Am Oderufer

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Rita

Beitragvon Rita » 07.10.2014, 06:43

Am Oderufer

Lass singen uns, Fluss,
Lieder singen aus Wind, der des Abends
über die Wasser streicht.

Ich höre dein Rauschen aus Tiefen,
wenn der Sommer die Sterne erhitzt,
ihr Feuer, zerrissene Stimmen
des frühen Gestern, verkündet die Geburt
kommender Gestirne.

In Träumen saß ich am Ufer, ich vernahm
den Ruf eines arglosen Vogels,
ein Lachen flog durchs Weidenlaub,
Flügel aus Dunst, aus Wolken
streiften mein Haar.

Sing, Fluss, sing deine Lieder
aus Wind in den Abend, hin zu Dörfern
aus Hundegebell und weißen Tischen,
an denen der Mond speist
in heimlichen Nächten.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 07.10.2014, 10:02

Beim Lauschen dieses Gedichts muss ich an Schiller, an Heine, an Johannes Becher denken. Dieser letzte, Verfasser der Hymne der DDR, ist Autor eines der schönsten Gedichte der deutschen Sprache: "An den Neckar".

Ein gelungenes, post-romantisches Gedicht, das sich in keine Zeit einsperren lässt.

Ein wirklich schönes Gedicht, liebe Rita!

Carlos

Rita

Beitragvon Rita » 07.10.2014, 11:49

Lieber Klimperer,

schön, wenn dir das Gedicht gefällt. Von Becher habe ich nur das Buch der Sonette, da ist "An den Neckar" nicht dabei, weiß also nicht, worauf du dich beziehst. Ich glaube weniger, dass das Gedicht zur Romantik zu zählen ist, die ja immer das gereimte Gedicht bevorzugte. Aber was meinst du denn mit Post-Romantik? Vielleicht verwechselst du Romantik mit Melancholie? Hab herzlichen Dank fürs Reinsehen.

Lieben Gruß, Rita

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 07.10.2014, 12:05

Liebe Rita!

Ich habe nachgeschlagen: Mit "Post-Romantik" bezeichnet man Gedichte, die man in der Zeit der Romantik hätte schreiben können, die aber in jener Zeit als zu modern gewirkt hätten. Nein, ich habe den Begriff erfundn.

Und hier das Gedicht von Johannes Becher, dessen Titel ich nicht mehr wusste.



Tübingen oder die Harmonie


Könnte ich so dichten, wie hier alles klug
Verteilt ist, jedes steht an seiner Stelle.
Des Dunklen nicht zu viel, genügend Helle,
Die Burg, die Brücke, und der Straße Zug

Zur Burg hinauf: verborgen nicht zu viel
Und sichtbar doch nicht alles. Auch die Wellen
Des Neckars halten Maß: in ihrem Spiel
Erscheint das Meer schon, und zugleich der Quellen

Ursprung ist spürbar. So geordnet ist
Dies alles, einfach, und doch reich gegliedert.
Wie ewiges Gespräch. Darin vermisst

Man keine Stimme. Alles wird erwidert.
Zur Brücke spricht die Burg. Die Brücke spricht
hinab zum Fluss. Ins Dunkel spricht das Licht.

Rita

Beitragvon Rita » 07.10.2014, 17:01

Danke, Klimperer, für das Becher-Sonett. Na klar, das ist im Buch der Sonette enthalten, ich hatte nach dem von dir genannten Titel gesucht, konnte ihn natürlich nicht finden. Becher hatte sich mal gründlich mit dem Sonett befasst und versucht, ihm nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich ein neues Gesicht zu geben. Dieses Sonett gehört dazu. Bist du sicher, dass sich nicht auch scharfe Kritiker finden, die glauben, ein Sonett müsse immer im Stil des 19. Jahrhunderts geschrieben sein? Dass Petrarcas Sonette nichts, besonders sprachlich, aber auch nicht die Spur des 19. Jahrhunderts aufweisen, wird dabei von "Sonett-Kennern" selbstverständlich nicht bedacht. Es ist schon ein Drama.
Ja, ich versuche ebenfalls, dem Sonett (falls ich mal eines schreibe) ein gewisses Maß an Modernität zu geben, und bin damit gerade unter den "Kennern" nur auf Ablehnung gestoßen. Ich denke mal, Bechers Sonett würde es bei denen genauso ergehen.

Lieben Gruß, Rita

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Beitragvon nera » 08.10.2014, 02:23

es gibt kein drama, rita. keine ahnung, wie du auf diesen unfug kommst. wahrscheinlich, weil du dich als hohenpriesterin der wahren lyrikkunst nicht genug gewürdigt fühlst.
http://www.zeit.de/1999/31/199931.l-lyrik5_.xml


drama...jesses!

Rita

Beitragvon Rita » 08.10.2014, 05:07

Liebe Nera,

soll ich dein Statement nun als Arbeit an meinem obenstehenden Text bewerten?

SRita

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 08.10.2014, 09:57

Soll man den Wert eines Sonetts nach der Erfüllung strengen Regeln, wie ein Haiku, urteilen?

Ich glaube, der Wunsch, ein Sonett zu schreiben, beruht auf der Herausforderung, in eine vorgegebene Form einen sinnvollen Inhalt zu gießen.

Die Idee, der Gedanke aus dem ersten Quartett muss bis zum Ende fließen, wie in der "Römische Fontäne" von Rilke:

Zwei Becken, eins das andere übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand...

Ich würde gerne dein "gescheitertes" Sonett lesen, liebe Rita

Carlos

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Beitragvon nera » 09.10.2014, 04:07

liebe rita, werte soviel wie du willst!
ergebenst

Rita

Beitragvon Rita » 22.10.2014, 07:19

Liebe Nera,

es gefällt mir nicht, dass du mich ständig anmachst, weil ich einige Bemerkungen zu deinem im großen und ganzen sehr hübschen Gedicht geschrieben habe, die, würdest du intelligent auf sie achten, es noch verbessern könnten. Aus keinem anderen Grunde schreibe ich einem Autor, was mir ins Auge gefallen ist. Schließlich geht es hier um Textarbeit. Ich nehme an, du hast sie als Verriss verstanden und schreibst mir nun als Reaktion unter jeden Text irgendwelche Animositäten. Ich bitte dich herzlich, diesen Unsinn sein zu lassen, wir sind doch hier nicht im Kindergarten. Wir können doch von gleich zu gleich miteinander umgehen, mir jedenfalls würde das entschieden besser gefallen. Ich wünschte mir, du hättest ein Einsehen und würdest deine Haltung mir gegenüber ändern können.

Mit liebem Gruß, Rita

Rita

Beitragvon Rita » 22.10.2014, 07:36

Ooch, Klimperer, von "gescheiterten Sonetten", davon habe ich mehrere, es fällt mir direkt schwer, eine Auswahl zu treffen. Ich greif mal blindlings in die Kiste:

Ende-August-Sonett

Der Sommer gibt dem Herbst ein Interview,
schwitzt noch ein wenig, denkt bei sich: "Au backe,
das schönste Jahr hat auch so seine Macke",
begibt nach Plan sich in die Winterruh.

Die Freibadzeit geht ihrem Ende zu.
Man trägt schon wieder seine warme Jacke
und flüchtet vor der frechen Windattacke.
Tja, der Bikini ist erst mal tabu.

Allein der goldne Herbst mit seinen Reizen
verspricht noch Trost, wenn auch als Minimum.
Schon auf der Pappel hocken Winterkrähen.

Die Menschheit flüchtet sich ins Ofenheizen.
Man spürt's, vorbei der Sommer, der ist rum.
Am Wetter, weiß man, lässt es sich nicht drehen.

Hier fehlt vor allem das, was nach landläufiger Ansicht die Königin des Gedichts ausmacht, nämlich die Sprache des vorvorigen Jahrhunderts (meine würde nicht "klingen", es fehlen die "schönen Wörter"), desgleichen habe ich mir erlaubt, das Reimschema des Sonetts archaisch zu befolgen, ohne dass ich meinem aktuellen persönlichen Schnickschnack Zucker gebe - und meine Leser waren entsetzt!!! Ich bin eben hoffnungslos veraltet und zum Sonettschreiben nicht berufen. Die Kommentare dazu habe ich mir aus Schabernack und Daffke aufgehoben. Ich hoffe, dir reicht dieses Sonett als Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte, wenn man Nobelpreisträger werden will. Viel Spaß.

Aber mal im Ernst: Es gibt ja ganz unterschiedliche Sonette. Becher zum Beispiel hat mit dem Sonett experimentiert, siehe sein "Buch der Sonette", übrigens Shakespeare auch schon (die "Shakespeare-Sonette"), und auch Rilke, von dem du ein paar Zeilen eingestellt hast, war mit der Petrarca-Form nicht zufrieden und hat da viel Neues ausprobiert, mit dem Rhythmus, dem Reimschema, der Hebungsanzahl usw. Das ist alles legitim. Sicher haben diese Experimente bei den "Kennern" erst mal Befremden ausgelöst, aber mit der Zeit hat man sich daran gewöhnt. Was lange währt, muss nicht immer gut sein, genauso aber auch nicht jedes Experiment.

Gruß, Rita


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