Ich habe mir vorgenommen, meine Ärztin zu verführen.
Alles begann, nachdem ich, dank ihrer Hilfe, von einer langwierigen Krankheit geheilt wurde. Sie hat im Grunde nichts anderes getan, als mir Blut abzuzapfen und mit mir zu reden, sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Sie sagte, ein normaler Körper muss in der Lage sein, sich selbst zu heilen. Nach drei Wochen war das rätselhafte Fieber weg. Und das Fieber in meiner Seele nahm langsam seinen Anlauf. Ursprünglich war es Dankbarkeit, eine Eigentümlichkeit meines Charakters, die ich von meinem Vater geerbt habe. Er brachte immer Geschenke zu den Ärzten, bei denen er oder seine Kinder gewesen waren, Sachen aus dem Lande -er arbeitete als Verwalter von Landgütern-, eine dicke Henne, in der Weinachtszeit einen Truthahn ... Er hatte ein großes Herz, auch für die Frauen, die er vergötterte. Viele Kinder hatte er mit anderen Frauen gehabt, bevor er, schon ein 40- Jähriger, meine Mutter kennenlernte und sie heiratete.
Ich bin jetzt 12 Jahre älter als mein Vater als er starb, und diese Neigung zur Dankbarkeit ist immer noch da, ich musste der Ärztin etwas schenken, am besten ein Buch, ein stiller Vermittler. Ich las schon seit einigen Wochen "Salzwasser", einen Roman, der mir sehr gut gefiel. Ich kann sehr schnell lesen, habe aber die Gewohnheit, es so langsam wie möglich zu tun, so langsam, als ob ich nicht lesen sondern schreiben würde. Ein Buch besteht aus Kapiteln, Kapiteln bestehen aus Absätzen, aus Sätzen, diese wiederum aus einzelnen Wörtern. Ich lese ein Buch Satz für Satz, Wort für Wort, versuche, die Kernaussage des Satzes herauszufiltern, das Wichtigste, das nackte Subjekt und das Prädikat, dann die Adverbien und mehr oder weniger überflüssige Adjektive.
Nun, ich dachte, dieses Buch wäre eine gute Alternative, ein Taschenbuch, nicht zu teuer also, nicht zu „sich revanchieren verpflichtend“, eine nette Geste eben. Ich kaufte es in der Gutenberg Buchhandlung, es war nicht vorrätig gewesen, musste es am nächsten Tag abholen, kaufte vorher auch dort eine ganz kleine Karte mit einem schönen und nicht kitschigen oder anzüglichen Motiv, etwas mit Pflanzen, keine Blumen, schrieb dort eine kleine, sachliche Widmung: "Liebe Frau Doktor B. : HIER EIN KLEINES ZEICHEN MEINER DANKBARKEIT", und unten drunter meinen Namen. Ich steckte das Kärtchen in den dazu gehörigen Umschlag und ging zu dem Abholschalter, wo ich mir das Buch als Geschenk verpacken ließ, mit dem Kärtchen da wo normalerweise die Widmung steht. Ich glaube, es war sehr geschickt von mir, das Buch nicht mit einer Widmung zu beflecken. So konnte der Empfänger es ruhig weiter verschenken falls schon gelesen, so konnte sie es im Bett neben ihrem Mann lesen ohne ihm erklären zu müssen, wer und warum.
Es war schon ziemlich spät geworden, ich nahm ein Taxi um zu ihrer Praxis zu fahren, wo ich einen Termin hatte, den letzten bevor ich im Urlaub nach Israel flog. Sie zapfte mir noch einmal Blut ab, sie machte das zum ersten Mal selbst, persönlich, allein mit mir in ihrer Praxis, getrennt von den neidisch im Wartesaal wartenden Patienten; sie machte das besser als die bei ihr angestellten Mädchen. Bevor ich ging, holte ich aus meinem Rucksack das in einer Plastiktüte eingehüllte Buch und überreichte es ihr. "Es ist ein Buch" -sagte ich, woraufhin sie es gleich aufmachen wollte. "Machen Sie das später" -sagte ich, so sachlich und selbstverständlich wie möglich, als es nichts von Bedeutung wäre und verabschiedete mich. Sie verließ auch das Behandlungszimmer, musste kurz zum Labor mit meinem Blut in ihren Händen, ich ging eine Treppe hinunter, ich sah, dass sie hinter mir her ging, ich wusste, dass sie mich beobachtete, drehte mich aber nicht mehr um.
Die Kunst der Verführung
Was ist Verführung, frage ich mich gerade ...
Mir gefällt sie auch, die kleine Geschichte, und was sie alles offen läßt - du Genießer, offenbar nicht nur von Büchern.
Nur nebenbei: "Verwalter" nennt man, glaube ich, das, was der Vater beim Landgutsbesitzer war.
Und es müßte heißen: "als er starb".
Liebe Grüße
Eva

Mir gefällt sie auch, die kleine Geschichte, und was sie alles offen läßt - du Genießer, offenbar nicht nur von Büchern.

Nur nebenbei: "Verwalter" nennt man, glaube ich, das, was der Vater beim Landgutsbesitzer war.
Und es müßte heißen: "als er starb".
Liebe Grüße
Eva
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