das jahr nennt sich neu

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leonie
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Beitragvon leonie » 02.01.2007, 14:49

das jahr
nennt sich neu


nachrichten werden
ausgetauscht
die supernanny besucht
wieder kinder

jene die flohen
kehren in ihr leben zurück
um in vertrauten betten
zu ruhen

limousinen liefern
neuware an
über den schornsteinen
des krematoriums flimmert es

die zigarette schmeckt noch
nach schlechtem gewissen
von gegenüber glotzt mir
die jemand ins fenster

ich sehe die runzeln
das graue haar


Erstfassung:

das jahr
nennt sich neu


nachrichten werden
ausgetauscht
die supernanny besucht
wieder kinder

jene die flohen
kehren in ihr leben zurück
um in vertrauten betten
zu ruhen

über den schornsteinen
des krematoriums flimmert es
wie am samstag
als dieter starb

die zigarette schmeckt noch
nach schlechtem gewissen
von gegenüber glotzt mir
die alte ins fenster

ich sehe die runzeln
das graue haar
Zuletzt geändert von leonie am 23.01.2007, 22:31, insgesamt 5-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 03.01.2007, 11:16

Liebe leonie,
ganz starker Text! Und was sofort auffällt (da man weiß, dass dein Ton ja nicht immer so ist): der Ton ist durchgängig eingehalten! Toll.

Was mich sofort anspringt (daher hoffe ich sehr, dass das andere auch so sehen): Bitte nimm die erste beiden Verse mit in den Titel (oder lass sie allein Titel werden). Streich also entweder das 2007 oder mach: 2007 - das jahr nennt sich neu , das fänd ich klasse.

Ansonsten habe ich nur eine Anmerkung: Das Verb "flimmern" passt für mich nicht zu dem, was Schornsteine tun (achso doch, jetzt fällt mir ein, dass wenn man in das, was hinaufsteigt, hineinguckt es tatsächlich flimmert, so wie im Sommer bei Hitze die Straße, stimmt!! Hmmm...).

Alles andere ist gelungen pointiert, schwarz gezeichnet, die angerissenen Themen stimmen in ihrer Verschiedenheit lakonisch zusammen. In sich stimmig und wirklich überraschend frisch & hart.

Gerne gelesen!
Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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leonie
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Beitragvon leonie » 03.01.2007, 11:57

Liebe Lisa,

vielen Dank!
Mit der Überschrift bin ich auch nicht glücklich. Ich kann mir vorstellen, sie so zu ändern, wie Du vorgeschlagen hast, nur brauche ich sie in den ersten beiden Zeilen auch, weil diese mit den letzten beiden in Verbindung stehen.

Zu dem Flimmern: Hier gibt es ein Krematorium. Ich hatte einmal Gelegenheit, es zu besichtigen und der Techniker dort hielt einen langen Vortrag über Schadstoffemissionen. Es war ziemlich makabar, fast schon wieder witzig. Jedenfalls flimmert es über dem Schornstein tatsächlich.

Meistens bist Du fast die einzige, die diese Art von Texten von mir gut findet. Aber ehrlich gesagt, ich mag sie auch...

Liebe Grüße

leonie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 03.01.2007, 12:23

Liebe leonie,

mich spricht dein Gedicht sehr an, diese schon ironische Betrachtung. Und mit dem Titel sehe ich es so wie Lisa.

"das jahr
nennt sich neu"

Das ist gut! Es nennt sich neu, ist aber im Prinzip wieder das gleiche wie vorher, bzw. es geht grad so weiter.

Das hier gefällt mir besonders gut:

"die zigarette schmeckt noch
nach schlechtem gewissen"

Saludos
Magic

Gast

Beitragvon Gast » 03.01.2007, 12:33

Liebe leonie,

eine gute, ironische Skizze (nicht abwertend gemeint) dessen, was sich trotz neuen Jahres in den gleichen Gleisen bewegt, wie im alten Jahr.
wie wäre als Titel: Erneuert?
Was mir ein wenig fehlt sind eigentlich Bindegleider zwischen den (Bau(steinen , den Versen des Gedichts, aber bitte frag mich nicht nach geeigneten Vorwschlägen, da muss ich im Moment noch passen.
Der anfang z. b. könnte auch lauten:
Wir nennen das Jahr neu finde ich.
Es klingt in deiner version sehr entpersonifiziert, obwohl es ja durchaus menschlich ist, vom neuen Jahr etwas Neues oder eine Veränderung zu erwarten.

Einzig dieser Vers erscheint mir unstimmig: (nicht wegen des Flimmern)
die schornsteine
des krematoriums flimmern
wie am samstag
als dieter starb

sondern der Zuammenhang zwischen dem Tod und dem geleichzeitigen Verbrennen ist künstlich hergestellt.
M. E. könntest du jeden anderen Schornstein "flimmern" lassen, ohne Wirkung einzubüßen.
Aber das mag auch nur meine subjektive Sicht sein.
Jedenfalls stark und interessant, somit Gegepol zu meinem Vers. ;-)

Liebe Grüße
Gerda

Klara
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Beitragvon Klara » 03.01.2007, 12:38

Hallo,
guter Text!
brüchig und wahr.

Die Überschrift - die ist schwach, das stimmt. Ist es wichtig, dass es 2007 ist?

Wie wärs mit "Es nennt sich neu" oder "Neues Jahr" oder "Neujahr" oder "altgeborn" oder oder oder...

lg
klara

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 03.01.2007, 15:06

Liebe leonie,

ich glaub, ich habs (für mich :love: ). Ich wäre für "Und dieses Jahr nennt sich neu" als Titel. Der Titel wäre dann zugleich eine Art Einstimmung in den Text, als kein Titel wie eine Überschrift. Das passt in meinen Augen auch gut, weil diese Zeilen ja im Grunde noch einmal allgemeiner fassen, was dann in Einzelbildern folgt (mich stört die Brüchigkeit übrigens nicht, so brüchig finde ich es noch nicht mal, jede vorangehende Strophe greift die vorherige minimal auf, mir gefällt das).
Und mir (wäre nur jeder Meerspaziergang so ergiebig) ist auch zu dem Flimmern eingefallen, was mich stört: Nicht die Schronsteine flimmern, sondern über ihnen flimmert es.

Und dieses jahr
nennt sich neu


nachrichten werden
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die supernanny besucht
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jene die flohen
kehren in ihr leben zurück
um in vertrauten betten
zu ruhen

über den schornsteinen
des krematoriums flimmert es
wie am samstag
als dieter starb

die zigarette schmeckt noch
nach schlechtem gewissen
von gegenüber glotzt mir
die alte ins fenster

ich sehe die runzeln
das graue haar

Liebe Grüße,
Lisa


(Ich halte 2007 auch für nicht so wichtig zu nennen)
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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leonie
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Beitragvon leonie » 03.01.2007, 17:40

Liebe magic, liebe Gerda, liebe Klara, liebe Lisa,

ersteinmal vielen Dank für Eure Rückmeldungen.

Ja, der Titel. Im Moment kann ich mir am ehesten vorstellen, die ersten beiden Zeilen zu nehmen. Ich denke, ich ändere es auch so, denke aber doch noch darüber nach.

Lisa, Deine Titel-Idee gefällt mir nicht so ganz, weil sie für mich etwas von dem Frust-Gefühl vorwegnimmt, das erst später kommen soll.

Mit dem Flimmern hast Du recht. Das sagt man nicht, etwa wie "Schornsteine rauchen" (das tun sie ja auch nicht wirklich, aber es ist gängige Rede...)

Gerda, die Krematoriumsstrophe überdenke ich noch. Es sollte etwas aussagen wie: Immer noch wird gestorben (trotz angelblich neuem).
Ich überlege etwas wie:

limousinen liefern
neuware an
über den schornsteinen
des krematoriums flimmert es

Wie findet Ihr das? Es soll schon richtig böse sein....

Liebe Grüße

leonie

Gast

Beitragvon Gast » 03.01.2007, 22:02

Liebe leonie,

limousinen liefern
neuware an
über den schornsteinen
des krematoriums flimmert es


ich finde diesen Vers schon treffender, als den vorherigen, bin mir aber mit "Limousinen" noch uneins- ich weiß nicht, ob du damit die Fahrzeuge meinst die die Leichen (Neuware) zum Kreamtorium bringen... :confused:

Ich hatte eher an die Möglichkeit gedacht,
evtl. in Z 1 - 2 zu schreiben, die Schornsteine z. B. beim nahen Chemiewerk o. ä. rauchen, qualmen...
und diese Zeilen
wie am samstag
als dieter starb

zu lassen .

Ich dachte, dass du die Alltäglichkeit des Werktags, (Rauchende Schornsteine) dem "Gestorben wird immer noch", gegenüberstellen wolltest.

Böse, bzw. real ist der Vers so oder so.

Liebe Grüße
Gerda

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Beitragvon leonie » 03.01.2007, 22:30

Liebe Gerda,

ich hänge an diesem Kreamtorium, vielleicht wegen dieser makabren Veranstaltung dort, die ich sehr gut mit diesem Gedicht in Verbindung bringe. Mit den Zeilen "wie am samstag als dieter starb" war ich ohnehin nicht ganz glücklich. Deshalb könnte ich mir diese Krematoriumsstrophe ganz gut weiterhin so oder ähnlcih vorstellen.

Am liebsten hätte ich es allerdings doppeldeutig (dass man es auf die Leichen beziehen kann, aber nicht muss), deshalb finde ich Limousinen auch nicht so richtig gut. Aber "Laster" würde man ja gar nicht mit den Leichen in Verbindung bringen. Was gäbe es denn noch an Fahrzeugen: Kleintransporter ist auch nicht das Wahre, oder?

Ich denke weiter nach.

Liebe Grüße und danke für Dein Mitdenken

leonie

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 23.01.2007, 21:04

Hallo leonie,

das ist ein starker text.

Ungelenk find ich das "jene die flohen", aber das liegt am "jene", kein Wort das ich mag.

Am Schluss mag ich die Beschreibung der "alten" nicht. Das "sie glotzt mir ins Fenster" ist so stark,
da brauch ich keine Details von ihr.

ich seh` sie auch

würde mir reichen und mir Platz lassen, die Alte selber auszumalen.

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Beitragvon leonie » 23.01.2007, 22:31

Lieber reimerle (ohje, verzeih mir, wenn ich aus versehen einmal liebes reimerle schreibe :smile: ),

danke, dass Du das nocheinmal hervorgeholt hast. Das "jene" werde ich wohl lassen, weil die,die auch nicht gut klingt. Aber mit der Alten hast Du mich überzeugt, das ändere ich. Danke dafür!

Liebe Grüße

leonie


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