„und dann und wann ...“ (fast ein rilke-gedicht)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Werner
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Beitragvon Werner » 08.10.2016, 20:10

läuft im kopfkino jeden freitag
ein film über sterben
begleitete erst neulich ein kamerateam
eine gruppe elfenbeinwilderer
schlachtete einen elefantenbullen ab
schleppte sich das tier mit letzter kraft
in meinen vorgarten in der luxemburger straße
und verendete
liefen die nachbarn herbei
kam sogar eine polizeistreife
und natürlich auch presse
spielte das radio gerade wie zufällig
afrikanische musik
waka waka pata pata
schwiegen alle tiere der savanne
selbst hyänen und schakale
verneigten sich die affenbrotbäume
in manchen sommernächten
vor der weißen elefantenherde
auf einem karussell
Zuletzt geändert von Werner am 15.10.2016, 15:52, insgesamt 1-mal geändert.

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Werner
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Beitragvon Werner » 08.10.2016, 20:11

@Klimperer: Jardin du Luxembourg!

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 10.10.2016, 10:27

Ja, dieses Karussell im Jardin du Luxembourg ist eine Art Herz für lyrische Herzen.

Nur am Wochenende wird die schwere Plane, die es bedeckt, aufhehoben, damit die Kinder drauf fahren können. Nur noch ganz kleine Kinder spüren Lust, auf diesem alten, langsamen Karussel zu fahren, das Rilke damals als sehr schnell vorkam.

Grau ist der Elefant geworden.

Irgendwie wäre es besser, es nie zu Gesicht zu bekommen, damit es sich leicht und unbeschwert, immer schneller, weiter im Herzen dreht.

Last

Beitragvon Last » 10.10.2016, 17:25

Hallo Werner,

für mich ein spannendes Spiel mit Bezügen, die assoziativ hergestellt werden, sich aber an ihrer inneren Logik brechen. Zum einen sind da Ereignisse, die real sein könnten, aber für sich allein keine Deutung zulassen. Zum anderen sind da fantastische Ereignisse, die eine Deutung nahe legen würden, aber eben nie stattgefunden haben können.

Schon die Annäherung an das bekannte Rilke-Gedicht ist einer dieser Bezüge. Natürlich spiegelt sich das Karussell des letzten Verses im "jeden freitag" des ersten und im "und dann und wann ..." des Titels, den man ja mit "ein weißer Elefant" ergänzen müsste. Gleichzeitig funktioniert nur der Übertrag des Musters, denn hier handelt es sich um Fiktionen echter Tiere und nicht wie bei Rilke zunächst ganz dinglich um Figuren, die den vermeintlich echten Tieren nachempfunden sind. Zusätzlich ist die Luxemburger Straße ja nicht der Jardin du Luxembourg, sondern eine der - wie zufällig - eingestreuten Parallelen. Somit handelt es sich nur fast um ein Rilke-Gedicht, das es sowieso nie ganz sein könnte, da du ja nicht der Rainer bist sondern der Werner und es auch stilistisch gar nicht dem Rainer ähneln möchte.

Das "kopfkino", gibt es wirklich eine Sendung, die diesen Namen trägt? Irgendwas klingelt da bei mir. Bin mir gerade nicht sicher, wo ich das schon einmal gehört habe.

Dann geht es inhaltlich los. Das Kamerateam begleitet(!) die Wilderer, um dadurch einen Missstand in unserer Welt anzuprangern? Das angeschossene Tier wird natürlich nicht in den Vorgarten gewarpt, wo anschließend auch keine Schaulustigen auftauchen. Das Radio spielt vielleicht "waka waka" aber die Aasfresser schweigen nicht, - wenn sie überhaupt etwas mitbekommen hätten, würden sie sich doch auf den Toten stürzen wie die Presse auf die vermeintliche Schlagzeile. Und auch die "affenbrotbäume" verneigen sich natürlich nicht vor dem Karussel, das ja überhaupt nie in der Luxemburger Straße stand.

Insgesamt trifft das sehr gut das Gefühl der Sinnsuche in einer bedeutungsschwangeren Welt, das Bemühen darum Mitgefühl zu empfinden oder zumindest beunruhigende Informationen zu einem versöhnlichen Abschluss zu führen. Aber dieses Vorhaben scheitert, weil man ja für sich selbst feststellt, dass das alles so nicht stimmen kann. Und dann wäre man ja selbst wie ein Schakal, eher Tier als Mensch, leise aufhorchend, wenn man mal - wie zufällig - etwas mitbekommt, um es dann... Wie zufällig? Noch nicht ma das ist zutreffend, denn waren das nicht die eigenen Gedanken, hat man nicht selbst auf Beute gelauert, wie die Hyänen, wie das Kamerateam? Wie jeden Freitag...

Estragon

Beitragvon Estragon » 12.10.2016, 19:36

was fehlt ist rilke

Niko

Beitragvon Niko » 12.10.2016, 23:36

Rilke wäre nicht Rilke, wenn er nicht fehlen würde! ;-)

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Werner
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Beitragvon Werner » 25.10.2016, 21:05

danke last! du hast das sehr gut und ausführlich ausgedrückt.

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Beitragvon Werner » 05.11.2016, 16:09

das gedicht wurde gerade in der Zeitschrift Dichtungsring Nr. 48 des gleichnamigen Literaturvereins in Bonn veröffentlicht.

http://dichtungsring-ev.de/


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