Berlin III (Abschied)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 03.09.2006, 14:44

Oder wenn wir im
Ostbahnhof standen,
sonntags siebzehn Uhr,
der Bahnsteig voll
mit Kindersoldaten,
alten Tanten und
Studenten.

Blechern die Stimme
aus dem Lautsprecher:
"Meine Damen und Herren,
in wenigen Minuten
fährt ein auf Gleis
sechzehn, der Interregio
von Stralsund nach
Frankfurt am Main,
über Halle (Saale), Naumburg,
Weimar, Erfurt und Fulda.
Bitte Vorsicht
bei der Einfahrt."

Du rücktest Dir Deinen
Hut zurecht und
schautest mich an,
so von unten her,
als gäbe es da etwas,
das wir beide
noch nicht wissen.

"Wenn wir einmal Geld haben",
sagte ich, "nächstes Jahr
vielleicht,
dann fahren wir zusammen
in die andere Richtung, okay?"

Komisch.
Ich weiß gar nicht mehr,
was Du geantwortet hast.
Aber die Sorge
fühle ich immer noch:
Du in diesem Zug,
mit all den kleinen
Soldaten.
Zuletzt geändert von Paul Ost am 15.09.2006, 13:53, insgesamt 2-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 14.09.2006, 16:06

Lieber Paul,
was mir an diesem Gedicht besonders gefällt (deine "Stadtgedichte" haben es definitiv in sich, ich bin jedes mal begeistert) ist ein ähnliches Kleid wie: Trotzem - Weimar III. Auch wenn ich durch deine Rückmeldung zu meiner Sprechversion erfahren habe, dass ich das wohl recht eigenwillig tue, aber: Auch hier shcafft du wieder eine Umwelt, in dem die Liebe geschieht, die es schafft, das schmerzvolle auszudrücken. Die Ebene mit den kleinen Soldaten, die im Zug mitfahren und ja eigentlich erst mal gar nichts mit der Beziehung der beiden zu tun haben, schafft es viel stärker mich anzurühren (kann man das ohne Anführungsstriche sagen?)als irgednein Zusatz direkt im Gespräch wie zum Beipsiel emotionale adjektive. Das ist für mich ein Umgang mit Sprache, der poetisch ist.

das die Thematik mich anspricht ist ja eh schon ausgemachte Sache.

Das der text mit oder anfängt finde ich dabei serhr sehr gut - es zieht das vielmehr in den text und der Leser weiß gleich um die vielen anderen Punkte, die sich das lyr. ich vor Augen führt...

Bei dem Halle frage ich mich, da der Text ja wörtliche rede wiedergibt, ob es nicht besser wäre zu sagen: Halle an der Saale anstatt die (durchaus richtige) Schriftversion. Zur gleichen Stelle: Sagen die am Bahnhof nicht immer was abstrsues: fährt ein AN oder IN gleid/bahnsteig soundso? das wäre vielleicht auch schön, das original einzubinden. da gibts ein richtiges Bahndeutsch :-)


Liebe grüße,
lisa (die das Gedicht wohl wieder nur auf ihre Art liest)d
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 14.09.2006, 20:41

Liebe Lisa,

schön, dass Du diesen Text entdeckt hast. Dadurch habe ich selber noch einmal einen Blick auf den Titel geworfen und erkannt, dass die Nummerierung nicht stimmt. Schließlich ist "Miriams Abschied" das Gedicht Berlin II. Also müsste dieses Komplementärgedicht Berlin III sein.

Mit dem Bahnhofsjargon hast Du völlig Recht. Um ihn zu treffen, habe ich das (Saale) in Klammern gestellt. Das sollte vom Schriftbild her an die Anzeigetafeln erinnern. Nun bin ich mir nicht sicher, ob das auch so rüberkommt.

Der Spruch kommt mir ansonsten sehr bahnhofstypisch vor. Natürlich könnten wir aram oder Louisa darum bitten, dass sie gegen ihre Internetsucht etwas unternehmen und bei einem kleinen Spaziergang an den Ostbahnhof auf die Lautsprecherdurchsage achten...

Die Kindersoldaten sind natürlich einerseits eine (politische) Botschaft. Damit sind Wehrdienstleistende gemeint, die mir mittlerweile, wenn ich sie in Uniform sehe, wie kleine Kinder vorkommen, die mit echten Waffen Krieg spielen. :sad:

Aber der Begriff sagt vielleicht doch etwas über die Beziehung der beiden aus: Eine ähnliche politische Denkweise, die Uniformen und Militär kritisch gegenübersteht, haben offensichtlich beide. Zumindest spekuliert das Ich darauf, dass an dieser Stelle vom Du kein Widerspruch kommt.

Danke für Deinen Kommentar. Ich hatte diesen Text schon fast abgeschrieben. Aber je öfter ich ihn lese, desto eher erscheint er mir als passendes Gegenstück zu "Miriams Abschied".

Grüße

Paul Ost

P.S.: Ich merke gerade, dass ich beim Schreiben heute besonders viele Fehler machen. Ich habe die letzten drei Nächte damit verbracht, pubertierende Jungen und Mädchen voneinander fernzuhalten. Das macht echt müde.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 15.09.2006, 13:01

Hallo Paul,

für mich war hier auch klar, dass durchaus auch eine politische Botschaft mitspricht, wäre das nicht so, wäre es ja Effekthascherei. (genau trotzdem, weimar III). Ich bin gut darin, dass trotz dieses Wissens für mich in erster Linie für die Liebesthematik zu gebrauchen und das andere etwas liegen zu lassen, auch wenn das sicher dem Gedicht nicht gerecht wird.

Beim Bahnhofjargon kommt es ein wenig darauf an, vielleicht hast du letzlich recht. Auf jeden Fall erinnert das Halle (Saale) sofort an die Anzeigentafel, da sist klappt also. Es ist für mich eben nur nicht die wörtliche Rede, aber ich glaube, deine Argumente zeigen mir, dass du trotzdem Recht hast. Zum an/auf etc. Gleis: Ich meinte nicht speziell Berlinerisch. Ich glaube, an allen Bahnhöfen bisher ist mir diese (wenn ich sie mir nur germerkt hätte), in meinen Augen, seltsame Formulierung eingefallen, genau...Zug fährt AUS Gleis 3..genau, jetzt fällt es mir ein, aber das ist ja die Abfahrt...also alles unwichtig.

Warum ist es ein Gegenstück zu Mirams Abschied?

Liebe grüße,
Lisa

PS: das kann ich mir vorstellen! ich hoffe, es ist wenigstens gelungen :-)
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 15.09.2006, 14:01

Liebe Lisa,

vielleicht kannst Du ja auch noch einmal darauf achten, welche Formulierung an Bahnhöfen wirklich benutzt wird. Seid ich landverschickt wurde, fahre ich nur noch mit dem Auto.

Das Gedicht ist ein Gegenstück zu Miriams Abschied, weil beide von dem typisch Sonntag einer Fernbeziehung sprechen. Miriams Abschied spielt ein bisschen früher. Dann bringt er sie zum Zug. Dort spielt dann Berlin III (Abschied).

Zweimal Abschiede aus verschiedenen Perspektiven. Beidemal geht es um Situationen, die nicht einzigartig sind, sondern jedes (zweite, dritte, etc.) Wochenende geschehen (könnten).

Statt Gegenstück könnte man auch Komplementärgedicht sagen.

Grüße

Paul Ost

P.S.: Ja, ich war ziemlich erfolgreich und werde deshalb jetzt mit Inbrunst verachtet.

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leonie
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Beitragvon leonie » 15.09.2006, 20:56

Lieber Paul Ost,

wie bei vielen Deiner Gedichte habe ich sofort die Situation und ein Bild vor Augen und höre fast die Lautsprecheransage. Die Kindersoldaten habe ich so verstanden, mir geht es oft genauso, wenn ich in ihre Gesichter schaue.

Die letzte Strophe gefällt mir sehr: Was macht diesen Filter aus, der das, was man behält von dem trennt, was man vergisst? Dass das lyrIch jetzt weiß, dass es kein „nächstes Jahr“gab? Und dass die Sorge nicht grundlos war?
Was macht die Wahrnehmung aus, als „gäbe es da etwas, was wir noch nicht wissen?“ War sie in dem Moment da oder ist sie im Nachhinein in den Blick interpretiert?“
Vor einiger Zeit habe ich versucht, mit zwei anderen einen Vorgang zu rekonstruieren, bei dem wir alle drei dabei waren. Jeder von uns hatte ihn in der Abfolge und sogar in dem, was geschehen ist, anders in Erinnerung. Ist spannend, wie das zustande kommt, wo wir doch eigentlich alle drei dasselbe gesehen haben müssten....

Ganz oft lösen Deine Gedichte in mir solche Prozesse aus, deshalb mag ich sie sehr!

Liebe Grüße

leonie

königindernacht

Beitragvon königindernacht » 15.09.2006, 23:50

Vier Jahre bin ich jedes Wochenende vom Ostbahnhof zum Studium gefahren- Wir haben uns mit einem langen Kuss immer schon Zuhause verabschiedet, um den Trennungsschmerz auf dem Bahnhof abzukürzen.

Das ist sehr lange her und durch diesen, deinen Text, wurde die verschütt geglaubten Bilder wieder lebendig- und die Geräusche und Gerüche. Du hast ein lebendiges Gedicht geschrieben, lieber Paul, das Erinnerungen schürt!

Mit Wünschen für ein Aufholen des Schlafdefizites, herzlichst, KÖ


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