Die Kunst der Verführung II

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 14.07.2014, 23:59

Eine Woche nach meiner Rückkehr aus Israel -früher konnte ich es nicht-, ging ich wieder zu der Praxis meiner Ärztin, freiwillig und ohne Termin, an meinem einzigen freien Tag, ich musste mich im Wartesaal hinsetzen und geduldig, wie jeder normale Patient, warten. Ich setzte mich auf meinem Lieblingsstuhl, gegenüber der Wand wo große Poster aus Afrika hängen, Plakate aus dem Alltagsleben, ganz schön bunt. Jeder Patient, der hereinkommt, stürzt sich auf den Stapel Zeitschriften, die auf dem Glastisch in der Mitte des Warteraums liegen. Sie tun das, um nicht mit den anderen Patienten reden zu müssen, jeder will seine Krankheit für sich selbst behalten. Ich schaue mir lieber die Fliege an der Wand an, ab und zu einen Blick auf die anderen. Einer war da, ein älterer Herr, der auch ohne diese Lesesimulation wartete. Ich merkte, dass er mich mit Interesse beobachtete, dass er rätselte, was für eine Krankheit ich wohl haben könnte.
Zufällig sah ich den Wagen meiner Ärztin -sie wohnt in einer benachbarten Stadt- auf das Grundstück vor dem Gebäude fahren. Kurz danach erschien sie im Warteraum. Ich war nicht sicher, ob sie mich gesehen hatte, so wenig reagierte sie auf meine Präsenz, oder hatte sie mich schon vergessen? Eine Arzthelferin war bei ihr, die mir sagte, es könnte sehr lange dauern, ob ich nicht einen Termin für einen anderen Tag vereinbaren wollte …Nein, sagte ich, ich habe alle Zeit der Welt. Die Ärztin, ab jetzt werde ich sie Isabel nennen, nahm alle anderen Patienten mit, nur mich und den nicht lesenden Herrn nicht. "Man hat uns vergessen" -sagte ich zu diesem; so fing ein kleines Small-Talk an, er merkte, dass man mit mir reden konnte, ich meine, intelligent reden konnte und nach einer Weile näherte er sich ein wenig, er nahm auf einen anderen Stuhl Platz, so dass nur vier oder fünf Stühle uns trennten. Er wollte heraushören, was für eine Meinung ich von Isabel hatte. "Sie sind in guten Händen", versicherte ich ihm.
Dann, ganz spontan, gegen meine Gewohnheit, sagte ich zu ihm "Ich war neulich in Urlaub in Israel." Seine Augen leuchteten. Endlich die Möglichkeit eines vernünftigen Gesprächs mit einem Fremden. Wir unterhielten uns etwa eine Stunde lang, ich hätte mich noch länger unterhalten können, wir hatten die Zeit und das Warten vergessen, wir haben uns amüsiert. Dann wurde er von einer Arzthelferin abgeholt, und dann, urplötzlich, erschien wieder Isabel in Person und sagte zu mir, "Kommen Sie mit, Herr V“. Ich sprang fast aus dem Stuhl und folgte ihr so schnell ich konnte. Bald waren wir wieder alleine in ihrem Zimmer, nur von einem Schreibtisch getrennt.
"Danke für das Buch" -sagte sie zu mir, während sie mir Blut aus einer Vene im rechten Arm abzapfte. "Es hat mir sehr gut gefallen". Und dann sagte sie, eine Aussage des Vaters im letzten Kapitel hätte sie sehr beindruckt ... Da ich selbst das Buch nur etwa bis zur Hälfte gelesen hatte, konnte ich nichts dazu sagen, ich versuchte nur, sie zu hypnotisieren. Sie muss innerlich gelächelt haben, ich bin wahrscheinlich nicht der erste Patient, der sie begehrt.
Es war schon Mittag, als ich runter zur Innenstadt lief. Es fiel mir ein, dass sie vor der Blutabnahme mir nicht gesagt hatte, wie sonst üblich, ich sollte eine Faust machen, ich hatte auch nicht daran gedacht. Ich schaute auf die Stelle im Winkel meines rechten Arms und sah, dass ein ziemlich großer Blutfleck unter dem Pflaster entstanden war ... Ich versuchte, den Arm hochzuhalten, die Stelle zu drücken. Vielleicht sollte ich zu einer Apotheke gehen und mir einen neuen Pflaster verpassen lassen.
Ich lebte noch, als ich unten in der Innenstadt war. Aber, wie konnte das passieren? Sollte ich das als ein Zeichen von ihrer Nervosität ansehen? Von innerer Erregung? Ich musste unbedingt das Buch zu Ende lesen um zu wissen, was sie im letzten Kapitel so fasziniert hatte.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.07.2014, 14:35

Köstlich, die Fortsetzung, Carlos,

vor allem die Tatsache, dass du das Buch nicht zu Ende gelesen hattest und somit nichts auf ihre Aussage zum Satz des Vaters im letzten Kapitel erwidern konntest. *lach*
Überhaupt schwingt da insgesamt so ein "erotisch-sinnlicher" Touch mit, untermauert durch ihre offensichtliche Nervosität und die Tatsache, dass sie dich so lange hat zappeln lassen im Wartezimmer. ,-)

Saluditos
Gabriella
P.S: Ich bin jetzt natürlich neugierig, wie dieser Satz im letzten Kapitel lautete. :mrgreen:

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 15.07.2014, 23:50

Hola Gabriella!

Ich danke dir für deinen großzügigen Kommentar.

Soeben habe ich ein weiteres Kapitelchen eingestellt. Hoffentlich bist du nicht enttäuscht!

Bis morgen ...

Carlos


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