Kreißen

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Klara
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Beitragvon Klara » 09.01.2017, 17:35

Wie schreibt man
ein Gedicht, ohne EIN GEDICHT zu schreiben?
Es ist nicht zu fassen! im Blick
auf irgendeinen See

Es liegt im Leuchten
des Schnees
auf dem blanken Ast
der Birke
schmilzt beim Zusehen
: Man muss
hören können
und die Worte des Engels im Herzen
bewahren wie Maria
das Kreißen des Morgens empfangen wie einen liebgewordenen
Schmerz: behutsam und mit fester Hand

Gewiss könnte jeder Strich
ins Leere gehen, jedes Wort
zu viel sein
Trotzdem schamlos treiben

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 09.01.2017, 17:58

Hallo Klara,

ich finde, es sind schöne Stellen drin, am besten finde ich den Anfang der 2. Strophe, von "Es liegt ... " bis "Zusehen".

In der ersten Strophe hingegen gefallen mir die Versalien nicht, ebensowenig das "Es ist nicht zu fassen!" - denn das Schreiben will doch auch gar nicht "fassen"? Irgendwie wirkt der Anfang - vielleicht bewusst? - unbeholfen auf mich und erschwert mir den Einstieg.

Teil II der 2. Strophe wird m. E. dann auch schwächer mit dem "Man muss hören können" - das klingt für mich ungeheuer pädagogisch und reißt mich heraus. Und in diesem Zusammenhang mag ich Maria und den Engel auch nicht so sehr, sie bekommen einen Goldrand, den ich hier gar nicht will, wird doch das zarte Bild vom Ast mit dem Schnee regelrecht zugegoldet. Dann kommt ein neues Bild, das ich aber dann auch nicht ins gesamte Gefüge kriege: behutsam und mit fester Hand im Herzen bewahren?

Und mit der letzten Zeile komme ich überhaupt nicht klar, die gibt mir Rätsel auf, die ich aber gar nicht lösen möchte.

Klara
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Beitragvon Klara » 10.01.2017, 08:53

Danke für deine Rückmeldung, Amanita.

Der Text ist noch nicht fertig. Ich komme auch noch nicht mit ihm klar. Vielleicht hilft mir dein Kommentar, mir klarer zu werden :)

Jedenfalls ist es kein "Gefüge" und wird/will/soll auch keines sein. Es soll sperrig sein. Ich bin vor allem unzufrieden mit dem Anfang, der ist ungelenk. Mal sehen.

herzlich
klara

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 10.01.2017, 16:03

Ja, das ist schon nachvollziehbar, dass Du etwas Sperriges vorhattest, das eröffnet der Anfang auch durchaus.

Dennoch: Es ist ein Gefüge, auch wenn Du keine (feste o. ä.) Struktur wolltest, hast Du doch Wörter und Zeilen zusammengefügt, komponiert. Das kann auch Dada nicht verhindern, es werden immer Zusammenhänge erschaffen ... :neutral:


Ich werkel' mal ein bisschen:


Wie
schreibt man ein Gedicht ohne
ein Gedicht
zu schreiben?
Im Blick auf irgendeinen See


liegt es im Leuchten
des Schnees
auf dem blanken Ast der Birke
schmilzt beim Zusehen
man muss
es hören können
das Wort des Engels
bewahren wie Maria

das Kreißen des Morgens empfangen
wie einen liebgewordenen
Schmerz


Gewiss könnte jeder Strich
ins Leere gehen, jedes Wort
zu viel sein



.

Last

Beitragvon Last » 12.01.2017, 09:09

Hallo Klara,

hier laufen für mich zwei Lesarten zusammen, die sich beide an der rhetorischen Eingangsfrage festmachen lassen.

1. Wie kann man einer ursprünglich unbewussten Eingebung folgend ein Gedicht schreiben ohne dabei im Schreibprozess (den Regeln des "guten Schreibens" folgend) in eine eher handwerklich Tätigkeit überzugehen, die das Gedicht seiner Authentizität berauben würde?

2. Wie kann man ein Gedicht schreiben ohne dabei das notwendige Übel der Geburtsschmerzen erleiden zu müssen?

Deshalb passt für mich auch das Marienbild sehr gut. Von der unbefleckten Empfängnis über den Leidensprozess, der "behutsam doch mit fester Hand" zu bewältigen ist.

Der letzte Vers stellt durch das "schamlos" diese Verklärung des künstlerischen Schaffensprozess in Frage. Ich meine auch diesen Zweifel zu verstehen, der sich darin äußert, empfinde ihn aber weder als notwendige Folgerung des Vorhergesagten noch als Zugewinn, der mir das Gedicht beim zweiten Lesen noch einmal in einem anderen Lichte zeigen würde. Gleichzeitig empfinde ich es auch so, dass man den Vers nicht ersatzlos streichen kann. Dass da also irgendein Schlussvers hingehört.

Ob es "EIN GEDICHT" heißen muss oder - was für meinen Geschmack verträglicher wäre - ob man mit "ein Gedicht" auskommen kann, ist wohl eine Stilfrage.

Gerne gelesen. Vor allem das Wort "Kreißen" entfaltet auch für mich als Mann die notwendige emotionale Tragweite.

Klara
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Beitragvon Klara » 12.01.2017, 10:26

Hallo Amanita,

danke für deine Mühe, aber das ist mir zu glatt.

Hallo Last,
danke für deine interessanten Gedanken, insbesondere die beiden Fragen. Wobei ich bezüglich Frage 1 nicht das Handwerkliche in Zweifel ziehn würde (im Gegenteil!), sondern sozusagen das Geistwerkliche. Es ist eine oft gestellte Frage: Wiebleibt eine unbefangen, LÄSST KOMMEN, WAS DA IST UND IM MOMENT ENTSTEHT, in dieser widersprüchlichen Situation/Position derjenigen, die MACHEN WILL (sich deshalb hinsetzt, notwendigerweise zumindest still steht, Zettel und Stift oder noch mehr Vermitteltes in der Hand, darauf getrimmt, ZIELGERICHTET und EFFEKTIV zu sein und zu schreiben). Es geht ums Freimachen-von, vielleicht, und ums Hingeben ohne Vorbehalt. Wenn dieser Vorbehalt weg ist, dann kommt nicht "ein Gedicht" oder EIN GEDICHT, sondern ein Gedicht, ein kleines zartes und wüstes Wesen, das sein Eigenleben hat - und fragt mich: "Was ist los?" oder "Wie geht's?" oder "Ist okay so?" - und dann kommt das Handwerk, klar. Die Feile, der Hammer, das Schleifpapier, die Schere...

Bedingungslose Hingabe (irgendeines vorder- oder hintergründigen LITERARISCHEN Wollens etc.) ist natürlich nicht die einzige Bedingung, aber vermutlich die conditio sine qua non in jener Angelegenheit, die notwendig zum Scheitern verurteilt ist: Schreiben.

Bezüglich des schamlos bin ich mir ebenfalls unsicher oder vielmehr sicher, dass es aufgepfropft ist - eben wegen jener Nicht-Bedingungslosigkeit, der ich mich schreibend nicht entziehen konnte. Zuerst stand da "schamlos schreiben". Das war mir zu billig. Woher das schamlos kam, weiß ich sowieso nicht, wer weiß das schon jeweils (oder will es überhaupt wissen).

Ich weiß gar nicht, ob Maria bei der Geburt gelitten hat, vermutlich, weil es ja seit dem Sündenfall und der Schlange so zu sein hat. Sie soll sehr jung gewesen sein, fast noch ein Kind. Und ist nicht sie selbst, sondern wird zur Chiffre für Hingabe, Erhöhung durch Unterwerfung, sobald man den Namen sagt, den vermutlich Millionen Frauen tragen. Sie hat empfangen, indem sie sich hingab und preisgab - zum Preis dafür musste sie ihren Sohn schlimm sterben sehen und zu Grabe tragen, diesen Mann, der ihr zu Lebezeiten nicht sehr wohlgesonnen war, und da kann man sicherlich feministisch dran rumkritisieren (und sollte das auch), aber wenn Marias Werk als Metapher für schöpferische Hingabe eines Prozesses lese, der zugleich "von außen und innen kommt und wirkt (im Grunde das Wesen von Religion, ohne die - Rückbindung, Geist... - m.E. keine Lreativität, keine Schöpfung möglich ist - SCHÖPFUNG - , dann stimmt es als Bezug.

Macht Spaß, darüber nachzudenken - danke dir!

Herzlich
klara
Zuletzt geändert von Klara am 12.01.2017, 10:35, insgesamt 3-mal geändert.

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Beitragvon Amanita » 12.01.2017, 10:27

(habe ich mir schon gedacht, Mühe wars nicht, sondern interessierte mich selbst).


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