Betrachtung

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
moshe.c

Beitragvon moshe.c » 17.10.2006, 20:04

Betrachtung

Das Mißverstehen
eines Babys
ist faulere Wurzel
als sein Schreien
in ihm.


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Aus der Reihe: WEGE DES LEBENS

ecrivain

Beitragvon ecrivain » 30.11.2006, 09:32

Hallo Moshe.c,
unmenschlich fand ich nur die kompromisslose Verurteilung, die in deinem Gedicht anklingt. Die faule Wurzel behagt mir nicht, weil in dieser Formulierung das Verdikt steht: Faule Wurzeln muss man ausreißen.
Aber "unmenschliche Missverständnisse" sind nicht faule, ausreißbare Wurzeln, sondern ein Dilemma. Das Dilemma ist erkenntnistheoretisch. Wer kann von sich behaupten, in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Mitmenschen schauen zu können? Die wahre Ursache des Geschreis eines Babys erkannt zu haben? Da ist doch jeder auf Mutmaßungen angewiesen, die Genervten, die groben Klötze, aber auch die Einfühlsamen, Phantasiebegabten!
Du schreibst selbst:
Aber wer mit Babys zu tun hatte, wird ggf. auch feststellen, daß dies nicht ausreicht. daß da mehr ist, was verstanden werden will, aber auch nicht verstanden werden kann.

Eben. Die gute Absicht, zu verstehen, führt auch nicht viel weiter. Dieses Dilemma gilt es, finde ich, auszuhalten. Es ist ein Zugeständnis an die begrenzte menschliche Erkenntnisfähigkeit.
Was nutzt es zu beklagen, man sei als Baby früher nicht verstanden worden? Wurden denn die Eltern verstanden, als sie noch klein waren? Ich meine nicht grobe Vernachlässigung, sondern die gutwillige Zuwendung von Durchschnittsmenschen wie du und ich.
Der Verlust des Zustands des Nicht-Atmenmüssens: Dein Gedicht macht nicht klar, dass dieser pränatale Zustand gemeint ist. Erst deine Erläuterungen weiter oben deuten darauf hin. Aber auch, wenn das Gedicht in diesem Punkt klarer wäre: Ich könnte auf diesen Verlustvorwurf nur mit einem achselzuckenden "C`est-ca!" antworten. Ins Leben geworfen zu werden, bedeutet immer auch Verluste und Entbehrungen aushalten lernen. Niemand kommt da drum herum. Es zu beklagen, halte ich für müßig, denn an wessen Adresse wäre die Klage zu richten? An niemandes Adresse, oder?

Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag und etwas mehr Nachgiebigkeit gegenüber der menschlichen Natur
wünscht dir
ecrivain

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 01.12.2006, 23:34

ecrevian

Mein Beitrag heißt 'Betrachtung' und nicht 'kompromisslose Verurteilung'

Du liebst Kurzgedichte, ja?
Warum suchst du dir ausgerechnet dieses Unbehagen?

Wenn du mit Hospitalismus in deinen ersten Monaten gesegnet gewesen wärest, dann einen zwanzig-jährigen Leidensweg hinter dir hättest, zum Beispiel wegen nicht funktionierender Lunge oder Haut möglicherweise, und das 'Fachpersonal' dir den Stempel 'Nicht Heilbar' zur Kenntnis geben würde, wenn du also dann dich nach einem Steinmetz umschauen würdest, der dir das dicke Ding auf deine Grube schlägt, damit eine Wiederauferstehung bestimmt nicht möglich ist, und du dich fragst, ob die Pistole, der Strick oder Gift der bessere Weg ist, und dann deinen Kommentar lesen würdest, der dir die Lieder von 'Was für eine schöne Welt' und ''So ist das Leben' erzählt, möchte ich dich selbst mit dieser Haltung nochmal sehen, hören und lesen. Dann wäre nähmlich ein Wunder geschehen.

Es wäre ein wirkliches Wunder, denn dann wäre Ignoranz, sich selbst und anderen gegenüber, der Hit, und Achselzucken würde alles lösen.

Aus persönlichen und beruflichen Gründen gefällt mir dein Beitrag nicht, und an der Sache geht er einfach vorbei.

moshe.c

ecrivain

Beitragvon ecrivain » 02.12.2006, 19:01

Hallo Moshe.c,

du reagierst, als hätte ich dich persönlich angegriffen. Das wollte ich keineswegs. Und ich sehe auch nicht, wo ich es getan haben könnte. Kritik blieb bei mir stets auf der inhaltlichen Ebene.
Du breitest in einem langen, lamentierenden Satz einen (echten? fiktiven? deinen eigenen?) tragischen Lebensweg aus, von dem kein Leser wissen oder nur ahnen kann, dass er in dem sehr kurzen Gedicht "Betrachtung" mitgemeint sein soll. Wenn Leser all die o.g. Details vom Hospitalismus über ignorantes Fachpersonal etc. respektvoll zur Kenntnis nehmen sollen, dann sollte deine Betrachtung auch explizit davon reden! Stattdessen ist sie so allgemein gehalten, dass man als Interpret vor allem ins Spekuliern gerät. Z.B. über "faule Wurzel" o.Ä.

Vielleicht fühlst du dich ein klein wenig weniger angegriffen, wenn du einsähest, dass dein Gedicht immerhin zum Verweilen animiert. Man (ich) liest nicht einfach drüber hinweg, sondern versucht sich - trotz aller Mängel - in Interpretation. Es ist schäbig dann lesen zu bekommen, die Interpretation gefalle dir "aus persönlichen und beruflichen Gründen" nicht. KLar, ich und andere können das Interpretieren und Irren auch bleiben lassen, Moshe! Aber dann wirst du sauer sein, deine Gedichte ohne jedes Feed back ins Forum gestellt zu haben.
Darf bei dir Interpretation keine Kritik implizieren? Ich hoffe nicht, sonst liegst du bald mit fast allen Leuten hier quer. Und glaube mir, ich mit meinen kleinen Schreibversuchen hier stecke auch eine Menge Kritik ein. Würd´s mir nicht helfen, wär´ ich nicht hier.

Beschwichtigende Grüße
von
ecrivain

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 02.12.2006, 20:12

Würdest du bitte auf den Text und auf Lyrik bezogen bleiben und alles Persönliche bitte mit mir per PN oder E-Mail abhandeln.

Danke

moshe.c

Klara
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Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 02.12.2006, 21:57

Hallo,

ich glaube, es liegt am Wort "Wurzel" und an dem unglücklichen Genitiv, dass der Satz nicht funktioniert.

Weder das Schreien noch das Missverstehen ist mit den Assoziationen zu "Wurzel" oder faul" sinnvoll auf den Punkt gebracht - erst recht nicht in die Richtung, die moshe c. später angedeutet hat.

Offenbar geht es um unheilvolle Fehldiagnosen mit schlimmer Langzeitwirkung. Warum dann so kryptisch? Soll jemand (mit)denken/fühlen - oder sich im Labyrinth des Rätselmachers verirren? Worum geht's? Ums Baby oder ums Spielen mit dem Unverständnis und - neuen Missverständnissen?

Ich verstehe die Wurzel nicht. Soll das auf die Lunge weisen, die kranke? Deren Leid so einfach zu lindern wäre, würde verstanden?

Babys haben keine Wörter-Sprache, spüren Schmerz (vermutlich) überall. Hier nicht genau hinzuschauen, ist tatsächlich schlimm. Aber warum Wurzel??

Ich verstehe den Satz - jetzt mal ganz unpoetisch und überdeutlich - so:

Ein Baby nicht zu verstehen, kann schlimmere Folgen für das Baby haben als die Ursache seines Schreiens.

Vielleicht wären auch alle Probleme aus dem Weg geräumt, wenn statt des Titels "Betrachtung" der Titel "Fehldiagnose" stünde?

LG
K

Peter

Beitragvon Peter » 03.12.2006, 13:29

Hallo Klara,

ich denke auch, dass ein sinnvoller Punkt in "Betrachtung" fehlt. Lesend sehe ich mich verloren in ein Zeigen, ich weiß nicht wer auf wen oder was zeigt. Dadurch bleibt die Aussage an sich leer. Die grammatikalischen Fälle treten hier in eine solche Konkurrenz, dass man verwirrt nicht weiß, wer hier das sagen hat.

Trotzdem, ich habe "Betrachtung" schön des Öfteren gelesen. Irgendetwas lässt mich nicht los. Dieses Etwas hat mit dem Wort "Wurzel" zu tun. Vielleicht weil es "gleichklingend" oder im Gleichklang steht mit dem Wort "Baby" - Plötzlich wird hier ein so großer Kontrast aufgeworfen: Die faule Wurzel in einem Baby - das ist das Schreien... Und das Schreien steht für mich als: Der Anfang, der (verheerende) des Sich-Bewusstwerdens, des Bewusstseins.

Das scheint mir die eigentliche Aussage von "Betrachtung". Und diesen Schrei sehe ich fortgesetzt im Missverstehen, das für mich von außen her an das Baby reicht. Dort ist der Schrei (der Unterschied, das Bewusstsein) fauler, gewesener.... Es ist das Übel, das nicht mehr schreit (und doch schreit), dessen Schrei stumm ist und den der Missverstehende für sein Verstehen hält.

All das, denke ich, ist so schwierig, dass man kaum darüber sprechen kann. Wenn dieser Gedanke aber besteht, wäre es sehr schade, ihn nur auf ein Wort wie "Fehldiagnose" zurück zu führen oder ihn überhaupt in "Biographisches" einzubinden, weil sein Anspruch ein höherer ist.

Liebe Grüße,
Peter

Klara
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Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 03.12.2006, 21:54

Hallo,

Peter, du schreibst:
All das, denke ich, ist so schwierig, dass man kaum darüber sprechen kann. Wenn dieser Gedanke aber besteht, wäre es sehr schade, ihn nur auf ein Wort wie "Fehldiagnose" zurück zu führen oder ihn überhaupt in "Biographisches" einzubinden, weil sein Anspruch ein höherer ist.


Ich meinte mit "Fehldiagnose" nichts Biografisches (wie kommst du überhaupt darauf??), sondern etwas, dass alle fehldiagnostizierten Babys beträfe - in der Allgemeinheit, die der obige Satz behauptet.

Auch bin ich skeptisch, dass "all das" "so schwierig" sein kann, "dass man kaum darüber sprechen kann", wenn man demonstrativ gerade dies tun will: darüber sprechen. Und auch noch in allgemein gehaltener - und eben nicht biografischer - Behauptung! Da sollte man sich schon fragen lassen müssen, worin die Aussage besteht, ob sie grammatisch, semantisch und literarisch konsistent ist.

Wer weinen will, kann getröstet werden.
Wer schreibt, der schreibt - unter Anderem übers Weinen.
Aber maßgeblich ist der Text.
Und der steht da oben.

LG
K
PS Ich habe nichts generell gegen "Wurzel", ich habe etwas gegen unnötiges Nicht-Verstehen. Oder sollte gar das Missverständnis gewollt sein, als späte Rache an allen Unbeteiligten?

Orit

Beitragvon Orit » 03.12.2006, 23:01

Warum trifft eigentlich das Gedicht auf so viel Nicht-Verstehen?

Das Schreien eines Babys wird als Übel betrachtet, als lästig, nervig usw.. Die Ursache/die Wurzel in ihm gesehen ... habt Nachsicht mit der menschlichen Natur ...
Aber das wirkliche Übel liegt in der Ursache/in der Wurzel, daß ein Baby mißverstanden wird. Und die Steigerung dessen( was Meiner Meinung nach Moshe aussagen will): Dem Baby wird etwas angelastet, zugeschoben, was aber in der Eigenverantwortung der Eltern liegt. Und später kommt keiner auf die Idee, warum jemand chronisch unter diesem und jenem leidet ... Wenn dann aber jemand sagt: "Schaut, hier liegt die Ursache, im Mißverstehen bereits im Babyalter" Dann wäre eigentlich die naheliegende Reaktion zu fragen: "Ja, wie verstehe ich ein/mein Baby richtig?" Aber statt dessen Ablehung !!!
Wer herausgefunden hat, was das Mißverstehen seiner eigenen Eltern in einem selbst angerichtet hat, wird die Worte "faule Wurzel" nicht übertrieben finden

;-) Orit.

Klara
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Beitragvon Klara » 03.12.2006, 23:09

Naja, Orit, wenn du es in so klaren Worten erklärst, ist alles klar. (ich meine mich zu erinnern, dass ich auch so verstanden hatte, aber erst nachdem moshe sein bitteres Beispiel brachte).

Du fragst (sinngemäß): Warum versteht keiner?

Ich frage: Warum Verstehen behindern/erschweren? Da kommt jemand mit der Moralkeule, und jeder duckt sich weg und hat immer noch nichts begriffen.

Im Übrigen glaube ich nicht, dass man wirklcih und endgültig herausfinden kann, was das Missverstehen der eigenen Eltern "angerichtet" hat, ob es überhaupt ein solches war. Es ist üblich, alles zu psychologisieren, aber da mangelt es doch jedem (zum Glück?) bei sich selbst (und wahrscheinlch auch bei anderen) an Objektivität, wenn wir ehrlich sind, um sich selbst als Gegenstand analytisch zu erfassen.
lg
k

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 04.12.2006, 00:31

Aber das wirkliche Übel liegt in der Ursache/in der Wurzel, daß ein Baby mißverstanden wird.


Ich glaube, Missverstehen ist hier das falsche Wort, weil es immerhin ein Verstehenwollen impliziert. Meine frühere Nachbarin hat ihr erstes Baby stundenlang im Garten unter einem Baum abgestellt brüllen lassen, weil sie jede "Verwöhnung" ablehnte. Das ist die eine Seite des Problems; die andere habe ich immer wieder erlebt und erzählt bekommen: dass die Eltern alles tun und alles versuchen, hinter die Ursache des Schreiens zu kommen, und schließlich total entnervt und erschöpft von einer "Schreistunde" sprechen, die etwa der Joggingrunde eines Erwachsenen entspricht, der sich abreagieren will. Missstände beim Namen nennen ist eine Sache - eine andere ist es, Unmögliches von Leuten zu verlangen, die am Ende ihrer Kräfte sind.

Damit will ich keineswegs etwas dagegen sagen, in Form dieses Gedichts den Finger auf eine wunde Stelle zu legen; mir gefällt nur das Wort "Missverstehen" nicht. Dieses Missverstehen ist oft unverschuldet und entspringt nicht aus Gleichgültigkeit.

lG Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)


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