Dezembermond

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 06.12.2006, 21:51

Leuchte nur, kalter Mond,
gleichgültig am Himmel.
Deine schwindende Blöße
vermagst Du kaum
mit den paar Wolkenfetzen
zu verdecken.

Du musst verstehen!
Sagte sie einmal nur:
"Leg Dich zu mir. Bleib!",
wir liefen gewiss
über die Paderdielen.
Ja, ich wachte bei ihr
bis ans Ende der Nacht.

Aber die Fassaden dieser
Stadt bergen Heimaten
für andere.

Und der Morgen
bricht die Nacht,
weil auch das Gegenteil
falsch ist.
Zuletzt geändert von Paul Ost am 07.12.2006, 14:47, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 06.12.2006, 23:25

Hallo Paul,

das gefällt mir total gut. Soviel Gefühl, ohne eindringlich zu werden. Und auch, weil man den ersten Vers auf "sie" beziehen kann. Klasse!

Hier:

Aber die Fassaden dieser
Stadt bergen Heimaten --> Heimat statt "Heimaten"
für andere.


Saludos
Magic

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 07.12.2006, 09:43

Liebe Magic,

danke für Dein Lob. Natürlich gibt es keine "Heimaten". In diesem Falle wollte ich aber mit Absicht den nicht existierenden Plural bilden. Ich dachte, das wäre klar.

Grüße

Paul Ost

Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.12.2006, 12:31

Huhu Paul,

ja, sowas dachte ich mir schon, aber dennoch frage ich mich, wieso? :12:
Saludos
Magic

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 07.12.2006, 13:13

Lieber diebischer Paul,

ich hätte nie gedacht, dass mich ein Diebstahl einmal freuen würde...aber was man nicht denkt, das passiert :-). (dummdidumm...ich lese sogar noch eine gestohlene Zeile...nagut, eine halbe...eine Anlehnung..) Nie bin ich so reich gewesen! :blume0030:

Gleich die erste Strophe ist natürlich schön...das mag ich, den Mond necken in seiner Weiße...das gefällt mir.

Die Heimaten lassen mir keine Fragezeichen wachsen, bitte lass sie stehn. Dafür darfst du aber ein l bei bleib einfügen? Und das sie klein schreiben? (Diebstahl macht wohl hektisch :hut0039: )

Schon wie du das Thema adaptiert hast...eine genau umgekehrte Perspektive und dennoch bleibt letzlich das Gefühl das gleiche (oder?)

Beim Ende knuspere ich ein wenig..zum einen - was denn genau mit Gegenteil gemeint ist:
Der Morgen bricht die Nacht - Die Nacht bricht den Morgen? besser: das Morgen? @Heimaten...?
Oder bricht der Morgen die Nacht, weil das Wachen, das Bleiben auch falsch ist innerhalb des Horizontes des Gedichts?
Und als zweites: Das "das gegenteil falsch ist" ~~~ eventuell ließe sich das sprachlich noch etwas anders sagen? weil auch das Gegenteil unmöglich ist? nie sein wird? Ich weiß, du liebst es schlicht...vielleicht muss es so...ich weiß noch nicht...

Das war mehr als schön zu lesen, weil es eine Paul-Ost-Antwort war...
Liebe Grüße,
Lisa

(Die Paderdielen habe ich glaube ich auch verstanden....pssst....)
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 07.12.2006, 14:52

Liebe Lisa,

danke für die Korrekturen. Ich bin allgemein mit den Gedanken woanders im Moment. Aber meine Klassen finden das auch immer ganz toll, wenn sich eine Schülerin (seltener ein Schüler) meldet und sagt: "Äh, Herr Ost, ich glaube Sie haben sich da verschrieben!"

Um die Wahrheit zu sagen: "Das Gegenteil ist auch falsch" ist vielleicht ein blöder Satz. Er ist aber ebenfalls ein Diebstahl, der so stehen bleiben sollte.

Was die Heimaten betrifft... Was meinen die anderen? Ich wollte betonen, dass es viele Heimatorte gibt. Für jeden in dieser Stadt einen. Aber für das lyrische Ich keinen einzigen.

Grüße

Paul Ost

Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.12.2006, 14:59

Hallo Paul,

Ich wollte betonen, dass es viele Heimatorte gibt. Für jeden in dieser Stadt einen. Aber für das lyrische Ich keinen einzigen.


Das drückst du genauso aus, wenn du "Heimat" schreibst. Auch, dass nur andere eine haben, das LI nicht.
Saludos
Magic

Peter

Beitragvon Peter » 07.12.2006, 15:27

Hallo Paul,


du sprichst die Ortlosigkeit des lyr. Ichs in deinem Gedicht an - das war das Erste, was mir auffiel. Es scheint mir wie von einem Gespenst gesprochen, einem Liebenden der blass wurde vor Sehnsucht und wohl eben deswegen den Mond wie einen Spott begreift, weil er/ der Mond ihm sein Spiegelbild zeigt. Ich kann mir vorstellen, auch das lyr. Ich ist mager geworden, mit Fetzen bekleidet und nirgends zuhause, weil sich nirgends die Sehnsucht erfüllt.

Nachdenken und rätseln musste ich an dem Wort "Paderdielen". Ich weiß nicht, was das für welche sind, aber als ich so vor mich hin phantasierte, dass sie wohl ziemlich alt sind und ächzen - wenn ich verstehe, ist das ein Bild des Beischlafs, und fügt sich, man weiß kaum warum, sehr schön in die Ironie des Gedichtes (also in den ironischen Ton, der ja auch besteht) einerseits, und andererseits auch in die "Umgebung", sprich die Häuser, das Haus, den Fensterblick deines Gedichtes.

Die Stadt erscheint mir dann recht altertümlich... märchenhaft beinah, und das wohl aus nichts als aus dem einen Wort der "Paderdielen", was ja ganz wunderbar ist, wenn ein einziges Wort das Gedicht umgreift und bestimmt... es zum "Raumwort" wird.

Der einzige Begriff, der mich ein wenig verunsichert, ist "Heimaten". Dabei liebe ich dieses Wort sehr und habe es auch selbst schon manchmal benutzt. Mir leuchtet ein, dass es Heimaten, also verschiedene Heimaten gibt. Nur weiß ich nicht, ob diese hinter "Fassaden", wie du schreibst, zuhause sind oder zuhause sein können. Ich komme damit nicht wirklich zurecht. Mir läuft das Wort Fassaden über, wenn ich Heimaten darin denke. Aber das mag an einer Konnotation liegen, um die sich das Gedicht nicht kümmern muss.

Sonst mit Gewinn gelesen!

Liebe Grüße,
Peter

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 07.12.2006, 18:25

Lieber Peter,

danke für Deine spannende Interpretation. Dein Problem mit den Fassaden und den Heimaten lässt sich recht gut aufklären. Das lyrische Ich neidet den beheimateten Häuserbewohnern ihre Sesshaftigkeit.

Was ihm oder ihr Fassaden sind, bedeutet den Städtern jeweils ihre eigene Heimat. Die Begriffe reiben sich aneinander und markieren damit genau das Problem des Lyrich.

Lachen musste ich bei Deiner Erklärung für den Begriff "Paderdielen". Ich benutze gerne ungewöhnliche und unbekannte Ortsnamen. Sie klingen oft poetisch, obwohl sie für einen einfachen geographisch eingrenzbaren Bereich stehen (z.B. Schwanseebad). Ähnliches gilt auch für die Paderdielen. Es handelt sich dabei um einen Spazierweg, der sich am kürzesten Fluss Deutschlands entlangschlängelt. (Lisa scheint das direkt bemerkt zu haben.) Es ist ein Ort, an dem Liebespaare spazieren gehen (könnten).

Grüße

Paul Ost

Peter

Beitragvon Peter » 07.12.2006, 18:58

Hallo Paul,

jetzt muss ich auch lachen. Aber ein bisschen schade ist es um meine Vorstellungen schon. Förmlich hörte ich die ächzende(n) Diele(n) und die läufigen Liebenden. Na gut. Auf anderes bezogen ist das Wort ja auch ganz schön.

Liebe Grüße,
Peter

Perry

Beitragvon Perry » 12.12.2006, 16:08

Hallo Paul,
ich kann leider mit den gestohlenen Zeilen und dem Wort Paderdielen nichts anfangen, trotzdem gefällt mir die Stimmung des "Verloren seins" in deinen Zeilen.
Ich finde, ein guter Text hat solche "Schnörkel" nicht nötig.
LG
Manfred

Trixie

Beitragvon Trixie » 12.12.2006, 18:20

Hallo Paul!

Wie immer: Schön. Einfach schön... da die Heimaten im direkten Bezug zu den Fassaden stehen, finde ich, kann man sie lassen. Denn eigentlich ist ja auch eher üblich oder "richtig", Fassade in der Einzahl zu schreiben. Und die gestohlene Zeile lässt wundervolle Erinnerungen in mir wach werden, mit denen ich dein Gedicht sehr gerne verbinde...vor allem, wenn ich das Lied dazu höre! Für mich ein Gedicht, das wert ist, einfach nur gelobt zu werden.

Danke für den Lesegenuss....

Lieben Gruß
Trixie

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 12.12.2006, 20:37

Lieber Perry,

der Text hat zugegebenermaßen einige Schnörkel. Zudem ist die Bemerkung, er enthalte nur eine gestohlene Zeile, untertrieben. Ich habe mich bei Lisa bedient, bei M. und natürlich - wie Trixie zurecht bemerkt hat - bei einem unbekannten Rock-Sänger namens David Coverdale, der 1974 zusammen mit Ritchie Blackmore das schöne Stück "Soldier of Fortune" geschrieben hat.

Da heißt es:

I have often told you stories
about the way.
I lived the life of a drifter,
waiting for the day,
when I take your hand
and sing you songs
and maybe you would say:
"Come lay with me and love me."
And I would surely stay.
But I feel I'm growing older,
and all the songs that I have sung
echo in the distance like the sound
of a windmill going round.
Guess I'll always be a 'Soldier of Fortune.'

Schöner kann man die Sehnsucht nach Heimat kaum verpacken.

Grüße

Paul

Perry

Beitragvon Perry » 12.12.2006, 23:13

Hallo Paul,
ich kenne die beiden als Mitglieder von Deep Purple, da haben sie glaube ich auch diesen Song aufgenommen.
Weckt starke Erinnerungen an rockige Zeiten in mir.
LG
Manfred


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