Ziemlich weit weg

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 24.12.2006, 20:23

Ich spüre Deine Nähe:
Zwischen uns
nur der Nebel,
das Ruhrtal,
ein paar Häuser, Straßen,
Autos, Krähen und
vereinzelte Elstern.

Ach ja! Und natürlich
die letzten drei Lichtjahre.
Zuletzt geändert von Paul Ost am 27.12.2006, 16:18, insgesamt 1-mal geändert.

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annette
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Beitragvon annette » 26.12.2006, 14:26

Lieber Paul,

mir gefällt Dein Spiel mit Nähe und Ferne. Räumliche Nähe vs. emotionale, bzw. zeitliche Distanz.
Auch die Stimmung gefällt mir: Es ist ein Herbst- oder Winterabend, die Straßen sind leer und zunächst scheint die Szene romantisch.

Die letzten beiden Verse kontrastieren in Stimmung und Ton. Besonders mag ich die gleichzeitig räumliche und zeitliche Verwendung der „Lichtjahre“.
Eine Frage: Brauchst Du Krähen und Elstern?

Es grüßt Annette

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 26.12.2006, 14:38

Liebe Annette,

lieb von Dir, dass Du Dir meine kleine Winterklage angeschaut hast. Zufrieden bin ich damit nicht. Der Text muss in einem schwachen Moment entstanden sein.

Krähen (oder Raben) sind einerseits schön, andererseits eitel. Diese Bedeutung gibt es bei Elstern nicht. Dagegen habe ich anhand der Elstern folgenden Kinderreim kennengelernt:

One for sorrow,
two for joy,
three for a girl,
four for a boy,
five for silver,
six for gold,
seven for a secret
never to be told.

Begegnet man einer Elstern, muss man sie grüßen, um das Unglück abzuwenden. Daher sind die Elstern vereinzelt unterwegs.

Übrigens gilt der Spruch (zumindest in Amerika) auch für Krähen. Daher ja auch der Band-Name "Counting Crows".

Grüße

Paul Ost

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annette
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Beitragvon annette » 26.12.2006, 19:28

Lieber Paul,

dass den Krähen Eitelkeit zugeschrieben wird, war mir neu. Ich weiß, dass Rabenvögel, zu denen ja auch die Elster gehört, wegen ihrer Intelligenz häufig mit Weisheit und Prophezeihungen in Verbindung gebracht werden.
Die negativen Konnotationen, die Du nennst, haben sie erst im Christentum erhalten.

In Deinem Text stehen die Vögel für Unglück und Eitelkeit?

Vielleicht ist es noch interessant zu wissen, dass Elstern die Krähen als ihre Feinde normalerweise meiden. Und ganz einzeln findet man Elstern selten, normalerweise sieht man sie paarweise oder in kleinen Familientrupps. Aber im Vergleich zu Krähenschwärmen ist das ja schon recht vereinzelt.

Auf jeden Fall greifen die Krähen und Elstern die Nebelstimmung in Deinem Text gut auf. Die „Häuser, Straßen, Autos“ wirken dazwischen ganz nebensächlich.

Auch wenn Du nicht zufrieden bist, mich sprechen die Zeilen immer noch an.

Gruß, Annette

scarlett

Beitragvon scarlett » 26.12.2006, 23:12

Lieber Paul,

mich sprechen deine Zeilen sehr an.
Vor allem das scheinbar Belanglose, das du aufzählst, und das als Mittel den Leser nur lange genug weg halten soll von dem Eigentlichen, dem Wesentlichen, sehe ich als gelungenen Kunstgriff. Der Leser wird am Ende umso mehr in die Emotion gestürzt, und das hat bei dir System, denke ich...
Ist mir bei einigen anderen Gedichten von dir schon aufgefallen -

Sehr gerne gelesen und mich darin wiedergefunden - die Elstern lassen grüßen :lesen0005:

scarlett

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 27.12.2006, 12:17

Lieber Paul,
wie soll es anders sein, mich spricht der Text auch sehr an. Das Ende kommt aufgrund der Überschrift und des wie und was des Dazwischen (Nebel, Krähen, Elstern..) nicht völlig unvermutet (was ich gut finde), bewirkt aber trotzdem noch das, was eine "Wendung" bewirken soll - sie bewegt, das gefällt mir.
Auch das "ziemlich" finde ich schön gesetzt, viel kräftiger als ein "sehr" oder "endlos". Und schön natürlich auchwie du die Lichtjahre für ein Maß der Entfernung zeitlich werden lässt.
Zur Vogelkunde möchte ich mich diesmal enthalten, nur sagen, dass ich mich annettes Beobachtungen anschließe, was das vereinzelt angeht ;-).

Man könnte streiten, ob nach dem Doppelpunkt nicht klein weiter geschrieben werden müsste, gibt ja kein Verb für den Satz, ich wär für klein...

Ein guter Paultext,
liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 27.12.2006, 16:24

Hallo zusammen,

es ehrt mich sehr, dass ihr diesem kleinen Text so viel Aufmerksamkeit zuwendet, zumal er doch eher einem spontanen Gefühlsausbruch entbricht, denn einem wirklichen Gedicht. Aber was soll das schon sein.

Liebe Scarlett,

ich mag es wohl deshalb so einfach, weil mir oft die neuen und ungewöhnlichen Wortspiele nicht einfallen mögen. Also muss ich aus der Not eine Tugend machen.

Liebe Annette,

Du hast schon Recht. Da Du aber nicht abergläubisch bist, wirst Du auch nicht bemerkt haben, dass manche Elstern gelegentlich auch allein unterwegs sind. Wenn sie ihre Paarungszeit haben, im Frühling, glaube ich, fliegen sie meistens zu zweit herum.

Liebe Lisa,

noch schreibe ich nach dem Doppelpunkt groß weiter. Warum? Es ist schon ein vollständiger Satz, der da folgt, auch wenn das Verb - als Ellipse - ausgespart wurde.

Ein Paultext also, soso...

Grüße

vom Paultexter

Max

Beitragvon Max » 27.12.2006, 21:58

Lieber Paul,

das finde ich in seiner lakonisch-ironischen Art sehr schön.

An den vielegrühmten Gebrauch der Lichtjahre als Zeit- und Entfernungsmaß musste ich erst gewöhnen, habe für mich ein bißchen rumprobiert, nur besser wurde es dadurch nicht ;-)

Sehr gern gelesen.

liebe Grüße
max

Max

Beitragvon Max » 27.12.2006, 21:59

PS.: was mir auch gefällt ist, dass ich inzwischen einige Teile Deutschalnds direkt mit Deinen Augen gesehen habe und mich - mit Ausnahem von Weinmar, das kenne ich nicht - immer wieder auch an meinen Blick erinnert fühlte

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leonie
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Beitragvon leonie » 27.12.2006, 22:03

Lieber Paul Ost,

für mich entlarvt der Text, dass das "Nähe spüren" eigentlich nur ein "Erinnern an Nähe spüren" ist. Auch wenn Du das vielleicht nicht beabsichtigt hast...

leonie
Zuletzt geändert von leonie am 27.12.2006, 22:12, insgesamt 1-mal geändert.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 27.12.2006, 22:07

Liebe Leonie,

vielleicht kannst Du den Text so gegen den Strich bürsten. Mir ging es um ein anderes Gefühl. Kennst Du das nicht, wenn Du die Nähe eines Menschen spürst, ohne dass Du wissen kannst, wo dieser Mensch sich gerade aufhält.

Mir geschieht das gelegentlich. Es ist wie ein Blick in eine unübersehbare Menschenmenge. Trotzdem erkennt man auf den ersten Blick die eine Person. Auch nach Jahren. Gewiss. In diesem Text hier wird die Distanz nur allzu deutlich.

Grüße

Paul Ost

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leonie
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Beitragvon leonie » 27.12.2006, 22:13

Doch, das kenne ich. Aber ich frage mich, ob es nicht eher die Erinnerung ist, die ich spüre als die tatsächliche Gegenwart. Obwohl das natürlich ein schöner Gedanke wäre (wenn man den Menschen mag zumindestens)...

leonie


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