frag nicht

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 04.01.2007, 22:35

der trübe blick, der spott

was ist geschehen?

die zerbrochene scheibe

wann war das?


frag nicht!

erzählst Du es nicht?

sie hat es gewusst

sie hat es gesehen

was?

den sturz, den trüben blick
der geist ganz woanders
das nachthemd beschmutzt
wenn ich die straße langlief
immer wusste ich, wenn
etwas war

das haus?

es steht nicht mehr

und sie?

bei ihr konnte ich sein
sie fragte nicht
sie wusste

und jetzt?


frag nicht

wer trägt sorge?


ich bin nicht schuld

wer gibt acht?


bitte

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annette
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Beitragvon annette » 05.01.2007, 10:53

Lieber Paul,

Dein Text spricht mich sehr an und macht mich beklommen. Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob ich ihn richtig verstehe, aber für mich liest er sich so:
Im Text spricht das Ich über seine Mutter, die alt und verwirrt ist („der geist ganz woanders / das nachthemd beschmutzt“).
Die zerbrochene Scheibe ist der trübe Blick, der ganze Mensch das Haus, zu dem das Ich immer kommen konnte, und das nun nicht mehr steht. Gleichzeitig ist es das Haus, in dem die Mutter früher gelebt hat, zu dem sie zurück will und nach dem sie immer fragt, weil sie immer wieder vergisst, dass es nicht mehr steht.

Früher hat sie alles gewusst, heute stellt sie Fragen, weil sie sich an nichts mehr erinnert. Sie braucht nun jemanden, der Sorge trägt (erinnert mich an das Sorgerecht im Fall von Vormundschaften), jemanden, der auf sie acht gibt.

Was ich in diese Interpretation nicht einordnen kann, sind die drei letzten Zeilen der sechs zusammenhängenden Zeilen:
"wenn ich die straße langlief
immer wusste ich, wenn
etwas war"

Wer spricht hier? Anschließend an die drei vorangehenden Zeilen müsste auch das die Mutter sein, aber es wäre die einzige Stelle, in der sie in der ersten Person auftaucht. Vielleicht ein wacher Moment, einer, in dem sie sich erinnert?

Auch die kursiven Fragen kann ich nicht einheitlich zuordnen. Bis „das haus?“ scheinen es mir die Fragen der Mutter zu sein, danach die des Ich.

Sehr feinfühlig, sehr eindringlich.
Lieber Gruß, annette

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 06.01.2007, 13:45

Liebe Annette,

Du hast schon einige wichtige Punkte entdeckt. Die kursiven Zeilen habe ich aber natürlich aus einem bestimmten Grund hervorgehoben. Es wäre doch verwirrend, wenn sie von verschiedenen "Sprechern" stammten, oder?

Während die Zahl der Sprecher sich noch recht leicht festlegen lässt, wird es umso schwerer, wenn man versucht, die Zahl der Personen zu bestimmen, um die es geht...

Grüße

Paul Ost

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Beitragvon leonie » 06.01.2007, 17:40

Hallo Paul Ost,

also, ich dachte, die kursiv geschriebenen Zeilen sind einer einzelnen Person zuzuordnen. Aber mit den anderen finde ich es auch verwirrend. Ich habe wie Annette an einen verwirrten Menschen gedacht, der durch das "ich" spricht. Aber warum die von Annette schon angesprochenen drei Zeilen?

Auf jeden Fall berührt es mich auch.

Ist es ein Stilmittel, dass der Leser auch verwirrt zurückbleiben soll? Für mich ist das Ganze jedenfalls noch sehr rätselhaft.

Wenn es kein Stilmittel ist, wäre ich froh über den ein oder anderen Hinweis.

Liebe Grüße

leonie

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 06.01.2007, 17:44

Liebe Leonie,

Du kannst verwirrt sein, Du kannst aber auch über Verwirrung sprechen. Du kannst sogar über Dinge sprechen, ohne darüber sprechen zu wollen.

Man müsste wohl die Beziehung zwischen den beiden Sprechern analysieren.

Grüße

Paul Ost

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Beitragvon leonie » 06.01.2007, 17:49

Lieber Paul Ost,

ich habe einmal einen Mann in einer Situation erlebt, in der er verwirrt war. Als ich ihn später noch einmal besuchte, war er vollkommen klar und konnte sich an alles erinnern, was er gemacht hatte, als er verwirrt war. Es war ihm furchtbar peinlich.
Daran hat mich Dein Text erinnert. Der manchmal verwirrte Mensch spricht mit einem, der es nicht versteht und erwähnt sie, die es versteht, was mit ihm passiert. So etwa?

Eigentlich finde ich es gar nicht schlecht, wenn ein Text über Verwirrtsein auch verwirrend ist. Es hat etwas Konsequentes.

Liebe Grüße

leonie

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Beitragvon annette » 06.01.2007, 20:02

Paul Ost hat geschrieben:Während die Zahl der Sprecher sich noch recht leicht festlegen lässt, wird es umso schwerer, wenn man versucht, die Zahl der Personen zu bestimmen, um die es geht...

Dann ist es also ein Dialog: Das Du stellt Fragen und das Ich weicht den Fragen aus oder antwortet. Es gibt eine „Sie“, über die gesprochen wird.

Zu der Art des Gespräches fällt mir ein, wie penetrant Fragen sein können, wie quälend – was zum Titel passt. Es geht um Fragen und um "Wissen („frag nicht“, „sie hat es gewusst“, „immer wusste ich“, „sie fragte nicht / sie wusste“).
Aber das alles hilft mir nicht weiter, bringt mich dem Inhalt noch nicht näher.

Lieber Gruß, annette

Trixie

Beitragvon Trixie » 06.01.2007, 23:42

Guten Abend!

...also für mich sind das drei Personen. Wenn wir bei der Interpretation mit der Mutter bleiben, würde ich sagen: Über die Mutter wird gesprochen. Sie trägt das Nachthemd, sie hat es gesehen, wer trägt Sorge für sie. Die kursiven Sätze spricht die Schwester und der Rest wird vom Sohn gesprochen, zum Beispiel. Der miterlebt hat, wieso die Mutter nun im Heim oder so ist. Die Tochter jedoch war lange Zeit fort und ist nun aufgrund von diesem Ereignis wieder an ihrem Heimatort zurückgekehrt und will, dass der Bruder ihr erzählt, was geschehen ist. Wenn ich das mal "übersetze" wie ich es verstehe:

Mann: Mutter hat nur noch einen trüben blick. Die Leute spotten über sie.

Seine Schwester: Was ist denn überhaupt passiert?

Mann: Sie hat die Scheibe zerbrochen.

Seine Schwester: wann war das?

Mann: frag nicht!

Seine Schwester: erzählst Du es nicht?

Mann: sie hat es gewusst, dass sie es war, aber sie hat so getan, als wäre nichts.

sie hat es gesehen, sie muss es gesehen haben, denn sie war dabei.

Seine Schwester: was hat sie gesehen?

Mann: Sie ist gestürzt, ihr Blick war trüb (von Tabletten? Kummer? Alkohol?)
der geist ganz woanders (aus obigen Gründen)
das nachthemd beschmutzt (auch aus obigen Gründen)
Bisher wusste ich immer schon vorher, ob alles in Ordnung war oder nicht, wenn ich an ihrem Haus vorbei gelaufen bin.

Seine Schwester: das haus? Hat sie es verkauft? Wurde es repariert? Was ist damit geschehen?

Mann: es steht nicht mehr

Seine Schwester: und sie? Wo haben sie sie hingebracht? Was ist mit ihr?

Mann: bei ihr konnte ich sein
sie fragte nicht
sie wusste, sie war schließlich meine Mutter.

Seine Schwester: und jetzt?

Mann: frag nicht

Seine Schwester: wer trägt sorge?

Mann: Ich nicht, denn ich bin nicht schuld

Seine Schwester: Aber wer gibt denn acht?

Mann: bitte frag jetzt nicht weiter, ich habe dazu nichts mehr zu sagen.



Das wäre eine Interpretation. Es könnte auch sein, dass es um die Exfrau geht, die vor lauter Kummer Alkoholikerin wurde und aus Versehen gegen das Fenster und aus ihm heraus stürzte und nun in psychiatrischer Behandlung ist. Der Exmann gibt sich nicht die Schuld und möchte auch keine Fragen beantworten, weil er nichts mit der Sache zu tun haben will, obwohl es ihn schon trifft, denn er wusste, wie es um sie steht und hatte schon noch ein gutes Verhältnis zu ihr, obwohl es beziehungsmäßig vorbei war. Das ist vielleicht ein bisschen weit hergeholt und mir würde die Variante mit der Mutter besser gefallen, aber es wäre möglich :-)!

Jedenfalls gefällt mir dieser Text, er nimmt mich mit und bringt eine intensive Stimmung mit sich, die einem viel Raum für eigenes lässt. Sowas mag ich und ich wüsste auch nichts daran zu ändern oder deutlicher hervorzuheben.

Grußchen
Trixie

Gast

Beitragvon Gast » 07.01.2007, 02:59

Lieber Paul,
für mich unterhalten sich zwei Personen. Ein Vater und ein Sohn, (alternativ Tochter). Für mich stellt der Sohn die Fragen an den Vater, der selbst auch schwach (alt) ist.
Die Mutter ist wohl in die Psychatrie eingewiesen worden, nach Unglücksfällen, die der Vater nicht hat abwenden können, davon gehe ich aus. Das Gespräch wird über eine verwirrte Kranke geführt. Weil der Sohn bohrende Fragen stellt, - wissen möchte was, wie geschah, versucht der Vater zu erklären und gleichzeitig auch zu beteuern, dass er nicht Schuld ist, sondern immer auf der Hut war.
Ich lese diesen Passus wie folgt, die Mutter betreffend erzählt der Vater:

den sturz, den trüben blick
der geist ganz woanders
das nachthemd beschmutzt


das nächste betrifft ihn wohl selbst, wenn er hinter der Mutter herlief:

wenn ich die straße langlief
immer wusste ich, wenn
etwas war


Man spürt an der Art und Weise, der gestellten Fragen, dass der Sohn keine Vorstellung vom Leben der Mutter während ihrer Erkrankung hatte. Deshalb die drängenden Fragen, die auch vom schlechten Gewissen des Sohnes erzählen, der sich vielleicht auch hätte kümmern können. Er sucht nicht nur Klarheit, sondern möchte sich freisprechen können von Schuld, aber er hat auch Sorge darum, wer jetzt für die Mutter sorgt.
Der Vater spürt m. E. die unterschwellige Vorwurfshaltung des Sohnes, der zwischen den Fragen vermuten lässt, dass man hätte besser aufpassen können, damit die Mutter nicht hätte stürzen müssen.
Vielleicht geht es um einen Suizid, dem verwirrten Geist entsprungen.
Die Frage, nach der Mutter, wo sie (jetzt) ist, zeigt, dass der Sohn noch die Tragweite noch nicht begriffen hat.
Die Frage nach dem Haus, unter der Voraussetzung, dass der Sohn länger fort war, kann die Frage nach der Heimat sein, nach Beständigkeit und Fürsorge, die er durch die Mutter erfahren hat, wenn er noch relativ jung ist. Oder sie richtet sich in Richtung: wo sind die Fianaziellen Resourcen, wo ist mein Erbe. (Was vielleicht für die Pflege der Mutter gebraucht wurde und deshalb verkauft.

So wie ich dein Gedicht lese und ich habe mich lange damit befasst, habe den Dialog auseinader gezogen , gegenüber gestellt, und geprüft, beschreibst du Menschen, die Schuld von sich weisen, sich selbst und gegenseitig beteuern, für eine Situation nichts zu können.

Jeder versucht möglichst davon zu kommen.
Der eine mit fragen, der andere mit den Antworten.
Eigentlich hat Niemand objektiv Schuld auf sich geladen, obwohl das Gewissen der Betroffenden Signale in diese Richtung aussendet.
Ich glaube, du hast einen Nerv genau getroffen, nämlich wie sich Angehörige fühlen müssen, die Unglück von einem Kranken, der für sein Handeln nicht verantwortlich ist, nicht haben abwenden können. Sie werden sich immer irgendwie schuldig fühlen und immer wieder die gleichen Gespräche führen, um sich zu vergewissern, dass sie keine Schuld auf sich geladen haben.
Das war meine Interpretation des Gedichts, die nicht stimmen muss, die ich jedoch für einigermaßen schlüssig halte.

Zum formalem Aufbau möchte ich nur sagen, dass ich die zentrierte Setzung eher hinderlich für das Verständnis empfinde.
Die Sprache ist eindringlich, klar und drängend, sie hinterlässt bei mir ein beklemmendes Gefühl, was du sicher beabsichtigt hast.

Ein gutes Gedicht, lieber, Paul Ost.

Nächtliche Grüße
Gerda

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Beitragvon annette » 07.01.2007, 11:16

Gerda Jäger hat geschrieben:So wie ich dein Gedicht lese, [...]beschreibst du Menschen, die Schuld von sich weisen, sich selbst und gegenseitig beteuern, für eine Situation nichts zu können.
Jeder versucht möglichst davon zu kommen.
Der eine mit fragen, der andere mit den Antworten.

Ja, Gerda, danke! Das hast Du sehr gut herausgelesen, denke ich. Das trifft auch mein Lesen, ohne, dass ich es hätte formulieren können.

Gruß, annette

pandora

Beitragvon pandora » 07.01.2007, 11:40

herr ost,

ich mag gedichte, die mir leerstellen lassen, die ich beim lesen füllen kann. hier aber habe ich den eindruck, dass der dichter mir die leerstellen anbietet und ICH das eigentliche gedicht schreiben muss. dafür allerdings fehlen mir ein paar koordinaten.
ich assoziiere einen ausbruchversuch / brandstiftung / schizophrenie / demenz, aber ich bin außerstande, ein stimmiges szenario zu entwerfen.

liebe grüße
frau peh

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 07.01.2007, 12:23

Liebe Gerda,

viele Dinge, die Du schreibst treffen genau den Nerv, auch wenn die Identität der Personen ja (fast) nicht festgelegt ist. Abgesehen vielleicht einmal von dem Nachthemd, das ja eine geschlechtliche Festlegung anbietet.

Im Grunde hat Trixie eine ähnliche Richtung eingeschlagen. Ihr beide lest in dem Gedicht eine Spur familiären Unglücks. Ob nun Vater und Sohn miteinander sprechen oder Bruder und Schwester erscheint mir fast belanglos. Es sei denn... Wäre das Haus das Zentrum der Familie und es stünde nicht mehr... (Warum, Pandora, sollte es ein Brand gewesen sein? Man kann Häuser auch aus finanziellen Gründen verkaufen.)

Mir gefällt Eure Haltung, Frau Pandora, sehr gut. Warum soll ich mich damit auseinandersetzen? Ich müsste viel mehr Fragen stellen. Bohrende Fragen. Aber das lyrische Ich verweigert mir die Auskunft. Es will gar nicht mit mir sprechen. (Der Titel.) Also lehne ich das Gedicht in seiner Form ab. Vor allem auch deshalb, weil ja dann doch Ausbrüche von Mitteilungswillen durchbrechen, die jedoch nicht weit genug gehen. Eine Form der schizophrenen Kommunikation. Das lyrische Ich will sich mitteilen, (warum sonst ein Gedicht?) verweigert aber die Auskunft. Solche Sprachspiele sollten kluge Menschen nach Möglichkeit vermeiden.

Dank an alle für die intensive Beschäftigung mit diesem sich der Erzählung verweigernden Erzählgedicht.

Liebe Grüße

Paul Ost

pandora

Beitragvon pandora » 07.01.2007, 12:54

herr ost,

erlauben sie noch zwei anmerkungen.

zum einen: "das haus steht nicht mehr" deutet für mich in erster linie auf zerstörung, nicht auf veräußerung!, hin. (klar kann ein käufer ein gebäude nach dem kauf auch abreißen und auf dem grund ein neues errichten, aber das ist ein gedankenumweg. für mich.)

zum anderen: ist es nicht ganz oft so, dass menschen, die uns ein "frag bloß nicht nach!" entgegenschmettern, es eigentlich bitter nötig haben, eben doch gefragt zu werden???

p.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 07.01.2007, 13:06

Frau P.,

ad 1) Genau!

ad 2) Da stimme ich Ihnen zu. Aber es ist eben die Frage, wieviel Energie wir in den Menschen investieren wollen, der die Auskunft verweigert.

Sonntagsgrüße

Paul Ost


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