Verlust und Behalt

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Cara

Beitragvon Cara » 25.10.2006, 21:36

Verlust und Behalt
gehen Hand in Hand
und schauen
in den gierigen Rachen
der Unersättlichkeit

Phantasien
bleiben
anonym

(c) Cara

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.10.2006, 22:57

Hallo Cara,

ein tiefsinniges Gedicht, das gefällt mir gut!
Das Wort "Behalt" passt m.E. nicht, wirkt konstruiert. Warum schreibst du nicht einfach "Besitz"?
Und statt "anonym" wäre vielleicht etwas in Richtung "geheim" oder "verborgen" besser, mal so als Anregung.
Saludos
Gabriella

Gast

Beitragvon Gast » 26.10.2006, 01:19

Liebe Cara,

zunächst dachte ich, ja, sehr wahr... aber ich muss doch nachfragen:
Wieso schaut Verlust in den Rachen der Unersättlichkeit?
Wenn ich richtig interpretiere, dann heißt das:
Gleichstellung von Verlust und Behalt(en)?

Dass Verlierer in den Rachen der Unersättlichkeit schauen und letztlich hineinfallen, ja, das finde ich schlüssig, dass sie Opfer derjenigen werden, die Behalten.
Aber du schreibst "Verlust" und nicht Verlierer.
Es ist das Behalten, das "Nicht verlieren" das unersättlich macht...
Insofern muss ich erst einmal andere Kommentare oder Erläuterungen deinerseits abwarten, wie du das meinst..

Was haben anonyme Phantasien hiermit zu tun?
Gibt es ein dazwischen oder darüber hinaus über Verlust und Gewinn/Besitz/Behalt in die Phantasie, den anonymen Fluchtweg...den weg in die Anonymität?

Geht es letztlich doch um die Verlierer unserer Gesellschaft, die in der Anonymität verschwinden... unter den Brücken, in den U-Bahnstationen...

Also meine Phantasie ist nicht anonym und deshalb hoffe ich sehr, liebe Cara, dass ich mich deiner Intention, zumindest annähern konnte.

Nächtliche Grüße
Gerda

Cara

Beitragvon Cara » 26.10.2006, 08:49

Hallo Magic und Gerda,

ihr habt da Recht.....ich merke, dass das kleine Gedicht, obwohl ich länger darüber nachgedacht hatte, etwas hinkt und dass der Nachsatz nicht hundertprozentig dazupasst.

Ich habe noch einmal gewerkelt.
Die jetzige Fassung würde zwar bildlogischer sein, könnte allerdings dann etwas zu banal daherkommen:



Verlust und Gewinn
gehen Hand in Hand
und schauen
in den gierigen Rachen
der Unersättlichkeit

Steter Kampf
um den
Besitz

Was meint ihr?

LG
Cara

Mucki
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Beitragvon Mucki » 26.10.2006, 11:40

Hallo Cara,

durch die neue Fassung hat m.E. dein Text an Tiefgründigkeit und logischerweise an Interpretationsspielraum verloren, weil es jetzt zu offensichtlich ist. Gerade das

Phantasien
bleiben
anonym (wobei ich ja dafür plädierte, für "anonym" ein anderes Wort zu wählen)

habe ich in der Richtung gedeutet, wie du es jetzt ganz klar schreibst, nur noch überzogener, nämlich, die Gier, dass die Gier in Wirklichkeit in der Phantasie steckt, aber verborgen wird.

Du hast jetzt Behalt durch Gewinn ersetzt. Behalt (oder Besitz) ist nicht dasselbe wie Gewinn, also haben deine Zeilen jetzt eine andere Wirkung.

Mir gefiel die erste Fassung besser (aber, wie gesagt, mit meinen Einwänden), da man sich als Leser dies alles, was du jetzt schwarz auf weiß schreibst, selbst erlesen konnte und einen somit mehr beschäftigt hat, auch nachdenklich gemacht hat.
Saludos
Gabriella

Gast

Beitragvon Gast » 26.10.2006, 14:05

Liebe Cara,

jetzt hat dein Text eine andere Wendung, und lenkt die Gedanken der Lesenden sofort in Richtung Gewinnmaximierung koste es was es wolle...
Gut, ich gehe davon aus, das dies deine Intention ist.
Vielleicht ein vorschlag um das substantiv auf "keit" weg zu bekommen.

verlust und gewinn
gehen hand in hand
auf dem rand
des unersättlichen
schlunds

(Schlund finde ich passender als Rachen, und auf dem Rand gehen besser als schauen, weil vorher von Gehen die Rede ist )


Jetz wird es schwer für mich, da ich in diesen Vers anderes intendiert hatte, als du in Version II
darlegst.
Ich glaubte etwas davon zu spüren, dass deine Intention eine sei, die auf Kreativität anspielt oder auch - s. o. - aber man könnt auch noch vermuten, dass zum Überleben eben jene Phantasie vonnöten ist... um sich eben zwischen den Verlierern und Gewinnern ein Überleben zu sichern..
Diese Gedankengänge scheiden für mich nun aus durch
Steter Kampf um Besitz
Das sagt etwas völlig anderes als:
Phantasien bleiben anonym ,
nämlich, dass du tatsächlich keinen anderen, als den Weg des Verlusts oder Gewinns in deinem Text beschreiben willst.
Vielleicht kannst du zu den Gedanken, die ich mir um Anonymität und Phantasie gemacht habe, etwas aus deiner Sicht sagen.
Das wäre interessant und würde ein Mitdenken erleichtern.
Liebe Grüße
Gerda

Cara

Beitragvon Cara » 26.10.2006, 16:48

Hallo Magic und Gerda:

Man könnte hier fast sagen: Je kürzer das Gedicht, umso länger die Bearbeitung desselben, *s*.
Ich danke euch für eure Bemühungen um den Text.
Ich versuche, genauer zu erklären, was er für mich sagen soll:

Verlust, damit meine ich Nicht-Verlieren-Wollen, Angst, etwas zu verlieren bzw. die Erfahrung, etwas verloren zu haben (z.B. Hungerzeiten, Zeiten der Kriegsgefangenschaft usw.).
Mit Behalt soll das Behalten-Wollen, das den Besitz krampfhaft Festhalten ausgedrückt sein.
Beides macht unersättlich, unzufrieden, unfrei. Beides bindet Energien, nimmt einem die Lockerheit.

Phantasien dagegen sind frei, leicht, visionär, kreativ, ohne genaues Festgelegtsein.
Das Adjektiv „anonym“ ist nicht ganz korrekt, ich werde es einstweilen in „frei“ ändern....obwohl „frei“ nicht gerade ein überwältigend „lyrisches“ Wort ist und ich daher noch nach einem besseren suche.

Magic: ja, so sah ich das auch: die zweite Fassung klingt zu banal, zu selbstredend.
Das mit der Phantasie meinte ich allerdings anders als du es formulierst. Ich hatte mich wohl auch missverständlich ausgedrückt, sorry. Ich meinte nicht die „verborgene Gier in der Phantasie“, wie du es auffasst, sondern eben Phantasie als Gegengewicht zur Gier, welche durch das Haben-Wollen entsteht.
Den Ausdruck „Besitz“ im ersten Satz würde ich lieber nicht nehmen......“Behalt“ finde ich interessanter, wobei es das Wort im Duden – glaube ich – garnicht gibt. Aber das sollte unter „dichterische Freiheit“ fallen.

Gerda: Ich weißt schon, dass du die auf „ - keit“ endenden Substantive nicht so toll findest, *s*, aber mein ursprünglicher Ausdruck (gieriger Rachen der Unersättlichkeit) gefällt mir, ehrlich gesagt, besser, als dein Vorschlag (Rand des unersättlichen Schlunds). Auch möchte ich es bei „schauen in“ belassen, nicht „gehen auf“ sagen.
Was du dann zu meiner Intention schreibst, das kommt mir entgegen.
Eine neuere Version könnte also heißen:


Verlust und Behalt
schauen in den
gierigen Rachen
der Unersättlichkeit

Phantasien (Visionen)
lassen
frei



LG
Cara

Cornelia

Beitragvon Cornelia » 26.10.2006, 17:50

Hallo Cara,

mir persönlich gefällt die erste Version am Besten.
Ich habe "Verlust und Behalt" auf den Menschen und sein Bedürfnis nach ausreichend Zuwendung, im Sinne von "Loslassen und Festhalten" bezogen.
"Fantsien" wären dann die Lösungsmöglichkeit, sich selber genügend Beachtung zukommen zu lassen....

Cara

Beitragvon Cara » 27.10.2006, 16:14

Danke, Cornelia, für deine Antwort bzw.
das Beschreiben deiner Interpretation des Gedichtes.

Es ist ja immer wieder zu sehen, wie unterschiedlich Gedichte empfunden werden können und wie sehr man doch oft sich selber darin spiegelt. Das ist auch völlig in Ordnung so, meine ich.
Ein Gedicht kann ein Spiegel seiner selbst sein....sowohl beim Autor selber als auch beim Leser.
Das ist u.a. eine der Daseinsberechtigungen von Gedichten.

Ich hatte - wie oben beschrieben - nicht das Bedürfnis der Menschne nach Zuwendung gemeint, sondern die Tatsache, dass Verlieren und Behaltenwollen eben eine Unersättlichkeit / Gier hervorrufen können. Ich glaube, das weicht ein wenig von deinem Verständnis ab. Aber das ist ja o.k.
Das mit der Phantasie verstehe ich nur dann entsprechend auch minimal anders als du.

Ich weiß im Moment nicht ganz, wie ich das Gedicht letztendlich abrunden soll; einstweilen bleibt es nun mal so in den zwei verscheidenen Fassungen stehen und ruht sich aus, lächle.

Ich grüße dich
Cara

aram
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Beitragvon aram » 28.10.2006, 07:55

liebe cara,

diesem text kann ich eine menge abgewinnen.

das wort 'behalt' finde ich sehr gut gewählt; es sagt das wesentliche aus, ohne klischees und einseitige assoziationen zu bedienen.

"gierig" und "unersättlich" ist praktisch das gleiche, oder?
die dopplung ließe sich vielleicht noch auflösen, würde den text stärken. (vielleicht 'schlund' statt 'gierigem rachen'?)

"phantasien bleiben anonym" - ich finde die aussage klasse und sehr treffend - trotzdem habe ich den eindruck, als würden die worte noch nicht ganz dazu "passen" - als wäre ich ziemlich sicher was gemeint ist, aber es steht da gar nicht...

'anonym' steht für verborgen, theoretisch, kraftlos, unverbindlich - für all das einen begriff zu finden... 'anonym' lese ich als "ohne persönliche identifikation", das trifft es eigentlich sehr gut... vielleicht liegts an der wortkombination... "alternativen sind unverbindlich" oder " XY bleiben phantasie" oder "Z sind anonym" ... sollte mir was einfallen, melde ich mich noch mal
(- vielleicht ist es auch schon perfekt wie es da steht, und irritiert bloß!)

wie die zwei strophen zueinander stehen finde ich sehr gut. starker text.

liebe grüße,
aram


p.s. keine vorhergehenden kommentare gelesen
there is a crack in everything, that's how the light gets in
l. cohen

Last

Beitragvon Last » 28.10.2006, 11:38

Hallo Cara,

zuerst vorne weg: Ich mag beide Strophen :smile:
Die erste hat so etwas drolliges, Verlust und Behalt, vor dem Schlund der Unersättlichkeit (ja, mir wäre auch diese Bezeichnung genehmer). Hand in Hand, wie zwei Kinder, die staunend in eine Höhle schauen (die einerseits ihre Mutter ist, andererseits die Gefahr beherbergt sich dort zu verlieren). Eine tolle Bildebene hast du da mit einfachen Worten erschaffen, genau diese Art zu schreiben liebe ich :daumen:

Dann die zweite Strophe, die zwar assoziativ passend ist, vielleicht aber etwas apruppt kommt. In Träumen darf man sich in den Schlund wagen. Durch das Wort "anonym" bekommt das Gedicht dann seine erwachsene Note, das vernünftige Denken schimmert hindurch, genau wie das Bankwesen{?!}. Vielleicht wäre es hilfreich den Übergang zwischen den Strophen mittels einiger Bindewörter oder gar einer ganz kurzen neuen Strophe etwas gleitender zu gestalten :confused:

LG
Last

Cara

Beitragvon Cara » 28.10.2006, 12:52

Guten Morgen aram und last,

ich danke euch für eure positiven Rückmeldungen zu meinem Gedicht,
welches übrigens eines meiner eher intuitiv geschriebenen Texte ist. Ich habe daran nicht sonderlich viel herumkonstruiert, es ist eher so in mich hineingeschrieben worden (durch mich selber natürlich, *s* ).

Ihr merkt beide an, das ihr den Ausdruck „Schlund“ statt „Rachen“ bevorzugen würdet. Das hatte auch Gerda bereits gemeint. Ich selber aber finde, dass „Rachen“ durch seine Zweisilbigkeit und überhaupt von der Melodie her besser klingt. Ich mag „Schlund“ irgendwie nicht...warum? Schlund ist für mein Empfinden dunkler, tiefer, .....Rachen klingt für mich weiter, offener , gieriger. Gefällt mir hier einfach besser.

Die zweiter Strope „Phantasien bleiben anonym“ ist zu Anfang ja schon mehrfach diskutiert worden und ich hatte (s.o.) daran herumgefeilt. Wie so oft, kommt dann letztlich doch die ursprüngliche Version wieder zutage. Viele der bisherigen Kommentare sagen, dass sie diese erste Version bevorzugen. Ich selber denke, dieser Satz mit den Phantasien passt nicht genau zu der ersten Strophe....dann auch wieder doch. So hat ja auch aram es sehr gut erkannt : er ist vielleicht perfekt , irritiert bloß.

aram: Kann etwas Perfektes irritieren? Außer durch die Tatsache des Perfektseins selber?
Damit will ich jetzt nicht sagen, dass mein Satz „perfekt“ sei....keineswegs.
Er passt ja noch nicht mal genau.
Ich lasse das jetzt mal so stehen......weiß im Moment keine endgültige Lösung für den Satz. Er hatte sich mir beim Schreiben einfach geradezu aufgedrängt, ich wollte ihm klarmachen: Du passt nicht so ganz, aber er wollte bleiben......

last: Du schreibst, dass der Schlund die Mutter ist (als Assoziation) und dass das Wort „anonym“ die „erwachsene“ Komponente ins Spiel bringt. Beides finde ich erstaunliche Assoziationen, die ich, auch wenn sie nicht die meinen sind, gerne so stehen lasse. Wie ich schon bei Cornelia (s.o.) schrieb, scheint das Gedicht eine Plattform für verschiedene Interpretationen abzugeben. Das ist o.k. so.
Zu deinem Vorschlag mit den Bindewörtern zwischen den beiden Strophen: Eigentlich sollen die beiden Strophen eine Trennung darstellen zwischen dem gierigen Behaltenwollen und den freien Phantasien (Vision, Inspiration, Kreativität). So meine Interpretation. Daher fände ich ein Bemühen um ein Bindewort garnicht so angesagt. Aber du siehst das anders und ich freue mich, dass du dich mit dem Text aus deiner Perspektive heraus auseinandergesetzt hast.

Ich sende euch beiden liebe Grüße
Cara

aram
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Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 28.10.2006, 15:49

liebe Cara!

aram hat geschrieben:vielleicht 'schlund' statt 'gierigem rachen'?
Cara hat geschrieben:Ihr merkt beide an, das ihr den Ausdruck „Schlund“ statt „Rachen“ bevorzugen würdet.

- mein vorschlag war nicht schlund versus rachen, sondern ich suchte ersatz für "gierig" - da anschließend "unersättlichkeit" steht. "schlund" impliziert das für mich eher - ich dachte, das macht es leichter, auf das adjektiv zu verzichten - für dich ist es umgekehrt.
ich habe jedenfalls nichts gegen "rachen" einzuwenden.

aram: Kann etwas Perfektes irritieren? Außer durch die Tatsache des Perfektseins selber?

...die irritation kann perfekt sein.

(irritiert perfekte irritation durch die tatsache ihres perfektseins oder durch die tatsache ihres irrititation-seins? - oder irritiert vielleicht die vorgebliche 'tatsache' am perfekt sein wie an der irritation, oder...na du weißt schon! .-)

liebe grüße, aram
there is a crack in everything, that's how the light gets in

l. cohen

Cara

Beitragvon Cara » 28.10.2006, 17:42

"(irritiert perfekte irritation durch die tatsache ihres perfektseins oder durch die tatsache ihres irrititation-seins? - oder irritiert vielleicht die vorgebliche 'tatsache' am perfekt sein wie an der irritation, oder...na du weißt schon! .-)"

Hei aram,

lach....na, ob ich "schon weiß", das weiß ich nicht. Sicher bin ich mir da nicht....aber ein entferntes Begreifen halte ich für nicht ganz ausgeschlossen. Auf jeden Fall versichere ich dir:
Ich arbeite daran, lächel.

Einen schönen Abend dir

Cara


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