versuchst du, ohne dass es langweilig zu lesen ist. Ich bin nur wenig Jahre jünger als der Junge, aber ganz anders "sozialisiert" bzw. "psychologisiert", aber es berührt mich, was du über den Jungen schreibst. Also schaffst du Wahrhaftigkeit. Eine Möglichkeit von universal Menschlichem: Erinnern!
Du schaffst es, nicht anekdotisch zu bleiben.

Das ich und er und er sind mir absolut logisch und verständlich. Erinnern ist eine distanzierte und zugleich äußerst intime Angelegenheit, wenn man ehrlich sein will und sich nicht nicht auf Anekdoten beschränkt. Nur in der Distanz kann man dem nahe kommen, dem nahezukommen man sich sträubt, dem man aber trotzdem nage kommen muss, aus irgendwelchen Gründen, die man oft nicht mal weiß, wissen kann, wissen darf.

In deiner Geschichte ist mir der Fußball und der Tod der Mutter noch zu unverwoben. Der Fußball kommt zu spät, und der schönste Tag des Lebens - den glaube ichn icht, wenn im selben Jahr die Mutter starb? Oder glaube ich ihn doch? Der "Clou" scheint mir ja gerade zu sein, dass die WM und der Tod im selben Jahr "stattfinden" (bitte verzeih mir). Niederlage und Sieg. Schmerz und Lust. Zähigkeit und Hibbeln. Verdrängung und Träumen. Das müsste für mein Gefühl noch mehr ausgearbeitet werden. Wo du hin willst mit dem Text. Was du zeigen willst.

Gruß
klara

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 24.03.2007, 14:49

Lieber Max,

das habe ich gern gelesen, Du hast das sehr, sehr gut erzählt, finde ich. Auch mir ist der Wechsel von "er" und "ich" verständlich. In der Erinnerung ist es doch tatsächlich oft so, als sehe man sich selber von außen zu.
Klara, ich glaube nicht, dass der Tod der Mutter und der Fussball in dasselbe Jahr gehören. Denn schon 1972 verreist der Vater mit dem Sohn allein, ich vermute, dass die Mutter da nicht mehr lebt.

Was mir nicht klar ist, ist, wer Christa und wer nun Brigitte ist.

Liebe Grüße

leonie

Max

Beitragvon Max » 25.03.2007, 14:13

Liebe Klara,

Leonie hat recht, die Mutter lebt da nicht mehr. Aber wenn das unklar ist, muss ich das deutlicher herauarbeiten. Mit dem Verknüpfen hast Du recht, aber den Fussball vorzuziehen fällt mir (noch schwer), denn er ist der Kristalliationspunkt für die Erinnerung, die das ich ja sucht. Vielleicht aber kn ich stärker mischen, denn Du hast recht, die Geschichten sollten ja nicht völlig getrennt stehen.

Liebe Leonie,

ups, aus Bigitte wurde (eigentlich) Christa, nur nicht immer! Danke für den Hinweis und Deine Lektüre.

Ich denke ürbigens darüber nach, vielleicht noch eine weitere, rein faktische Ebene einzuführen ..

Mal schauen.

Liebe Grüße und danke
Max

Benutzeravatar
Elsa
Beiträge: 5286
Registriert: 25.02.2007
Geschlecht:

Beitragvon Elsa » 25.03.2007, 23:39

Lieber Max,

Ganz und sehr schön! Es ist völlig klar, dass der Erwachsene vom Jungen in der 3. Person spricht, das Kind ist ja 'eingeschlossen' in ihm mit den Erinnerungen, an die er selbst nicht herankann oder will. Mir gefällt das mit den Perspektiven gut. Der text ist überaus lebendig, ich empfinde Mitgefühl, dass die Mutter gestorben ist und für die Stiefmutter der Nagelpilz ist super.

die steife, weiße Kunstlederjacke, auch unter den in Brauntönen geringelten Pullover
toll diese Details!

Ein paar Korinthen, wo ich aber nicht weiß, ob sie Absicht sind.
was willst du mit Knüppel, Junge
mit dem Knüppel?

wenn er (von sich) erzählt, das Gefühl eines Verlusts verspürt
Komma?

den der Junge aus den Augen verlor, als dieser zur Realschule ging,
aus den Augen verloren hatte?

Jörg Wilke, der ihm ein Jahr zuvor die Schultasche getragen hatte, als sich der Junge den Arm gebrochen hatte.
Hier würde ich schreiben: Schultasche trug, als sich ...

(in Milano Marittima, der Perle der Adria, wie der Onkel immer reimte).
Wo reimt er denn?

Dass er seine zukünftige Stiefmutter kennen lernte vielleicht
Ich glaube: kennenlernte

Der Vater hatte seinen Söhnen beigebracht, die Frau „Fräulein Gehrmann“ zu nennen.

Komma

Sein Wille, sein Verstand, was kühl in ihm war, wollten das.
Nicht: die kühl in ihm waren?

der Vater brüllte bei jedem Tor, das Deutschland schoss, vor Jubel (eine Angewohnheit, die der Junge nun selbst hat).
Ich glaube, hier auch Komma

Wieder und wieder spielten sie das Endspiel nach wie so viele Spiel zuvor und danach.
so viele Spiele

wenn er im Ton der Radioreporter rief:“ Und Bohnhof auf Müller, Müller dreht sich, Schuss und Tooooor …“, wusste er , dass dies der schönste Tag seines Lebens war.
Falsche Anführungszeichen vorn und nach er kein Leerzeichen setzen.

Bin gespannt, ob du weitermachst.

Lieben Gruß
Elsa
Schreiben ist atmen

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 26.03.2007, 00:21

Hallo Max

Ich habe Deinen Text gerne gelesen. Die Erinnerungen sind lebendig aneinandergereiht, was Dir auch dadurch gelingt, dass Du die turbulente Ameisenszene als Auftakt nimmst. Mir als Sportbanause war die Aneinanderreihung der Fußballspiele etwas zu lang, könnte straffer sein, aber Du brauchst sie wahrscheinlich so ausführlich.

Diese selten hässlichen A5 Zeugnishefte. Arrgh. Dieser Kelch ist Gott sei Dank an mir vorbeigegangen.

MfG

Jürgen

Benutzeravatar
annette
Beiträge: 465
Registriert: 24.11.2006
Geschlecht:

Beitragvon annette » 26.03.2007, 12:56

Lieber Max,

auch mir gefällt der Text übers Erinnern. Besonders die Unterscheidung in das Anekdotische, das sich beim Wieder- und Wiedererzählen immer mehr entfremdet und das vergangene Ich gleich mit entfremdet und das „wirkliche Erinnern“, das die Beschreibung „Vergewisserung“ meiner Meinung nach gut trifft (willst Du das nicht mit in den Titel nehmen: "1974 – eine Vergewisserung"?)

Mir gefällt auch, dass er beim Erzählen ins Anekdotische zu gleiten droht - das macht die Nähe und den Unterschied beider Arten der Erinnerung deutlich.

Für meinen Geschmack (als Banause *g*) ist entschieden zuviel Fußball dabei, aber ich nehme an, die Menge des Erzählten entspricht seiner Gewichtung und hat somit eine Funktion. Außerdem ist natürlich bemerkenswert, wie präzise die Fußballdetails in der Erinnerung geblieben sind und sich mit anderen Erinnerungen vermischt haben.

Die Perspektive erzeugte bei mir ein kleines Stutzen, aber das ist gut so, denke ich. Nach kurzem Sortieren konnte ich die Figuren dann zuordnen.

Sehr spannend fand ich den letzten Satz: dass das Erinnern vorläufig sei. Bei "vorläufig" denke ich an etwas, das irgendwann definitiv ist. Aber beim Erinnern ist es eher umgekehrt: Es wird immer brüchiger, immer fadenscheiniger. Trotzdem ist es natürlich vorläufig, wenn auch mit der Zeit immer weniger definitiv. Es sei denn, man meinte, es sei irgendwann definitiv vergessen.
Der Satz dreht meine Vorstellung vom Erinnern um, und scheint dabei so richtig, das mag ich sehr.

Sonnige Grüße, annette

Max

Beitragvon Max » 02.04.2007, 08:52

Liebe Annette, lieber Jürgen, liebe Elsa,

hm, was den Fußball angeht, so ist dies vermutlich für die beschriebenen Kindheit zu zentral um große Kürzungen vorzunehmen. Mir ist allerdings beuwsst, dass es einen relativ großen Raum einnimmt. Vielleicht ändert sich aber die Gewichtung, wenn ich die zusätzliche geplante Ebene einführe.

Ob das Erinnern wirklich vorläufig ist, ist eine gute Frage. Die Vorläfuigkeit stammt hier aus einer Perspektive, die dem relativ mühsamen Prozess des Erinnerns folgt und sich des Erinnerten nicht ganz gewiss ist - insofern vorläufig, der Schmerzpunkt ist noch nicht ganz gefunden ...

Dir, Elsa, herzlichen Dank für all die Korrekturen, ich werde sie nachher einfügen (gleich muss erstmal ein paar Leute quälen ;-) ).

Liebe Grüße
Max

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 02.04.2007, 11:22

Hallo Max,

"hm, was den Fußball angeht, so ist dies vermutlich für die beschriebenen Kindheit zu zentral um große Kürzungen vorzunehmen. Mir ist allerdings beuwsst, dass es einen relativ großen Raum einnimmt. Vielleicht ändert sich aber die Gewichtung, wenn ich die zusätzliche geplante Ebene einführe."

Dass Annette und ich wenig mit Fußball anfangen können, ist ja nur eine Prägung, die sich auf das Leseempfinden auswirkt. Für viele Menschen ist Fußball etwas sehr Wichtiges, so auch für den Jungen.

Bin gespannt, wie der Text demnächst aussehen wird.

MfG

Jürgen

Max

Beitragvon Max » 03.04.2007, 20:27

Lieber Jürgen,

danke für Deinen einfühlenden Kommentar.

Du schreibst auch:

Bin gespannt, wie der Text demnächst aussehen wird.


ich auch ...

Liebe Grüße
max, der dazu Muße braucht.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 3 Gäste