eines tages

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.10.2006, 15:23

Neue Fassung: 19.11.2006

eines tages

wage ich es
ja
eines tages

lüfte ich den schleier
undurchsichtiger fetzen
sieben schwarzer jahre

eines tages
stelle ich mich
dem verborgenen
lichte das dunkel
zerreiße den nebel
ertrage
das dahinter

doch
nicht heute
nein
heute nicht

eines tages
ja
erlange ich gewissheit
auch
wenn sie mich umbringt
vielleicht




1. Fassung
eines tages

werde ich es wagen
ja
eines tages

vergraben
in undurchsichtigen fetzen
sieben jahre schwarz

eines tages
stelle ich mich
dem verborgenen

eines tages
ertrage ich
das dahinter

doch
nicht heute
nein

bis dann
krieche ich
blind

eines tages
ja
bringt es mich um
doch
ich sehe

© Gabriella Marten Cortes
20.10.2006
Zuletzt geändert von Mucki am 19.11.2006, 18:50, insgesamt 2-mal geändert.

Perry

Beitragvon Perry » 24.10.2006, 16:08

Hallo Gabrielle,
ich lese in deinen Zeilen verschiedene Arten, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Vom Wagen, Verdrängen über das Fürchten bis zur sehenden Annahme. Was mich neugierieg gemacht hat ist die Stelle
"vergraben
in undurchsichtigen fetzen
sieben jahre schwarz",
denn sie scheint mir der Gedankenschlüssel zu sein, den ich aber leider nicht drehen kann.
LG
Manfred

Mucki
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Beitragvon Mucki » 24.10.2006, 16:27

Hallo Manfred,

büdde nicht Gabrielle, sondern Gabriella ;-)

Ja, um "die sieben Jahre schwarz" geht es. Es handelt sich hier nicht um den Tod, sondern um ein dunkles Geheimnis, welches sich hinter "sieben schwarzen Jahren" (Jahre des Blackouts, keine Erinnerungen, nur winzige Fetzen) verbirgt. Und wenn "Ich" sich traut, den Schleier zu lüften, der Wahrheit stellt, bzw. sie erfährt, wird es das Ich "umbringen", weil "Ich" es vermutlich nicht verkraften wird, aber "Ich" wird "sehen", sprich, endlich wissen, was da wirklich geschah, ob die Fetzen (die dem "Ich" große Angst bereiten, deshalb lieber blind bleibt "heute") zutreffen. Doch das Ich ist zwiespältig, glaubt zuerst, dass es die Wahrheit "eines Tages ertragen kann", dann aber am Schluss eben doch nicht, sondern, dass es das Ich "umbringen" wird.

Ich hoffe, dass das jetzt nicht zu verwirrend rüberkommt.
Saludos
Gabriella

Niko

Beitragvon Niko » 24.10.2006, 16:40

gut, perry, dass du das mal in angriff genommen hast mit diesem text. ich schleiche auch schon ein paar lesungen lang um diesen text und irgendwie war´s mir schwer, mich zu äußern.

dein text, gabriella, ist ein wenig wie ein dickicht. ich bleibe an formulierungen hängen, die immer wieder über bord werfen, was ich mir gerade zurechtgefühlt hab. irgendwie lese ich solche texte gern, weil ich verstehen will, weil sich der text ein wenig sperrt, mir sozusagen authistisch (nicht bös gemeint) über den weg läuft, mich aussperrt aus seiner wortwelt. bis es irgendwann "knack" macht. und ich etwas gefunden habe, was mir als plausibler inhalt erscheint.

hier wittere ich ein bewältigen eines schicksalschlages, etwas, was das lyrich kaum verarbeiten kann, verarbeiten will.
eines tages

werde ich ihn wagen
ja
eines tages


"ihn" verwirrt mich. immer noch. wo ich dann denke, ob es vielleicht doch umeinen liebhaber geht, den man sich verbietet, weil lyrich noch den tod (des mannes?) betrauert? (7 jahre schwarz: früher war es gang und gäbe, nach dem tod des geliebten mannes ein jahr lang nur schwarz zu tragen. bedeutet die zahl hier 7 mal mehr an liebe? die unsterbliche liebe?) und schon bin ich in die irre geführt, was mir felsenfest wie der beschreibung eines umgangs mit einer unverarbeiteten katastrophe vorkam, wankt wieder. oder ist es gar eine verbindung beider dinge?

vergraben
in undurchsichtigen fetzen
sieben jahre schwarz


vor allem der erste absatz und diese zeilen deines gedichts sind es, die für verwirrung sorgen. und das ganze "undurchsichtig" werden lassen.

eines tages
stelle ich mich
dem verborgenen

eines tages
ertrage ich
das dahinter


auch dies ist mir ein deutlicher hinweis, dass das lyrich sich auseinandersetzen will, es aber im moment nicht kann



eines tages
ja
bringt es mich um
doch
ich sehe


besonders diese stelle weist mich darauf hin, dass es doch um bewältigung geht. diese tragödie ist so grauenvoll, dass es lyrich töten wird (innerlich) aber "sehend". dh: bewusstmachung und sicher(er) durchs leben gehen.


unter dem alpekt "verarbeitung" finde ich das gedicht bis auf die zwei verwirrenden stellen sehr gut.

lieben gruß: Niko, der es schade findet, dass mich ein zwei stellen immer wieder verwirren...

Niko

Beitragvon Niko » 24.10.2006, 16:44

nu hat´s sich überschnitten, gabriella!...........

Perry

Beitragvon Perry » 24.10.2006, 16:51

Hallo Gabriella,
mit deinem Komm schlüsselt es sich für mich besser auf und ich kann mich mehr hineindenken.
Vielleicht kannst du etwas von der Erläuterung noch in das Gedicht einfließen lassen.
LG
Manfred

Mucki
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Beitragvon Mucki » 24.10.2006, 16:55

Hallo Niko,

das "ihn" im ersten Vers meint "den Blick" (also den Blick hinter der Schleier wagen).

Mit dem


eines Tages werde
ich ihn wagen
ja
eines tages


will sich das Ich selbst Mut machen.


Ja, es geht um etwas Dramatisches, um ein Trauma, um die Verarbeitung, das hast du genau richtig gelesen. Und schwarz steht für das "dunkle, verborgene Geheimnis", das Nicht-Wissen, die, aufgrund des Traumas, ausgelöschten Erinnerungen.
Saludos
Gabriella

Mucki
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Beitragvon Mucki » 24.10.2006, 17:07

Hallo Manfred, hallo Niko,

ich kann nicht mehr da reinfließen lassen, Manfred. Es ist mir gerade wichtig, dieses "authistische" Element, wie Niko es genau richtig beschreibt, denn dieses Wort trifft es sehr gut, drin zu lassen.

Dass es sich um etwas Schlimmes, Verborgenes handelt, geht imho ja aus den Zeilen hervor, ebenso, dass LI mit sich kämpft, ob LI sich wagen soll, den Schleier um dieses dunkle Geheimnis zu lüften oder nicht, weil LI weiß, dass es Horror pur sein wird, wenn es die Wahrheit erfährt und deshalb den "Blick" hinter den Schleier immer weiter wegschiebt ("nicht heute, nein, aber "eines tages...)
Saludos
Gabriella

Niko

Beitragvon Niko » 24.10.2006, 17:14

nochmal ich, gabriella...

man kann ein gedicht ja nur beim wort nehmen. und wenn da "eines tages werde ich ihn wagen" ohne nähere erläuterung steht, kann dies mitunter sehr verwirren. warum machst du aus "ihn" nicht einfach ein "es"? das würde mehr klarheit bringen für die leserschaft.

erinnerungen, die ausgelöscht erscheinen, sind allenfalls gut verdrängt. es braucht alles eine zeit. manchmal kann man nur aushalten, wenn man nicht weiß. und irgendwann ist man an einem punkt, wo man wissen muss. weil dieses nicht-wissen zu sehr blockiert in der eigenen entfaltung. wissen zu wollen ist immer mutig. hier besonders.

lieben gruß: Niko

Mucki
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Beitragvon Mucki » 24.10.2006, 17:32

Hallo Niko,

Mit dem Ersetzen des "ihn" durch "es" hast du mich überzeugt. Habe es geändert.

Übrigens, du schriebst, es liest sich wie ein Dickicht. Damit triffst du es genau! Denn es ist ein Dickicht, indem sich das LI befindet.

Ja, die Verdrängung, das Ausblenden sehr schlimmer Erlebnisse, ist ein Überlebens-Schutzmechanismus des Unterbewusstseins.

Danke dir für die gute Anregung! ;-)
Saludos
Gabriella

Iris

Beitragvon Iris » 25.10.2006, 14:10

Hallo Gabriella,

das Gedicht spricht mich an, wird eines Tages wirklich sein?
Ein Vorhaben, welches Kraft braucht, hinter dem schon ein fester Entschluß steht und es könnte sein, daß er in die Wirklichkeit umgesetzt wird, wenn man die Arbeit schafft, die das kostet. E s könnte auch sein, daß es nicht schaffbar ist genau dann, wenn man es immer wieder aufschiebt und nicht jetzt mal endlich anfängt, sich der Arbeit zu stellen!

Liebe Grüße Iris

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.10.2006, 14:31

Hallo Iris,

ja, das ist die Frage, wird es eines Tages so sein?
Ich glaube mal, dass das Unterbewusstsein die Frage beantworten wird, indem es quasi den "Zugang" öffnet. Eine Frage des Willens selbst ist es m.E. nicht, da sich vom Willen allein all das Verdrängte nicht offenbaren wird.
Saludos
Gabriella

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 25.10.2006, 16:27

Liebe magic,

ich mag an diesem Text, dass er mir viel dichter dran (an allem) erscheint als andere von dir...man spürt den Kampf und die Wiederholung...ich glaube auch das Autosuggestionen zusammen mit Wiederholungen eine starke Wirkung haben, ohne das große metaphern beschwört werden müssen. Hier dick aufzutragen wäre weniger und nicht mehr...ich find die "authistischen" Züge, wie Niko sagte, daher auch sehr gut! (die Änderung des es aber auch genau richtig)

..was ich finde ist, dass die Schmerzstelle des Textes noch stärker offen gelegt werden könnte...für mich ist sie nämlich ganz versteckt und zwar liegt sie im:
doch
nicht heute
nein


Das sind im Grunde, die Worte, der Ort, wo alles statt findet...dort wird das eines tages gewünscht...dort wird es verworfen...dort wird wiederholt...dort scheitert man...dort stirbt man seine kleinen Tode, die sich eines tages zu einer magischen summe zusammen addieren, die ausgezählt ist....und dann "paff" wird wahrschenlich - und das ist der schlimmste fall - nichts passieren.

ich bin aber für keine Ausarbeitung der Schmerzstelle, so schlicht und einfach wie sie jetzt da steht finde ich sie gelungen!

Ich wäre eher dafür zu überlegen, ob das, was danach folgt mit dem blind Kriechen (das Kriechen ist mir zudem zu gängig als Bild und dann auch noch mit einem Schleier und dann auch noch blind...das Bild wird dadurch "zuviel" ,wenn man es sich vorstellt, stell es dir mal vor..eine kriechende Frau mit schwarzem Schleier...) nicht eigentlich etwas ist, was im Teil vorher schon erzählt wird und zwar dichter dran....der zweite Teil ist keine Wendung...(wenn ich das alles falsch sehe, vergiss meine Anmerkungen :-) ), es ist eine variation des Themas und des Bildes, die aber schwächer ist als der erste teil, finde ich...

dieses "eines Tages" ist für mich so stark, dass für mich darin mehr schwingt als im ganzen zweiten Teil, bei dem ich daher für eine weitere Reduzierung wäre....der anhängende Versuch bitte mit 5 ~~~~~...nur eine Idee...

eines tages

werde ich es wagen
ja
eines tages

vergraben
in undurchsichtigen fetzen
sieben jahre schwarz

eines tages
stelle ich mich
dem verborgenen

eines tages
ertrage ich
das dahinter

doch
nicht heute
nein

heute
nicht

Vielleicht
bringt es mich
bis dahin um

doch
ich sehe



Ich finde es wirkt so als hättest du mit diesem Text sehr gekämpft. Und das merkt man ihm an, ich mag ihn dafür...

PS: Zu deiner Cafefrage: Ich kenn den Autor nur vom Namen :icon_redface2:
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.10.2006, 17:06

Liebe Lisa,

ja, dieser Text ist wirklich sehr nah an mir, das stimmt. Ein einziger Kampf.

ich bin aber für keine Ausarbeitung der Schmerzstelle, so schlicht und einfach wie sie jetzt da steht finde ich sie gelungen!


Ich kann sie auch gar nicht ausarbeiten, geht nicht.

Mit dem blind kriechen, hm, ich möchte halt den jetzigen Zustand des LI darstellen. Wenn man es rauslässt, fehlt dann nicht etwas? Vielleicht: bis dann irre ich (obwohl, ist das gleiche in Grün, nicht?)

Deine Idee finde ich eigentlich nicht schlecht, nur

vielleicht
bringt es mich
bis dahin um


das trifft es nicht genau, denn, es ist nicht der Weg bis zur Erkenntnis, der das LI vielleicht umbringt, sondern die Erkenntnis selbst! Deshalb muss vorher sozusagen der Status Quo aufgezeigt werden, also das Blinde, das Irren oder wie auch immer und dann dieses "eines tages" bringt es mich um, ich könnte schreiben:

bis dann
irre ich
blind (oder ohne "blind", also nur bis dann irre ich, aber das "irre" könnte man auch missverstehen, oder?)

eines tages
ja
bringt es mich
vieleicht um
doch
ich sehe


also hier im Schluss das "vielleicht" reinbringen. Das "vielleicht" ist gut als Wort, weil LI ja nicht weiß, wie du oben ja auch richtig schreibst, ob die Erkenntnis es umbringt, sondern vielleicht ja sogar große Befreiung sein könnte.

Was meinst du?
Saludos
Gabriella


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