3. Fassung
Schneebrunzer
Gerade kommt Max von seiner aktuellen Liebsten zurück. Seine Mundwinkel zeigen verdächtig zu Boden, er nuschelt ein grimmiges „Hi“, fläzt sich neben mich aufs Sofa und nimmt mir die Fernbedienung aus der Hand. Zappt von einem Programm zum nächsten, dabei war der Samstagnachmittag immer meiner!
„Ich wollte gern African Queen ...“
„Ach!“, sagt er und will rausgehen.
„Bleib doch!“ Ich nehme ihm die Fernbedienung weg und schalte aus. „Kann ich etwas für dich tun? Essen? Trinken? Rücken kraulen?“, frage ich.
„Ich werde in den Wald gehen und mir eine passende Todesart überlegen ...“
Aha, ich habe mich nicht getäuscht. „Aber hoffentlich für den Schneebrunzer, der dir das Mädel ausgespannt hat!“
„Daran habe ich noch gar nicht gedacht!“ Max’ Züge hellen sich auf, „aber was bitte ist ein Schneebrunzer?“
„Das ist eine abwertende Bezeichnung für Männer, die sich wichtig machen. Sie pieseln ihren Namenszug in den Schnee“, erkläre ich und lache.
Er setzt sich wieder zu mir, lehnt seinen Kopf an meine Schulter – auch mit Fünfzehn darf man das hin und wieder.
„Leider habe ich das Wort erst als Erwachsene kennengelernt. Bei den Streitereien mit deinem Onkel Jonas hätte ich ihm das gern um die Ohren gehauen. Er war ein Meister darin, anderen Jungs die Freundinnen wegzuschnappen.“
„Wie ist es, Geschwister zu haben?“, fragt Max.
Seine Stimme klingt immer noch melancholisch, es schneidet mir ins Herz, aber das zeige ich ihm nicht, sondern sage: „Spannend. Leider war er der Schnellere von uns. Wenn er mich im Schwitzkasten hatte, war ich chancenlos.“ Ich angle mir eine Zigarette vom Tisch.
„Aber blase den Rauch gefälligst in die andere Richtung!“ Max rümpft die Nase. Er hat die gleiche wie mein Bruderherz, fällt mir in diesem Moment auf. Jonas habe ich jahrelang nicht gesehen, er lebt in Sidney. Ostern, Weihnachten und manchmal zu Geburtstagen schicken wir uns Mails.
Max stupst mich mit seinem Wuschelkopf an. Auch die Löckchen erinnern mich an Jonas. Plötzlich vermisse ich ihn.
„Erzähl weiter, Mama, ich brauch das jetzt nach meiner Niederlage.“ Er zieht den Rotz hoch.
„Taschentuch?“
„Nein, Geschichte.“
Wie er das sagt, fällt mir ein, dass Max sich als Kleinkind nur in Hauptwörtern artikulierte. Milch. Hunger. Bauchweh. Angst.
„Na?“ Er rückt ungeduldig ab von mir.
Die Zigarette schmeckt nicht, ich drücke sie aus.
„Hab ich dir schon mal erzählt, dass Jonas ewig nicht sprechen wollte? Alle zerbrachen sich den Kopf darüber. Mit drei Jahren sagte er nicht ein verständliches Wort. In einer Familie, die ihr täglich Brot auf der Bühne verdiente, war das die reinste Frustration. Während ich mit Fünf bereits lesen konnte und ‚Röslein auf der Heide’ sang, hockte Jonas im Gitterbett und machte: Schu- schu, eititi, puh ... Unsere Mutter achtete konzentriert auf die Laute, die aus ihm heraus kullerten und übersetzte nach intensivem Studium: Er meint eine fahrende Dampflok, ich bin mir da ganz sicher. Sie lächelte ihn zärtlich an. Jonas brabbelte fröhlich: Schu-schu, eititi, puh ...“
„Und jetzt hält er Kommunikationsseminare, der Onkel Jonas“, sagt Max und grinst endlich, „wann hat er denn sprechen können?“
„Als ich klein war, fuhr man statt auf Urlaub in die Sommerfrische. Für Juli und August wurde ein altes Haus mit dicken Steinmauern gemietet. Es gehörte einem reichen Bauern, seine Vorfahren benutzten es als Austraghäusel. Eine Sitte, bei der die Altbauern dorthin übersiedelten, nachdem sie dem ältesten Sohn die Wirtschaft überschrieben hatten.“
„Warum sind wir nie dorthin gefahren, als ich klein war?“
„Diese Art Ferien zu verbringen, war zu deiner Zeit außer Mode. Man reiste ans Meer.“
„Wenn ich mal Kinder habe ...“ Max seufzt abgrundtief.
Schnell fahre ich fort: „Ich liebte den Bauernhof. Der Stall, das mahlende Geräusch, mit dem die Kühe Heu in den breiten Mäulern verschwinden ließen. Ihre feucht glänzenden Nasenlöcher, der süße Geruch von Milch, gemischt mit Ammoniakgestank. Der zart pulsierende, in sich gefältelte, rosige Muskel unter dem Schwanz beeindruckte mich ungemein. Wie er sich schließt, nachdem er die Unmengen von Scheiße ausgespuckt hat ...“
„Mama!“ Max starrt mich an. „Also wirklich ...“
Ich grinse. „Fredi, der Bauernsohn, trieb die Herde jeden Morgen auf die Futterwiesen, abends zurück in den Stall. Jede Kuh trug einen Namen; meine Favoritin hieß Liese. Ich durfte auf dem Weg zur Weide ihren Schwanz halten. Jonas verkrümelte sich ins Haus, sobald er ein Tier erspähte. Schmetterlinge tolerierte er gerade noch, doch alles andere, Katzen, Hühner, Hunde und Rinder jagte ihm Angst ein. Hühner waren seine ganz speziellen Feinde. Er fürchtete sie so sehr, dass sein Gebrüll wie der Brandmelder des Dorfs schrillte. Er war in diesem Sommer vier Jahre alt und radebrechte: Piep, piep, hack, du du, puh! Großmutter und Mutter sahen sich ratlos an. Weil unsere Sommerresidenz an einem Hang stand, waren die Schlafzimmerfenster nicht mehr als einen halben Meter vom Boden entfernt. Eines Morgens war Jonas verschwunden. Wir suchten den Kleinen im Haus. Jonas, wo bist du!, riefen wir zu dritt. Und plötzlich hörten wir von draußen leise, aber deutlich: Omi, Mami, ich bin da im Gras. Er war auf das Fensterbrett geklettert und in die Wiese geplumpst. Hühner pickten um ihn herum nach Würmern, unbeeindruckt davon, dass plötzlich ein kleiner Junge vom Himmel gefallen war. Er saß erstarrt inmitten seiner Todfeinde. Wir vermuten heute, dass er vorher keinen Grund gehabt hatte zu sprechen.“
„Jetzt weiß ich zwar immer noch nicht, was das mit Schneebrunzern zu tun hat, Mama, aber es hat mir gut gefallen, vor allem die Sache mit den rosafarbenen Faltenärschen“, sagt Max und grunzt vor Lachen.
„Genau! Also pass auf. Jonas war ein aufbrausendes Kind. Und ich liebte es, seinen Jähzorn zu schüren. Mit Schaum vor dem Mund jagte er mich durch das meterlange Vorzimmer. Ich wusste, wie ich ihn zum Wahnsinn treiben konnte. Ich brauchte nur in seine Richtung zu spucken. Warum ich das tat, weiß ich heute nicht mehr. Aber da hätte ich zu gerne das Wort Schneebrunzer schon gekannt.“
„Schneebrunzer ...“ Mein Sohn verdreht die Augen.
„Wird schon wieder, Max“, sage ich.
„Das sagt ihr immer.“
Er erhebt sich mit einem obercoolen Gary-Cooper Lächeln, pfeift mich zum Abschied an: „Rauch nicht so viel, Mama!“, und macht sich auf zu seinem High Noon.
Jetzt sitze ich zwischen den Fotos meiner Kindheit, die ich auf dem Speicher zusammen gesucht habe und tippe die lange Nummer ein.
„Jonas!“ Es knistert in der Leitung.
„Nein, nur so. Ich wollte dich einfach mal hören, alter Schneebrunzer, du!“
Er lacht und ich heule los.
Date gestrichen, Angebetete in Liebste geändert/ danke Eva!
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2. Fassung
Gerade kommt Max von einem Rendezvous mit seiner aktuellen Angebeteten zurück. Trauerumflort setzt er sich neben mich und schaltet den Fernseher an.
Liebeskummer witternd frage ich meinen Sohn: „Kann ich etwas für dich tun? Essen? Trinken? Rücken kraulen?“
„Ich werde in den Wald gehen und mir eine passende Todesart überlegen ...“, sagt er, seufzt und steht auf.
Aha, ich habe mich nicht getäuscht. „Aber hoffentlich für den Schneebrunzer, der dir das Mädel ausgespannt hat!“
„Daran habe ich noch gar nicht gedacht!“ Max’ Züge hellen sich auf, „aber was bitte ist ein Schneebrunzer?“
„Das ist eine abwertende Bezeichnung für Männer, die sich wichtig machen. Sie pieseln ihren Namenszug in den Schnee. Zu mehr sind sie nicht fähig“, erkläre ich und lache.
Er setzt sich wieder zu mir, lehnt seinen Kopf an meine Schulter – auch mit Fünfzehn darf man das hin und wieder.
„Leider habe ich das Wort erst als Erwachsene kennengelernt.“
„Wie war es in deiner Kindheit, Mama?“, fragt Max. Seine Stimme klingt immer noch melancholisch, es schneidet mir ins Herz, aber das zeige ich ihm nicht, sondern sage: „Spannend. Bei den Machtkämpfen mit deinem Onkel Jonas trug ich die verbalen, er die körperlichen Siege davon. Der Schnellere gewann.“ Ich angle mir eine Zigarette vom Tisch.
„Aber blase den Rauch in die andere Richtung, hörst du?“ Max rümpft die Nase. Er hat die gleiche wie mein Bruderherz, fällt mir in diesem Moment auf. Jonas habe ich jahrelang nicht gesehen, er lebt in Sidney. Ostern, Weihnachten und manchmal zu Geburtstagen schicken wir uns Mails.
Max stupst mich mit seinem Wuschelkopf an. Auch die Löckchen erinnern mich an Jonas. Plötzlich vermisse ich ihn.
„Erzähl weiter, Mama, ich brauch das jetzt nach meiner Niederlage.“ Er zieht den Rotz hoch.
„Taschentuch?“
„Nein, Geschichte.“
Wie er das sagt, fällt mir ein, dass Max sich als Kleinkind nur in Hauptwörtern artikulierte. Milch. Hunger. Bauchweh. Angst.
„Na?“ Wieder seufzt er.
Die Zigarette schmeckt nicht, ich drücke sie aus.
„Hab ich dir schon mal erzählt, dass Jonas ewig nicht sprechen wollte? Alle zerbrachen sich den Kopf darüber. Mit drei Jahren sagte er nicht ein verständliches Wort. In einer Familie, die ihr täglich Brot auf der Bühne verdiente, war das die reinste Frustration. Während ich mit Fünf bereits lesen konnte und ‚Röslein auf der Heide’ sang, hockte Jonas im Gitterbett und machte: Schu – schu, eititi, puh ... Unsere Mutter achtete konzentriert auf die Laute, die aus ihm heraus kullerten und übersetzte nach intensivem Studium: Er meint eine fahrende Dampflok, ich bin mir da ganz sicher. Sie lächelte ihn zärtlich an. Jonas brabbelte fröhlich: Schu-schu, eititi, puh ...“
Meine Achselhöhle bebt, ich bin froh, dass Max wieder lacht.
„Und jetzt hält er Kommunikationsseminare, der Onkel Jonas“, sagt er grinsend, „mach weiter, Mama.“
„Als ich klein war, fuhr man statt auf Urlaub in die Sommerfrische. Für Juli und August wurde ein altes Haus mit dicken Steinmauern gemietet. Es gehörte einem reichen Bauern, seine Vorfahren benutzten es als Austraghäusel. Eine Sitte, bei der die Altbauern dorthin übersiedelten, nachdem sie dem ältesten Sohn die Wirtschaft überschrieben hatten.“
„Warum sind wir nie dorthin gefahren, als ich klein war?“
„Diese Art Ferien zu verbringen, war zu deiner Zeit außer Mode. Man reiste ans Meer.“
„Wenn ich mal Kinder habe ...“ Max seufzt schon wieder abgrundtief, schnell fahre ich fort: „Ich liebte den Bauernhof. Der Stall, das mahlende Geräusch, mit dem die Kühe Heu in den breiten Mäulern verschwinden ließen. Ihre feucht glänzenden Nasenlöcher, der süße Geruch von Milch, gemischt mit Ammoniakgestank. Der zart pulsierende, in sich gefältelte, rosige Muskel unter dem Schwanz beeindruckte mich ungemein. Wie er sich schließt, nachdem er die Unmengen von Scheiße ausgespuckt hat ...“
„Mama!“ Max richtet sich auf, blickt mir sichtlich empört in die Augen. „Also wirklich ...“
Ich grinse. „Fredi, der Bauernsohn, trieb die Herde jeden Morgen auf die Futterwiesen, abends zurück in den Stall. Jede Kuh trug einen Namen und meine Favoritin hieß Liese. Ich durfte auf dem Weg zur Weide ihren Schwanz halten. Jonas verkrümelte sich ins Haus, sobald er ein Tier erspähte. Schmetterlinge tolerierte er gerade noch, doch alles andere, Katzen, Hühner, Hunde und Rinder jagte ihm Angst ein. Hühner waren seine ganz speziellen Feinde. Er fürchtete sie so sehr, dass sein Gebrüll wie der Brandmelder des Dorfs schrillte. Er war in diesem Sommer vier Jahre alt und radebrechte: Piep, piep, hack, du du, puh! Großmutter und Mutter sahen sich ratlos an. Weil unsere Sommerresidenz an einem Hang stand, waren die Schlafzimmerfenster nicht mehr als einen halben Meter vom Boden entfernt. Eines Morgens war Jonas verschwunden. Wir suchten den Kleinen im Haus. Jonas, wo bist du!, riefen wir zu dritt. Und plötzlich hörten wir von draußen leise, aber deutlich: Omi, Mami, ich bin da im Gras. Er war auf das Fensterbrett geklettert und in die Wiese geplumpst. Hühner pickten um ihn herum nach Würmern, unbeeindruckt davon, dass plötzlich ein kleiner Junge vom Himmel gefallen war. Er saß erstarrt inmitten seiner Todfeinde. Wir vermuten heute, dass er vorher keinen Grund gehabt hatte zu sprechen.“
„Jetzt weiß ich zwar immer noch nicht, was das mit Schneebrunzern zu tun hat, Mama, aber es hat mir gut gefallen, vor allem die Sache mit den rosafarbenen Faltenärschen“, sagt Max und grunzt vor Lachen.
„Ach ja, ich wollte dir etwas ganz anderes erzählen. Also pass auf. Jonas war ein aufbrausendes Kind. Und ich liebte es, seinen Jähzorn zu schüren. Mit Schaum vor dem Mund jagte er mich durch das meterlange Vorzimmer. Ich wusste, wie ich ihn zum Wahnsinn treiben konnte. Ich brauchte nur in seine Richtung zu spucken. Warum ich das tat, weiß ich heute nicht mehr. Aber da hätte ich zu gerne das Wort Schneebrunzer schon gekannt.“
„Schneebrunzer ...“ Mein Sohn kichert.
„Wird schon wieder, Max“, sage ich.
„Na sicher doch.“ Er verstrubbelt meine Frisur, „Rauch nicht so viel, Mama!“ Dann erhebt er sich mit einem obercoolen Gary-Cooper Lächeln und macht sich auf zu seinem High Noon.
Jetzt sitze ich zwischen den Fotos meiner Kindheit, die ich auf dem Speicher zusammen gesucht habe und tippe die lange Nummer ein.
„Jonas!“ Es knistert in der Leitung.
„Nein, nur so. Ich wollte dich einfach mal hören, alter Schneebrunzer, du!“
Er lacht und ich heule los.
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1. Fassung
Gerade kommt Max von einem Rendezvous mit seiner aktuellen Angebeteten zurück. Trauerumflort setzt er sich neben mich und schaltet den Fernseher an.
Liebeskummer witternd frage ich meinen Sohn: „Kann ich etwas für dich tun? Essen? Trinken? Rücken kraulen?“
Er schweigt, steht auf und seufzt abgrundtief. „Ich werde gehen und mir eine passende Todesart überlegen ...“
„Aber hoffentlich für den Schneebrunzer, der dir das Mädel ausgespannt hat!“
„Daran habe ich noch gar nicht gedacht!“ Max’ Züge hellen sich auf. „Aber was bitte ist ein Schneebrunzer?“
Schneebrunzer, was für ein wundervolles Wort!
„Das ist eine abwertende Bezeichnung für Männer, die sich wichtig machen. Sie pieseln ihren Namenszug in den Schnee. Zu mehr sind sie wohl nicht fähig“, erkläre ich. Max setzt sich wieder, lehnt seinen Kopf an meine Schulter – auch mit Fünfzehn darf man das hin und wieder.
„Leider habe ich das Wort erst als Erwachsene kennen gelernt.“
„Wie war es in deiner Kindheit, Mama?“, fragt Max melancholisch, es schneidet mir ins Herz.
„Spannend. Bei den Machtkämpfen mit deinem Onkel Jonas trug ich die verbalen, er die körperlichen Siege davon. Der Schnellere gewann.“ Ich angle mir eine Zigarette vom Tisch.
„Aber blase den Rauch in die andere Richtung, hörst du?“ Max rümpft die Nase. Er hat die gleiche wie mein Bruderherz, fällt mir gerade auf. Jonas habe ich jahrelang nicht gesehen, er lebt in Sidney. Ostern, Weihnachten und manchmal zu Geburtstagen schicken wir uns Mails.
Max stupst mich mit seinem Wuschelkopf an. Auch die Löckchen erinnern mich an Jonas. Plötzlich vermisse ich ihn.
„Erzähl weiter, Mama, ich brauch das jetzt nach meiner Niederlage.“ Er zieht den Rotz hoch.
„Taschentuch?“
„Nein, Geschichte.“
Wie er das sagt, fällt mir ein, dass Max sich als Kleinkind nur in Hauptwörtern artikulierte. Milch. Hunger. Bauchweh. Angst.
„Na?“, sagt er.
„Ehe wir in das Alter der Geschwisterkriege kamen, zerbrachen sich alle den Kopf, wieso Jonas nicht richtig sprechen wollte. Mit drei Jahren sagte er nicht ein verständliches Wort. In einer Familie, die ihr täglich Brot auf der Bühne verdiente, war das die reinste Frustration. Während ich mit Fünf bereits lesen konnte und ‚Röslein auf der Heide’ sang, hockte Jonas im Gitterbett und machte: Schu – schu, eititi, puh ...
Unsere Mutter achtete konzentriert auf die Laute, die aus ihm heraus kullerten und übersetzte nach intensivem Studium: Er meint eine fahrende Dampflok, ich bin mir da ganz sicher. Sie lächelte ihn zärtlich an. Jonas sagte fröhlich: Schu-schu, eititi, puh ...
Meine Achselhöhle bebt, ich bin froh, dass Max wieder lacht. „Und jetzt hält er Kommunikationsseminare, der Onkel Jonas“, sagt er. „Mach weiter, Mama.“
„Als ich klein war, fuhr man statt auf Urlaub in die Sommerfrische. Für Juli und August wurde ein altes Haus mit dicken Steinmauern gemietet. Es gehörte einem reichen Bauern, seine Vorfahren benützten es als Austraghäusel. Eine Sitte, bei der die Altbauern dorthin übersiedelten, nachdem sie dem ältesten Sohn die Wirtschaft überschrieben hatten.“
„Warum sind wir nie dorthin gefahren, als ich klein war?“
„Diese Art Ferien zu verbringen war zu deiner Zeit außer Mode. Man reiste ans Meer.“
„Wenn ich mal Kinder habe ...“ Max seufzt schon wieder herzzerreißend, schnell fahre ich fort: „Der Bauernhof war meine Passion. Der Stall, das mahlende Geräusch, mit dem die Kühe Heu in den breiten Mäulern verschwinden ließen. Ihre feucht glänzenden Nasenlöcher, der süße Geruch von Milch gemischt mit Ammoniakgestank. Der zart pulsierende, in sich gefältelte, rosige Muskel unter dem Schwanz beeindruckte mich ungemein. Wie er sich schließt, nachdem er die Unmengen von Scheiße ausgespuckt hat ...“
„Mama!“ Max richtet sich auf, blickt mir in die Augen. „Also wirklich ...“
Ich grinse. „Fredi, der Bauernsohn, trieb die Herde jeden Morgen auf die Futterwiesen, abends zurück in den Stall. Jede Kuh trug einen Namen und meine Favoritin hieß Liese. Ich durfte auf dem Weg zur Weide ihren Schwanz halten.
Jonas verkrümelte sich ins Haus, sobald er ein Tier erspähte. Schmetterlinge tolerierte er gerade noch, doch alles andere, Katzen, Hühner, Hunde und Rinder jagten ihm Angst ein. Hühner waren seine ganz speziellen Feinde. Er fürchtete sie so sehr, dass sein Gebrüll wie der Brandmelder des Dorfs schrillte. Er war in diesem Sommer vier Jahre alt und radebrechte: Piep, piep, hack, du du, puh! Großmutter und Mutter sahen sich über seinen Kopf hinweg an und seufzten.
Weil unsere Sommerresidenz an einem Hang stand, waren die Schlafzimmerfenster nicht mehr als einen halben Meter vom Boden entfernt.
Eines Morgens war Jonas verschwunden. Wir suchten den Kleinen im Haus. Jonas, wo bist du!, riefen wir zu dritt. Und plötzlich hörten wir von draußen leise, aber deutlich: Omi, Mami, bin da im Gras.
Er war auf das Fensterbrett geklettert und in die Wiese geplumpst. Hühner pickten um ihn herum nach Würmern, unbeeindruckt davon, dass plötzlich ein kleiner Junge vom Himmel gefallen war. Er saß erstarrt inmitten seiner Todfeinde. Wir vermuten heute, dass er vorher keinen Grund gehabt hatte zu sprechen.“
„Jetzt weiß ich zwar immer noch nicht, was das mit Schneebrunzern zu tun hat, Mama, aber es war auch ganz nett, vor allem die Sache mit den rosafarbenen Faltenärschen“, sagt Max und grunzt vor Lachen.
„Ach ja, ich wollte dir etwas ganz anderes erzählen, verzeih. Also pass auf. Jonas war ein aufbrausendes Kind. Und ich liebte es, seinen Jähzorn zu schüren. Mit Schaum vor dem Mund jagte er mich durch das meterlange Vorzimmer, zitternd vor Wut. Ich wusste, wie ich ihn zum Wahnsinn treiben konnte. Ich brauchte nur in seine Richtung zu spucken. Warum ich das tat, weiß ich heute nicht mehr. Aber da hätte ich zu gerne das Wort Schneebrunzer schon gekannt.“
„Schneebrunzer ...“ Mein Sohn kichert.
„Wird schon wieder, Max“, sage ich.
„Na, sicher doch.“ Er verstrubbelt meine Frisur, „rauch nicht so viel, Mama!“ Dann erhebt er sich mit einem obercoolen Gary-Cooper Lächeln und macht sich auf zu seinem High Noon.
Jetzt sitze ich zwischen den Fotos meiner Kindheit, die ich auf dem Speicher zusammen gesucht habe und tippe die lange Nummer ein. „Jonas!“ Es knistert in der Leitung.
„Nein, nur so. Ich wollte dich einfach mal hören, alter Schneebrunzer, du!“
Er lacht und ich heule los.
(c) ELsa Rieger
Schneebrunzer
hallo ihr beiden,
ich empfinde es anders. auch flamme hat diesen wohlwollend nachsichtigen erfahrungsgeschwängerten erwachsenenblick, der ja wohl weiß, dass erste angebetete wie flammen vergänglich und folglich nicht so sehr ernst zu nehmen sind. ich habe eine autofahrt lang nach einem neutralen wertschätzenden wort gesucht und bin nach favoritin, herzensfrau etc. blabla auf die schlichteste Form gekommen: Gerade kommt Max von seiner aktuellen Liebsten zurück.
Aber das ist meine persönliche Variante.
Liebe Grüße und einen sonnigen Schneetag.
Eva
ich empfinde es anders. auch flamme hat diesen wohlwollend nachsichtigen erfahrungsgeschwängerten erwachsenenblick, der ja wohl weiß, dass erste angebetete wie flammen vergänglich und folglich nicht so sehr ernst zu nehmen sind. ich habe eine autofahrt lang nach einem neutralen wertschätzenden wort gesucht und bin nach favoritin, herzensfrau etc. blabla auf die schlichteste Form gekommen: Gerade kommt Max von seiner aktuellen Liebsten zurück.
Aber das ist meine persönliche Variante.
Liebe Grüße und einen sonnigen Schneetag.
Eva
Jetzter wird's nicht. D. Wittrock
Liebe Elsa,
ich habe deine Geschichte gerade mit Genuss gelesen.
Sehr lebendig, treffend, seelenvoll.
Stilistisch, denke ich, dass du einwandfrei den richtigen Ton getroffen hast.
Was die Suche nach der der richtigen Bezeichnung für Max' inzwischen "Verflossene" angeht würde ich
mehr zu "Liebe", wie von Eva vorgeschlagen tendieren, oder Max fragen.gif)
Liebe Grüße
Gerda
... achso, würde auch ins Monatstehma passen ...
ich habe deine Geschichte gerade mit Genuss gelesen.
Sehr lebendig, treffend, seelenvoll.
Stilistisch, denke ich, dass du einwandfrei den richtigen Ton getroffen hast.
Was die Suche nach der der richtigen Bezeichnung für Max' inzwischen "Verflossene" angeht würde ich
mehr zu "Liebe", wie von Eva vorgeschlagen tendieren, oder Max fragen
.gif)
Liebe Grüße
Gerda
... achso, würde auch ins Monatstehma passen ...
Liebe Eva, liebe Gerda,
DAS ist natürlich der bessere Weg, klar! Ich wechsle somit von Flamme zu Liebste, denn seine Mutter will ihn ja nicht abwerten *andenkopffass*
Gerda, schön, dass es dir gefallen hat. Tja der Max, der ist mw. 33!
Achja, ist auch noch Monatsthema, aber da hab ich ja schon 2 stehen?
Vielen Dank von Mutter zu Müttern,
ELsa
DAS ist natürlich der bessere Weg, klar! Ich wechsle somit von Flamme zu Liebste, denn seine Mutter will ihn ja nicht abwerten *andenkopffass*
Gerda, schön, dass es dir gefallen hat. Tja der Max, der ist mw. 33!

Achja, ist auch noch Monatsthema, aber da hab ich ja schon 2 stehen?
Vielen Dank von Mutter zu Müttern,
ELsa
Schreiben ist atmen
Liebe Elsie,
spielt ja keine Rolle, nur gebe ich zu Bedenken: Die Mutter kennt ihren Sohnemann doch sehr gut, das geht aus dem Text hervor. Deshalb fand ich "aktuelle Flamme" gerade gut. "Liebste"? Ich weiß nicht, das passt, zumindest in meinen Ohren, nicht.
Aber, egal. Hauptsache, für dich ist es stimmig!.gif)
Saludos
Mucki
spielt ja keine Rolle, nur gebe ich zu Bedenken: Die Mutter kennt ihren Sohnemann doch sehr gut, das geht aus dem Text hervor. Deshalb fand ich "aktuelle Flamme" gerade gut. "Liebste"? Ich weiß nicht, das passt, zumindest in meinen Ohren, nicht.
Aber, egal. Hauptsache, für dich ist es stimmig!
.gif)
Saludos
Mucki
Liebe Mucki,
nach weiteren Überlegungen und Evas Anregung fand ich, der Mutter geht ja seine Trauer richtig ans Herz, deswegen ist es doch so stimmiger.
Ich muss noch mehr hinfühlen zum Text. Derzeit mag ich die Liebste am liebsten
Vor allem, weil ich das zu meinem "Max" auch immer so sagte. Hatte es bloß vergessen.
Lieben Gruß
ELsie
nach weiteren Überlegungen und Evas Anregung fand ich, der Mutter geht ja seine Trauer richtig ans Herz, deswegen ist es doch so stimmiger.
Ich muss noch mehr hinfühlen zum Text. Derzeit mag ich die Liebste am liebsten

Vor allem, weil ich das zu meinem "Max" auch immer so sagte. Hatte es bloß vergessen.
Lieben Gruß
ELsie
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