Luhmann

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 26.07.2006, 09:38

Neulich auf der Autobahn zwischen Bielefeld und Oerlinghausen sah ich Niklas Luhmann, den berühmten Soziologen und Erfinder der Systemtheorie. Er fuhr in gemütlichem Tempo mit seinem alten Mercedes 200 Diesel, einem Modell aus den siebziger Jahren, auf dem rechten Fahrstreifen und schaute unbeirrt geradeaus. Offensichtlich hatte er nicht bemerkt, dass ich ihn beobachtete. Ich saß auf dem Beifahrersitz, neben meiner Freundin, von der ich sagen muss, dass sie eine viel sicherere Fahrerin ist, als ich es je sein könnte. Wir fuhren auf der mittleren Spur vorsichtig an dem braunen Mercedes vorbei, und während ich so aus dem Fenster schaute und vor mich hin träumte, erkannte ich die bedeutende Persönlichkeit im Wagen neben uns. Luhmann fuhr ausgesprochen ruhig und vorsichtig im konstanten Tempo von einhundert Kilometern pro Stunde und schaute weder nach links noch nach rechts. Er ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen, so schien es mir zumindest. Man könnte einwenden, dass ich mich möglicherweise getäuscht hätte. Vielleicht handelte es sich bei der Person in dem braunen Mercedes gar nicht um den berühmten Verfechter der modernsten Wahrnehmungstheorien. Was sollte ein solcher Mann an einem Dienstagvormittag auf der A2 denn auch für ein Ziel ansteuern? Wieso sollte ein so erfolgreicher Autor zahlreicher soziologischer Fachbücher und zudem der Erfinder eines vollkommen undurchsichtigen Zettelkastens in einem dermaßen alten und unattraktiven Auto fahren. Wenn man zudem noch bedenkt, dass er den Wagen selber steuerte, ohne einen Fahrer neben sich sitzen zu haben, so konnte man ins Grübeln kommen. Hätte der Umwerter aller Werte nicht zumindest einen Chauffeur verdient? Es ist ja bekannt, dass Luhmann einmal, zu Beginn der Neunziger Jahre, als sein Hauptwerk noch ungeschrieben war, einen Lehrstuhl in Süditalien annahm. Er tat dies jedoch nicht etwa wegen der besseren Besoldung dort unten oder gar wegen des besseren Wetters und der Möglichkeit, nach jedem erfüllten Arbeitstag zum Schwimmen in die Adria zu springen. Man hätte das annehmen können: der große Denker gibt sich nach vollendeter Systematisierung der modernen Gesellschaft einem ozeanischen Gefühl des Sich-Treiben-Lassens hin. Aber dieses Gefühl hatte schon Freud in seinem berühmten Brief an Romain Rolland als infantilen Urwunsch entlarvt. Luhmann, ein Mann von durchschnittlicher Größe, der im Alter höchster Weisheit zwar schon einen Bauch bekommen hatte, aber doch eher von asketischer Schlankheit war, hätte sich doch gut auf der sanften Dünung des Meeres treiben lassen können. Er wäre auf der Oberfläche geschwommen, zwischen Luft und Wasser, auf der Grenze einer leicht unterscheidbaren Differenz hätte er ohne weiteres jeden noch so verwundernswerten Gedanken an die binäre Codierung der Weltsysteme entwerfen können. Das wäre doch zumindest denkbar gewesen. Doch so war es nicht. Luhmann ging nach Italien, da man ihm dort eine Sekretärin zugesagt hatte. Ja, man könnte einwenden, er hätte doch auch einen Sekretär bei sich arbeiten lassen können, und die Beschränkung der von ihm in Italien geschaffenen Arbeitsstelle auf Bewerberinnen wäre eine unzumutbare Entscheidung gewesen, die auf ein überkommenes Rollenverhältnis hindeute. Dies wäre eine plausible Kritik, aber jedoch wirklich auch nur dann, wenn man die Entscheidung des großen Philosophen mit der Leitdifferenz Mann / Frau konfrontieren wollen würde, was ja nicht ganz fair wäre. Luhmann schien jedoch mittlerweile nicht mehr in Süditalien zu sein, denn sonst hätte ich ihn ja auch nicht auf der Autobahn so ganz ohne Chauffeur fahren gesehen. Seine sprichwörtliche Bescheidenheit kam eben auch in dieser fast anrührenden Szene auf der Autobahn deutlich zutage. Er fuhr seinen alten braunen Mercedes selbst, so wie er einmal eigenständig ein Forschungsprojekt beantragt hatte, an dem er alleine arbeiten wollte und für das er daher weder Gelder, noch Computer und schon gar keine wissenschaftlichen Assistenten brauchte. Zudem trug er keinen Hut, auch keinen teuren englischen, auf dem Kopf und hatte, wie immer wäre man fast gewillt zu sagen, einen einfachen blauen Pullover an, den er sommers wie winters zu einer einfachen grauen Hose trug, ob er nun mit seinem Hund im Wald von 7.30 bis 8.00 Uhr spazieren ging oder in seinem Arbeitszimmer seinen Zettelkasten von 9.00 bis 12.30 Uhr bearbeitete. "Mirjam", sagte ich daher plötzlich, denn ich wollte aus dem Ghetto meiner Gedanken ausbrechen und der Anblick des bescheidenen Wissenschaftlers hatte mich angerührt, "da hinten in dem Mercedes, den wir gerade überholt haben, sitzt Niklas Luhmann." Mirjam schaute nur kurz zu mir und legte besorgt die Stirn in Falten: "Aber Paul, Luhmann ist doch schon seit neun Jahren tot."
Zuletzt geändert von Paul Ost am 27.10.2006, 21:17, insgesamt 5-mal geändert.

aram
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Beitragvon aram » 03.08.2006, 20:49

frau merkel?








[align=right]@max - oder in japan?[/align]

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 04.08.2006, 00:37

"Weh' dem, der sitzt, wo die Spötter sitzen!" Ihr seid geschmacklos. Ich möchte bitte keine weiteren Namen von solchen Personen unter meinen Texten lesen. Wenn ich schon politisch ohnmächtig bin, dann will ich doch zumindest literarisch ohne "Frau-Nackenmassage-von-Bush" leben dürfen.

Grüße

Paul Ost

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 08.08.2006, 17:32

Lieber Paul,

jetzt wo alle Unkalrheiten des Beifahrers und seiner Position geklärt ist, kann ich endlisch schreiben, dass mir der text unheimlich gut gefallen hat...die Stimmung...das Ende...großartig...auch miriams Reaktion...ich glaube, die beiden haben es beide nicht leicht miteinander gehabt :-). Die selbstironie und doch auch Begeisterung für die eigene Pnatasie sind wirklich raffiniert ineinander verstrickt, toll!

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

steyk

Beitragvon steyk » 13.08.2006, 08:25

hallo paul, auch ich kenne luhmann nicht aber es gibt ein paar leute
die ich der geschilderten person wiedererkenne. schon deshalb hat mir
die geschichte gefallen.

gruß stefan


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