Die Gretchen-Komödie

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 26.12.2013, 20:36

Was für ein Jahr! :blink2: Aber immerhin zu einer Weihnachtsgeschichte habe ich es gebracht. Hier ist sie.
Liebe Grüße
Merlin

Die Gretchen-Komödie

Prolog auf Erden
Denken wir uns ein Liebesidyll. Scheuen wir dabei nicht vor Klischees zurück: Beginnen wir mit einem Mann und einer schönen jungen Frau, setzen wir sie auf einer blühenden Wiese aus, in den Schatten eines Apfelbaumes, der, wenn es denn sein muß, ebenfalls blühe. Denken wir uns beide, vom Heuschnupfen verschont, unter diesem Apfelbaum ausgestreckt, er an den Stamm gelehnt, sie an seine Schulter. Es versteht sich von selbst, dass Vögel zwitschern und die Sonne scheint. Andererseits hätte auch ein Treffen im Mondschein unter klarem Sternnehimmel etwas für sich - sei's drum, denken Sie es, wie sie wollen. Wichtig ist allein, einen Eindruck von der Lage des Mannes zu gewinnen - ein eigenartiger Kauz mit Bart und einer schwarzen Robe - der, wie er nun die Augenblicke einen nach dem anderen vergehen sieht, den nächstbesten ergreift und in Gedanken - leicht geschwollen - zu ihm spricht: "Verweile noch - du bist so schön!"
Ein Glück! Denn schon hat es mit dem Kitsch ein Ende. Die Erde tut sich auf, ein höhnisches Lachen dringt aus dem Spalt und der Bärtige sinkt in den Armen seiner Liebsten kraft- und leblos zusammen. Der Himmel verfinstert sich, es riecht nach Schwefel, und wer sich das Klischeeidyll für seinen gehobenen Geschmack doch etwas zu farbenprächtig ausgemalt hat, darf angesichts dieser gelehrten Pointe nun aufatmen: Geschafft.

Erster Teil: Hölle
"WAS SOLL DAS HEISSEN: >>NICHT DA<<? ich warte seit Jahren auf diese Sendung! Ich habe Meldung erhalten, dass sie hier sein soll. Also reißen Sie sich gefälligst zusammen und geben Sie mir mein Paket!" Der junge Beamte am Postschalter warf Luc einen verängstigten Blick zu und begann dann erneut, hektisch klickend mit der Maus herumzufummeln. "E-e-es tut mir wirklich leid, Meister, a-aber da ist w-wirklich n-nichts mit e-einem Kennz-z-zeichen HF..." Luc hätte diesen stotternden Grünschnabel ungespitzt in den Boden rammen können, tief in den Boden, sehr, sehr tief, aber er hielt sich zurück. Zum einen würde es davon nicht rascher gehen, zum anderen war geeignetes Personal für die Verwaltungsberufe kaum noch zu finden, da durfte man mit dem ungeeigneten nicht zu verschwenderisch sein. Trotzdem war da, das wußte er, dieses saftige Stück Arbeit für ihn in der Post. Das wollte Luc haben. Luc arbeitete gern. "S-sind Sie denn wirklich ga-ga-ganz sicher, dass e-es geliefert w-w-wurde?" Die Stimme des Beamten kam heiser und stockend. So würde das ewig dauern. Luc beschloss, seine Strategie zu ändern. "Ganz sicher. Ich habe gerade eine entsprechende Notiz erhalten" Er holte einen Zettel hervor und hielt ihn seinem Gegenüber hin. "Haben Sie eine Ahnung, woran die Verzögerung liegen könnte?" Der Junge überlegte kurz. "Wenn eine Versandbestätigung ergangen ist, kann es eigentlich nur noch am Lieferschein liegen. Vielleicht ist da ja ein Fehler?" Nein, dachte Luc, ganz sicher nicht. Bei der Ausstellung dieses Dokumentes hatte er persönlich sehr genau darauf geachtet, dass alles wasserdicht war. "Wohl kaum" gab er zurück. "Schauen Sie doch einfach in der Akte nach" Schweigen. "D-das wird nicht g-gehen, M-m-eister Luc, die A-akten wurden z-zum 1. d-des J-jahres d-digitalisiert und die Originale vernichtet, um P-platz im A-a-archiv zu schaffen" "Dann rufen Sie ihn eben auf ihrem Rechner auf!" Nach kurzer Tipperei entspannte sich die Miene des Jungen deutlich. "Ich hab's gefunden! Ein Formschreiben vom Typ SV-fI3". Stolz drehte er den Bildschirm zu Luc herum. Luc las:

Hiermit erklärt der Erstunterzeichner im Fall des Eintretens der in Anlage A aufgeführten Bedingung/en seine Seele zum alleinigen Besitz des Zweitunterzeichnenden.
Erstunterzeichnender Zweitunterzeichnender
Heinrich Faust Santa
(genetische Signatur)
Anlagen: Bedingung des Inkrafttretens der Überschreibung.
Dieses Schreiben ist maschinell erstellt und ohne Unterschrift gültig.

Anlage A war ein im wesentlichen leeres Blatt, in dessen erster Zeile stand: "Ausdruck der Wertschätzung des aktuellen Zeitpunktes durch den Erstunterzeichnenden"

"Sieht doch gut aus" meinte Luc, aber der junge Mann erbleichte. Seine Kinnlade klappte herunter und begann zu zittern. Luc brauchte einen Moment, bis er verstand, dass er etwas zu sagen versuchte, aber kein Wort heraus bekam. "Was ist denn? Meine Wüte, dann zeigen Sie doch einfach drauf!" Doch da brauchte er dem zitternden Finger nicht erst zu folgen, der auf die zweite Unterschrift - seine Unterschrift - wies. Jetzt sah er es. Ein Tippfehler. Solche Schlampereien schätzte er nicht. "Wie kann denn so etwas passieren?" fragte er barsch. In der gemurmelten Antwort glaubte er etwas von "Autokorrektur" zu hören, aber die Details waren ihm im Grunde gleich. Lächerlich. Irgend etwas war in der Postsortierung ein paar Buchstaben weiter gerutscht, und jetzt fand man es natürlich nicht, wo man es suchte. "Na dann ist ja jetzt wohl alles klar. Sehen Sie unter "Santa" nach und geben Sie mir das Ding."
Das Gesicht des jungen Mannes nahm kurz eine grau-grüne Farbe an, dann kam mit der festen Stimme eines, der mit dem Leben abgeschlossen hat: "Die Registrierung >>Santa<< existiert in unserer Sortierung nicht. Laut Datenbank handelt es sich um die offizielle Signatur des Weihnachtsmannes. Wenn der Auftrag korrekt ausgeführt wurde, befindet sich die Sendung jetzt bereits am Nordpol"


Luc trommelte, den Kopf auf die linke Hand gestützt, mit der rechten so heftig auf die Tischplatte, dass sich Kerben bildeten und ab und zu kleine Sägespäne zu Boden fiel. Der Tag war gelaufen. Statt einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, hatte er sich erst um die Renovierung und Neubesetzung des Postamtes kümmern und jetzt auch noch eine Versammlung der Ressortleiter einberufen müssen. Diese Krawattenheinis sollten besser schnell ein paar gute Ideen haben. Seit bei der letzten Renovierung irgend etwas mit der Schallisolierung passiert war, wurden die Sitzungen ständig durch Arbeitslärm von draußen gestört. Derzeit hörte man ein so gräßliches Heulen, dass man am liebsten zum Fenster gelaufen wäre und den Arbeiten zugesehen hätte. Das machte es umso ärgerlicher, hier festzusitzen. Frustriert drehte Luc den Regler an seiner Stuhllehne. Das Heulen wurde leiser und wich schließlich einem Zähneklappen erster Güte. Das war kaum besser, aber doch immerhin ein bißchen. Mehr konnte man da im Moment nicht machen. Durch die Renovierung der Verwaltungsgebäude, die als Großbauauftrag nach den neuen Regelungen erstmals hatte ausgeschrieben werden müssen, waren alle Konferenz- und Arbeitsräume diesen ablenkenden Geräuschen ausgesetzt - die reinste Sabotage. Luc war dem leitenden Architekten nur einmal begegnet. Damals war ihm der ein wenig hell vorgekommen, dass es sich aber um einen Mitarbeiter des Bauderzernates der Gegenseite handeln könne, daran hatte er erst gedacht, als es zu spät war. Die neue Anlage ließ sich seither trotz großer Anstrengungen nicht entfernen. Wo man es versucht hatte, war alles nur schlimmer geworden: In C390 war die Saalbeleuchtung ausgefallen, in Z66 die Klimaanlage und in V53 hatte man ein Rohr freigelegt, das auf den Plänen nicht eingezeichnet gewesen war und das auch keinem erkennbaren Zweck diente, außer dass ihm ein übler Geruch entströmte.
Dann trafen sie ein: iHel, der Leiter der IT-Abteilung, ein unauffälliger Typ mit schütterem Haar, Brille, sieben krallenbewerten Beinen und einigen Tentakeln. Hans Kraken, leitender Mitarbeiter eines irdischen Finanzamtes. Noam Se-Al, der Geheimdienstchef, wie immer so gut getarnt, dass ihn wohl niemand bemerkt hätte, wäre nicht dieser hartnäckige Gnom auf ihm herumgeklettert, der - zu flink für Noams Versuche, ihn zu greifen - immer wieder in eine von seinen Taschen abtauchte, um kurz darauf mit einem Zettel voller sensibler Informationen in den Händen wieder hervorzukommen und ihn lauthals zu verlesen. "Folgenden Schutzengeln wurden Bleiwanzen in die Flügel gesetzt, um ihre Interventionen zu behindern: Abarmanon, zuständig für Richard Löwenherz. Abasino, zuständig für Giordano Bruno. Abasontaro, zuständig für Jo..." krakelte er gerade, als Dr. Fink El Tsuk von der Rechtsberatung den Raum betrat. Als letzter kam wie üblich Charon, ein Experte für Psychologistik, jenem Teil des Lagerungs- und Transportwesens also, der sich auf Seelen spezialisiert hatte.
"Gut, meine Herren" ergriff Luc das Wort. "Machen wir es kurz: Ich will diese Seele. Und Sie werden mir dabei helfen, sie zu bekommen. Entweder das, oder Sie werden durch jemand ersetzt, der es tut" Er legte eine kurze Pause ein, und prüfte die Wirkung seiner Worte. Er sah Unbehagen, aber keine Überraschung. Immerhin schienen alle zu wissen, worum es ging. Wenigstens auf die Sekretäre war Verlass.
Se-Al räusperte sich. "Ich habe ein wenig recherchiert. Einen gewaltsamen Zugriff auf die Bestände dieses Santa müssen wir angesichts der Lage, der Stärke des Sicherheitspersonals und vor allem des schieren Umfangs seiner Lagerhallen wohl als wenig erfolgversprechend ansehen. Zu unserem Glück ist die Gegenseite aber ständig damit beschäftigt, ihre Lagerbestände auf bloße Bestellung hin an alle möglichen Orte auszuliefern. Wenn wir sie veranlassen könnten, das Zielobjekt aus ihrem Hauptquartier heraus zu befördern - vielleicht können wir sogar selbst eine Bestellung aufgeben?"
" Kurzfristige Umjustierung von Meeresströmungen im Nordatlantik im Jahr 1912" platzte der Gnom heraus, der gerade ein gelbes Merkblatt aus der Brusttasche Se-Als gezerrt hatte. "Strömung 1497B: 5 Grad 7 Sekunden weiter westlich. Strömung 19534C..." Se-Al lächelte. In diesem Fall konnte er entspannt bleiben. Sollte das doch ruhig jeder hören. Verstehen würden sie es erst, wenn es zu spät war. "Unsinkbar. Von wegen!" murmelte er und sein Lächeln wurde breiter.
Da meldete El Tsuk sich zu Wort. Er habe, dozierte er, die Lieferbedingungen des in Rede stehenden Herrn Santa studiert. Dieser liefere nur auf fristgerecht gestellten Antrag, wobei nur menschliche Angehörige des westlichen Kulturkreises zwischen 4 und 11 Jahren antragsberechtigt seien. Luc runzelte die Stirn. Die Vorschriftenlage erschien ihm reichlich willkürlich. Bei dem in Frage stehenden Artikel sei, so erklärte El Tsuk weiter, angesichts der Natur der üblichen Lieferungen - vor allem Süßigkeiten und Spielzeug - ferner davon auszugehen, dass er mit einem Sperrvermerk versehen und nicht zur Auslieferung vorgesehen sei. Eine einfache Bestellung komme daher nicht in Frage.
"Rechtlich mag es ja so aussehen" erwiderte nun Kraken "Aber es mag sein, dass uns die Fakten in diesem Fall in die Hände spielen. Ich kenne das Chaos nur zu gut, in das selbst der bestorganisierte Verwaltungsapparat angesichts eines erheblich erhöhten Antragsaufkommens zum Jahresende gerät. Da kann man gute Vorsätze haben, wie man will: Die meisten Anträge werden ohne größere Aufmerksamkeit durchgewinkt. Besonders, wenn der Antragssteller im Sinne einer entsprechenden Klassifikation als zuverlässig gilt, wird so ein Sperrvermerk zur leicht übersehenen Formalie"
"So eine Klassifikation findet tatsächlich Verwendung" warf Se-Al ein, während er mit der rechten Hand die Hemdtasche zuhielt, in der er den Gnom vermutete. "Es handelt sich um den sogenannten BI, den Bravheitsindex, einer Zahl zwischen 0 und 100. Anträge von Personen mit einem BI von mehr als 95 wurden bisher fast ausnahmslos bewilligt. Mist!" Der Gnom schlüpfte, einige Fetzen karierten Stoffes kauend, durch ein Loch in der Tasche, das kurz zuvor noch nicht da gewesen war und entwischte in Richtung Innenfutter.
"Schön und gut", gab El Tsuk zurück, "aber da bliebe immer noch das Problem mit der Antragsberechtigung. Leider haben wir keine Kinder im fraglichen Alter in unseren Reihen, die im Sinne der Klassifikation der Gegenseite als zuverlässig gelten könnten, und die Anwerbung könnte sich insofern als kompliziert entpuppen, als ihr Erfolg eine drastische Reduktion dieses BI zur Folge haben dürfte"
In der nun folgenden Gesprächspause rutschten die Anwesenden unbehaglich auf ihren Stühlen herum. Schließlich brach iHel das Schweigen. "Fest versprechen kann ich zwar nichts, aber unsere Hackerabteilung ist die beste, die es gibt. Wir sollten in der Lage sein, uns in die Verwaltungssoftware dieses Santa einzuklinken und dort den Wunsch einer geeigneten Zielperson - vorzugsweise BI100 - durch das fragliche Objekt zu ersetzen. Nach erfolgter Lieferung sollte es nicht allzu schwierig sein, es an uns zu bringen - letztlich wird es nur darum gehen, einem kleinen Kind etwas wegzunehmen, was es weder haben wollte noch zu irgend etwas gebrauchen kann. Wenn wir uns den ursprünglichen Wunsch der Zielperson merken, dürfte das ein einfaches Tauschgeschäft werden..."
Luc war positiv überrascht. Der Plan schien solide, er hatte in seiner Tücke einen gewissen Stil und er fand anscheinend den einstimmigen Beifall seiner Mitarbeiter. Bis auf einen, der mit betont verdrehten Augen zur Decke schaute.
"Was meinen denn Sie dazu, Charon?"
"Ein vorzüglicher Plan, allerdings" entgegnete der Angesprochene. "Ich kann die Herren zur ihrer Brillianz nur beglückwünschen. Sein einziger Nachteil scheint in seiner völligen Unduchrführbarkeit zu bestehen"
iHel blies eine Rauchwolke aus seinen Nüstern. Das arroganten Gehabe dieser Riege von Arrivierten war zum Kotzen. "Sagen Sie doch einfach, was das Problem ist" blaffte er.
"Drei Eier!" kreischte der Gnom, begeistert mit einem neuen Zettel wedelnd "Ein Pfund Mehl, ein Liter Milch..." dann schien ihm der Zettel langweilig zu werden und er verstummte enttäuscht.
Lucs Miene verhärtete sich für einen Augenblick. Was er da hörte, klang verdächtig nach einem Rezept für Weihnachtsplätzchen. Was das in der Tasche seines Geheimdienstchefs zu suchen hatte, darüber würde zu reden sein. Später.
Charon lehnte sich betont langsam in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Sie wären bestimmt auch von selbst darauf gekommen, aber wenn Sie so nett darum bitten... Man kann hier wieder einmal gut sehen, wie wertvoll ein wenig psychologistische Grundbildung für jeden von Ihnen wäre. Also in der von Ihnen so geschätzten Kürze: Selbst beim besten Willen wird der Weihnachtsmann diese Lieferung nicht ausführen können. Wie auch? Wie soll man einem Kind eine Seele schenken? Wie wir alle wissen, braucht eine Seele einen Träger, entweder einen Leib, oder einen Seelenäther wie den um uns herum und da oben, oder aber einen geeigneten Gegenstand, in dem sie sich manifestieren kann. Unseren Schätzungen zufolge gibt es derzeit höchstens eine handvoll funktionsfähiger Artefakte dieser Art auf der Erde, und die befinden sich ausnahmslos in der Hand von Personen, die entschieden nicht brav sind..."
iHel lachte. "Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Wir haben ja Zeit. Also warten wir einfach ein paar hundert Jahre - dann hat so etwas jedes Kind"

Einige hundert Jahre später
In der logistischen Abteilung des Weihnachtsmannes herrschte Hochbetrieb. An jedem der mehreren Hundert Schreibtische bearbeiteten Gruppen von drei bis fünf Elfen die turmhohen Stapel von Briefen, lasen, kritzelten, stempelten und diktierten; trotz ihrer Anstrengungen wuchsen die Stapel mit jeder Schubkarre, die die etwas kräftigeren Elfen vom Lieferdienst herein schoben. Blink, der am siebten Schreibtisch der 104ten Reihe saß, stöhnte. Weihnachten war wirklich die Hölle. Gern hätte er sich den Schweiß von der Stirn gewischt. Aber dazu hätte er seinen Stempel aus der Hand legen müssen, und was einmal auf dem Schreibtisch lag, verschwand in einem Wimpernschlag unter Lawinen von Papier auf Nimmerwiedersehen. Wunschzettel! Tonnen, Türme, Berge von Wunschzetteln! Wunschzettel in allen Formen und Darstellungsweisen, die man sich ausmalen konnte: Klebezettel mit einzelnen Worten, meist gefolgt von einem Ausrufezeichen und Pamphlete von über hundert Seiten, alphabetisch sortiert und mit minutiösen Detailbeschreibungen versehen; Wunschzettel auf parfümierten rosa Bögen und auf die Rückseiten durchgerissener Einkaufszettel hingeschmierte; Wunschzettel auf Kisuaheli und solche, die überhaupt keinen Text enthielten, sondern nur krakelige Kinderzeichnungen; einigen lagen Fotos großäugiger Kinder bei, andere lieferten ausführliche Erklärungen oder waren in einem harschen Befehlston gehalten. Und in jedem Fall mußte eine Entscheidung getroffen werden, wobei die Direktiven sich auch noch ständig änderten. Wenigstens die Personenüberprüfung fand seit einer Weile an anderer Stelle statt. Sich wie früher die Akte aus dem Schrank zu holen und dann aus der Flut an Informationen zu Biographie, Bildungshintergrund, Erziehung, Kultur usw. ein Gesamtbild zu machen wäre inzwischen ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, das hatte man zum Glück eingesehen. Auch wenn Blink diesen BI im Einzelfall nicht immer nachvollziehen sollte. Was war zum Beispiel das? Laut Begleitschreiben hatte er gerade den Wunschzettel einer BI-100-Kandidatin vor sich. Weiter stand da, sie höre Rockmusik und betreibe Kampfsport. Und das als Mädchen! Blink rümpfte die Nase. Wahrscheinlich wieder eine dieser neuen Direktiven, die ergangen waren, nachdem dem Management kürzlich eine "sexistische Verteilungspolitik" vorgeworfen wurde, die "an Klischees aus dem vorvorigen Jahrhundert klebe". Ohne es weiter anzusehen knallte er einen "bewilligt"-Stempel auf das Blatt und griff zum nächsten. Mit diesem Drachen von Gleichstellungsbeauftragter wollte er sich ganz sicher nicht anlegen.

Wenig später klopfte es unsicher an die Bürotür des Elfen Pumpf, einem leitenden Mitarbeiter der Versandabteilung. "Herein!" rief er und verdrehte die Augen, als ein Elf aus dem Warenlager mit einem Auftragsblatt in der Hand herein kam. Mit diesen Kerlen wurde es von Jahr zu Jahr schlimmer. Ständig mußte man ihnen sagen, was sie zu tun hatten. Dabei war ihre Aufgabe doch einfach genug: sie holten den auf ihrem Blatt vermerkten Artikel aus dem Lager, machten ihn den Sicherheitsbestimmungen gemäß versandfertig und brachten ihn in den Schlittenhangar. "Was gibt es denn?" bellte er unfreundlich, und überflog das Blatt, das der Elf ihm auf den Schreibtisch legte. Ach du liebe Zeit. Das war ein Problem. Was in aller Welt hatten sich Kerle in der Auftragsbearbeitung denn dabei gedacht? Wieso hatten sie so etwas überhaupt im Lager? Aber vor allem: Wie sollte man das verschicken? Pumpf geriet ins Schwitzen. Auf keinen Fall durfte er vor dem Kerl Unsicherheit zeigen. "Na und?" fragte er barsch, "Ist doch alles in Ordnung!" Jetzt hatte er einige wertvolle Sekunden Bedenkzeit gewonnen, während sein Gegenüber sich dumm vorkam. Ein alter Kunstgriff der geschulten Führungskraft. Umso peinlicher, wenn ihm jetzt nichts einfiel. "Ehm.... errm... ja, mir war nicht ganz klar, wie ich das verschicken soll" antwortete der Arbeiter, fuhr sich mit der Hand zum Ohr und knickte die Spitze nervös hin und her. Ich auch nicht, verdammt noch mal. "Können Sie nicht lesen? Steht doch alles in den Versandbestimmungen!" Guter Zug. Weitere Sekunden, während er das Blatt mit den Bestimmungen heraus kramte und vor sich legte. "Da, bitte sehr. Alles da. Worum wird es sich hier wohl handeln? Na?" Er überflog hektisch die Paragraphen auf der Suche nach irgend etwas Hilfreichem. "Küchengerät? Na wohl kaum. Kuscheltier? Auch nicht. Herrje, das müssen Sie doch sehen!" Die Liste näherte sich dem Ende. Noch immer nichts. Es wurde eng. "Naschwerk? Nein. Werkzeug zur Holzbearbeitung? Nein. Dressurfähiges Wirbeltier? Nein. Das ist doch leicht zu sehen" Letzter Paragraph. Pumpf hoffte, dass seine zitternden Knie durch seinen Schreibtisch gut genug verborgen wurden. "Das ganze Zeug kann man leicht abhaken. Und wenn es das alles nicht ist, dann ist es - na, was?" Der Arbeiter schwieg verschämt und sah zu Boden. "Ich rede mit Ihnen!" "Ehm... errm... Das, was übrig bleibt?" Allerdings. Das war seine letzte Hoffnung. Aber was war das? "Ganz recht. Sehen Sie, es geht doch. Es handelt sich ganz klar um Software." Was immer das war. Der ganze neumodische Schnickschnack war Pumpf ein Greuel. Hoffentlich hatte er es wenigstens halbwegs richtig ausgesprochen. "Anwendung finden also die Vorschriften zum..." Und nun las er ab: "sicherheitsbewußten Transfer von Datenbeständen. Zunächst ist zu überprüfen, über welche datenverarbeitenden Geräte beim Empfänger vorhanden sind... Aber das können Sie ja wohl selbst lesen. Bitte, nehmen Sie das Blatt mit. Ich habe noch zu tun" Mit gesenktem Kopf und geknicktem Ohr schlich der Arbeiter hinaus. Pumpf atmete tief durch. Gerade noch einmal davon gekommen.


Zweiter Teil: Erde
In Gretas Träume mischte sich der erste Ruf des Handys. Umgehend begann sie, mit geschlossenen Augen nach weiteren fünf Minuten Ruhe zu tasten. Warum eigentlich? Heute war ein Feiertag, da konnte sie schlafen, solange sie wollte. Also aus damit.
Es ging nicht. Allmählich wurde sie von dem Lärm zu wach, um weiterschlafen zu können. Sie würde neu einschlafen müssen, für ihren Geschmack bei weitem zu viel Anstrenung für einen freien Tag. Blödes iPhone. Sie drückte lustlos auf dem Ding herum, das dessen ungeachtet weiter lärmte. Mistding. Erst hatte es sie gestern, am heiligen Abend, in einem Kreis langweiliger alter Verwandter im Stich gelassen. Am frühen Nachmittag war die mysteriöse Meldung "Download in Progress: HF.exe" auf dem Bildschirm erschienen und dort hartnäckig bis spät in die Nacht geblieben. Keine Kurznachrichten, keine Anrufe. Greta hatte der Familienfeier ohne die Rückendeckung ihrer Freundinnen entgegen treten müssen. Und jetzt das. Verdammte Weckfunktion. Sie blinzelte. Was redete das Ding da eigentlich? Von dem Lied, von dem sie sich sonst immer wecken ließ, war jedenfalls nichts zu hören. Stattdessen drang eine weinerliche Tirade aus dem Lautsprecher, dazu derart verschlungen formuliert, dass sie kaum die Hälfte verstand. "Wir wird mir? Ich finde keinen Leib an mir! Ich bin entleibt! Ist das die Hölle? Ein unfaßliches Ich, das in der Leere um sich selbst kreist? Ist das nun mein gerechter Lohn, dass ich, der ich das tiefste in der Welt zu suchen auszog, mich nun so gänzlich auf mich selbst zurückgeworfen finde? Mir wühlt es Mark und Leben durch! Werd ich den Jammer überstehen?" Das genügte. Sie schlug die Augen auf, griff sich das Gerät und schaltete es aus.
Erfolglos. Das geschwollene Gejammer blieb, so oft sie den "Aus"-Knopf drückte. Sie drehte den Lautstärkeregler nach unten. Lautes Gejammer. Greta fluchte. Offenbar ein Virus. Und sie hatte auch noch tatenlos zugesehen, wie er sich stundenlang selbst installiert hatte. "HF.exe" - wer dachte sich so einen Mist nur aus? Wahrscheinlich irgend ein neidischer Nerd ohne Freunde. Zum Glück kannte sie von der Sorte auch den einen oder anderen. Die würden das schon wieder für sie in Ordnung bringen. Aber bis dahin konnten ihre Kurznachrichten gelöscht, ihre Bilder im Netz veröffentlicht und ihre Freunde mit Spam bombadiert worden sein. Hier halfen nur rabiate Maßnahmen. Kurzerhand entfernte sie den Akku. Umgehend wurde der Bildschirm schwarz.
Stille. Endlich.
"Weh mir! Oh weh! Dunkel umfängt mich!"
Greta prallte zurück und starrte das Handy an wie einen Geist.
"Oh ihr Teufel! Soll ich - ach - tastend durch die Hölle stolpern?"
Sie hielt den Akku in der Hand. Das Netzteil war irgendwo in ihrer Tasche. Das war unmöglich. Das Handy konnte einfach nicht laufen.
"Wohlan denn! Ich will's wagen! Wahrer Mannesmut nimmt noch die Verderbnis für eine Probe der Bewährung."
Der Bildschirm begann matt zu flimmern. Auf der Anzeige erschien ein Dateiordner mit Bildern. Greta mit ihrer besten Freundin. Greta mit einer Katze. Die Katze. Noch einmal die Katze. Gretas beste Freundin mit der Katze. Greta mit ihrer anderen besten Freundin. Die andere beste Freundin mit der ersten auf einer Party. Gretas Arm, zum Bildrand hin immer breiter, dann ihr Gesicht. Eine andere Katze. Die erste beste Freundin mit der anderen Katze. Greta mit einer dritten besten Freundin, die sie eigentlich gar nicht leiden konnte. Noch eine Katze.
"Welch ausgefuchste Teufelei! Erinnerungen einer Fremden! Ist dies die Hölle? Eine Einsamkeit, die nicht einmal die meine ist? Wird so der Mensch, um ihn zu brechen, mit sich selbst entzweit? Nur fort! Nur fort! In die Traum- und Zaubersphäre bin ich, scheint es, eingegangen. Dass ich vorwärts bald gelange in den weiten, öden Räumen!"
Der Bildschirm flimmerte erneut. Dateiordner wechselten einander ohne erkennbare Reihenfolge ab, stets gefolgt von weiterem Gejammer. SMS. "Kurzatmige Narrenbriefe voller deutungsloser Zeichen!" Games. "Dämonische Spottbilder des verpielten Paradieses!" Music. "Ist mir doch, als dröhnt die Erde!" Und so weiter. Als sich der Ordner mit den Klingeltönen öffnete und die Stimme einen leicht hysterischen Beiklang bekam, hielt Greta sich die Ohren zu. Sie schnaubte. Wenn sie diesen Hacker je in die Finger bekommen sollte, würde sie ihn auf den Boden klatschen und ihm dahin treten, wo es weh tat. Da konnte ihr Trainer sagen, was er wollte. Vorläufig mußte sie sich an das Handy halten. Sie hob es hoch, schüttelte es heftig hin und her und rief: "Halt endlich die Klappe und verpiss dich aus meinen Daten, du dämlicher Nerd!"
Das Handy schwieg überrascht. So jedenfalls kam es Greta vor, die natürlich wußte, dass das Unsinn war. Überrascht war höchstens dieser verdammte Hacker, der wahrscheinlich irgendwo saß und sich lustig vorkam.
"Mich deucht, der Teufel spricht! Fletsche deine gefräßigen Zähne mir nicht so entgegen! Mir ekelt's!"
Unheimlich. Offenbar hatte der Typ Zugriff auf ihre Handykamera. Dann musste das Bild für ihn wirklich komisch ausgesehen haben. Sie hatte ja direkt in die Kamera gebrüllt.
"Sei mal lieber froh, dass überhaupt einer mit dir redet, du Eierkopf! Du willst doch unbedingt Aufmerksamkeit!"
"Das ist der rechte Ton! Er will noch Dank, dass er mich ennuyiert!"
">Er<? Bist du blind? Ey, kann ja sein dass ihr Computerfreaks euch damit nicht so auskennt, aber ich bin immer noch eine >sie<!"
"Deine Gestalt wird mich nicht täuschen, Dämon! Du bist gekommen, meine Verzweiflung durch die süße Lockung des Gespräches zu vertiefen! Ich wend' mich ab von dir, du Höllenkreatur!"
"Ich will dir mal was sagen, du Vogel: Ich gehe jetzt mit dem Handy in den Keller, da gibt es keinen Empfang. Dann kannst du jemand anders auf die Nerven gehen."

"Ausgezeichnet!" rief Luc und sah zum ersten Mal seit zwei Stunden von dem Kontrollmonitor auf, vor dem sich sämtliche Ressortleiter versammelt hatten. "Hervorragend! Das lief ja wie am Schnürchen! Jetzt müssen wir den guten Heinrich da nur noch raus bekommen. iHel, das ist Ihr Auftritt. Hacken Sie sich rein und laden Sie ihn runter!" iHel und El Tsuk tauschten einen kurzen verstohlenen Blick. Schließlich war es El Tsuk, der sagte: "Ich fürchte, ganz so einfach wird es dann doch nicht sein. In Paragraph 916 des Cyberwar-Abkommens über die Versuchung Minderjähriger wird ein direkter Angriff auf Datenbestände klar untersagt. Auch hier gilt der Invitationsgrundsatz: Wir müssen eingeladen werden". "Yup!" fügte iHel hinzu, ehe Luc Gelegenheit zu einer Tirade fand. "Aber keine Sorge, wir haben da unsere Möglichkeiten. Wetten, dass die Kleine bald ein paar neue Freunde haben wird?"

Gesagt, getan. Greta steckte das Handy in die Tasche, stieg die Kellertreppe hinab und schloss wenig später die Metalltür des Heizungskellers hinter sich. Hier drin, das wußte sie aus Erfahrung, war man abgeschirmt wie in einer Geheimdiensteinrichtung. Nicht einmal Radio hören konnte man. Mal sehen, wie das dem Jammernerd schmeckte.
"Drei neue Kontaktanfragen" meldete das Display. Merkwürdig. Sie ließ sich die Anfragen anzeigen. Das erste Profilbild zeigte einen lockigen Hundekopf zum Nickname "Schwarzer Pudel", das zweite zeigte einen Ziegenkopf namens "HöFü666" und das dritte einen grinsenden alten Heini im Anzug, der sich "Lucky Luc" nannte. Offenbar ein Hundezüchter, ein Ziegenhirt und ein Comicfreak. Greta rümpfte die Nase. Wie immer die auf sie gekommen waren, nach einer Bereicherung ihrer Kontakte sah das nicht gerade aus. Oder war das am Ende dieser Idiot von Hacker? Blöd genug dafür waren die Profile ja. "Schwarzer Pudel" - wer wollte denn so etwas in seiner Freundesliste stehen haben? Sie hörte Metal, ihre Freunde hatten Nicknames wie "Sensenmann", "Powerwolf" oder "Hell Warrior". "Schwarzer Pudel" - vermutlich ein blöder Scherz. Kurzerhand klickte sie dreimal auf "Anfrage löschen".
"Ich spür es wohl! Mephisto klopft man mein Verlies!"
Wenn Greta erschrocken war, ließ sie es sich so wenig anmerken, dass es ihr selbst entging. Sie überlegte. Das Handy, so viel war klar, weder Strom noch Empfang. Was immer es zum Reden brachte, konnte also unmöglich von außen kommen. Wenn es nicht von außen kam, blieb nur noch eine Möglichkeit: Es kam von innen. Der Kerl war irgendwie auf ihrem Handy. Nun, wenn er hatte herein kommen können, mußte er auch auszutreiben sein. Sonderlich glücklich war er mit seiner Lage ja anscheinend ohnehin nicht. Sie beschloß, ihre Strategie zu ändern. Vielleicht konnte man ja vernünftig mit ihm reden.
"Im Elend! Verzweifelt! Lange verirrt auf der Erde und nun gefangen! Als Missetäter im Kerker zu entsetzliche Qualen eingesperrt!"
"Reg dich mal ab, Alter, du bist auf meinem Handy und nicht in der Hölle!" antwortete Greta und versuchte, dabei möglichst versöhnlich zu klingen.
"Der Dämon redet wirr. Zu fragen drängt es mich und muss dabei doch schweigen - ach! Wie kann ich länger widerstehen! Vielleicht ist sogar dies der Hölle Plan, dass ich vor lauter Angst gleich Tantalus nicht aus dem Brunnen der Erquickung trinke? Wohlan, ich setz' es dran: Heda! Dämon! Was ist dies für ein Ort, welchen du >Händi< heißest?"
Die folgenden Erklärungen gestalteten sich etwas zäh. Der seltsame Kerl, der sich als Heinrich Faust vorstellte - was für Greta eher nach dem Künstlernamen eines Profiboxers klang - schien aus dem vorigen Jahrhundert zu kommen. Er bombadierte Greta mir einer Flut von Fragen, die sie ebenso uninteressant wie unbeantwortbar fand und von denen sie schon bald genug hatte.
"Sorry, Mann, aber da mußt du echt jemand anders fragen. Ich finde es grad wichtiger, wie du auf mein Handy gekommen bist und vor allem, wie wir dich da wieder runter kriegen"
Das Handy schwieg kurz. "In der Tat" sagte es dann "sind diese Fragen ungleich drängender. Warum bin ich nicht selbst darauf verfallen?"
"Keine Ahnung. Bist du sonst schlauer?"
"Wer mag das sagen? Heiße Magister, heiße Doktor gar - und sehe, daß wir nichts wissen können..."
"Öhm... ja, paßt schon. Dann liegt's wahrscheinlich daran, dass du unter Windows läufst. Das hat ja dauernd irgendwelche Aussetzer"
An dieser Stelle nötigte sie Faust zu weiteren Erklärungen, kam aber, nachdem er einiges über Betriebssysteme gehört hatte - "Oh, dass dem Menschen nichts Vollkomm'nes wird empfind' ich nun..." - von selbst zum Thema zurück. "Ist das nun meine Höllenstrafe, ein körperloser Narr zu sein in einem ungefügten Fenster?"
"Nee, eher nicht. Hab ich jedenfalls noch nie von gehört, dass sowas passiert. Außerdem bist Du am Heiligabend hochgeladen worden, nicht am 06.06 oder so. Also, wenn ich ehrlich sein soll, bist du vermutlich ein Weihnachtsgeschenk"
"Ein Weihnachtsgeschenk?!" die Stimme klang empört "Ich bin doch kein Schaukelpferd!"
"Tja, offenbar ein Irrtum. Der Weihnachtsmann macht eben auch mal Fehler. Vielleicht sollten wir ihn mal fragen, aber der kommt ja nur einmal im Jahr vorbei. Aber vielleicht können wir ihn besuchen?" Greta überlegte eine Weile, ob sie lieber ein Jahr lang auf ihr Handy verzichten oder auf der Suche nach dem Weihnachtsmann den Nordpol umgraben sollte, kam aber letztlich zu dem Schluß, ihre Chancen, innerhalb eines Jahres fündig zu werden, seien recht gering. Vielleicht konnte man das Ding ja auch noch umtauschen, auch wenn sie ihre Zweifel hatte, ob Besessenheit vom Fachhändler als Umtauschgrund anerkannt werden würde. Schließlich fiel ihr etwas ein. "Grace!" "Wie bitte?" "Das ist in Mädchen von meiner Schule, eine Klasse unter mir. Sie ist mit ihren Eltern letztes Jahr aus Amerika gekommen" "Und dieses Fräulein Grace soll uns helfen?" "Eher nicht. Ich mag sie nicht besonders. Aber in Amerika feiern sie die Bescherung ja erst am 25. - mit etwas Glück kommt der Weihnachtsmann also heute dort vorbei. Dann brauchen wir bloß zu ihrem Haus zu gehen und zu warten. Er müßte sich bald blicken lassen" "Sehr wohl! Dann frisch ans Werk!" meinte Faust noch, aber war Greta bereits damit beschäftigt, sich ihren Mantel anzuziehen.


"Das sieht übel aus" Se-Al schaute mit gerunzelter Stirn in die Runde. "Wenn sie Santa erreicht, fliegt die Sache auf, und dann sind wir die Seele los"
"Sie wird ihn aber nicht erreichen" antwortete Luc. "Ehrlich gesagt gefällt mir diese Entwicklung viel besser als die ganze Technikspielerei. Das ruft nach guter, alter, ehrlicher Arbeit. Ich kümmere mich selbst darum. Und dafür habe ich sie jetzt genau da, wo ich sie haben will. Unter meiner Einflüsterung sind Weltreiche entstanden und zerfallen, da werde ich noch einem kleinen Mädchen sein Spielzeug abnehmen können. Wozu bin ich schließlich ein Versucher? Ich habe noch von jedem meinen Willen gekriegt!"
"Nicht ganz von jedem, damals in der Wüste..." hatte iHel schon halb heraus, zog es dann aber vor, die ersten Worte in ein Räuspern übergehen zu lassen. Dafür ergriff El Tsuk das Wort. "Gut,aber denken Sie an die Vorschriften. Übertretungen werden von der Gegenseite fast immer bemerkt, und wir sollten es um jeden Preis vermeiden, Aufmerksamkeit auf diese Sache zu ziehen. Sie haben drei Anläufe, die Übergabe muss aus freiem Entschluß erfolgen, und direkte Gewalteinwirkung ist ausgeschlossen"
"Ich kenne die Regeln!" gab Luc barsch zurück. "Kümmern Sie sich lieber darum, dass ich bei meiner Rückkehr ein paar heiße Zangen vorfinde!" Dann gab es einen dumpfen Knall, eine gelbe Rauchwolke, die nach Schwefel roch und Luc war verschwunden.


Schnee wehte ihr ins Gesicht, als Greta aus dem Haus trat. Es war verdammt kalt. Zum Glück war es zu Grace nicht weit. Sie stapfte los, die Straße herunter, die zweite links. Jetzt noch an der Kirche vorbei über den Marktplatz. Die Sonne ging langsam unter, und das Schneetreiben wurde dichter. Als sie den Marktplatz zu einem Drittel überquert hatte, war von der anderen Seite nur noch der schwache Schein vereinzelter Straßenlaternen zu erkennen, während immer mehr und mehr Flocken fielen. Der Wind, der ihr bisher ins Gesicht geweht hatte, kam nun erst von hinten, dann von rechts und dann anscheinend von allen Seiten gleichzeitig. Die Lichter der Laternen waren verschwunden, von den Häusern nicht einmal mehr Schatten zu erkennen. Greta stapfte durch einen wirren weißen Wirbel. Hundert Schritte, zweihundert. Drei Minuten, fünf, zehn. Sie stutzte. So breit war der Marktplatz sicher nicht. Sie hätte längst ankommen müssen. Lief sie überhaupt noch in die richtige Richtung? Oder irrte sie im Kreis oder im Zickzack herum? War sie überhaupt noch auf dem Markt? Man konnte keine Handbreit mehr sehen. Sie drehte sich um und suchte im Schnee nach ihren Fußabdrücken. Vergeblich. Wind und Schnee löschten binnen weniger Sekunden jede Spur. Greta ging schneller, blickte sich um, wandte sich bald hierhin, bald dorthin in der Hoffnung, den kleinsten Anhalt zu finden, um sich zu orientieren. Nichts. Sie war allein. Verloren.
"Guten Tag!" hörte sie da eine freundliche Stimme direkt neben sich. Halb erschrocken und halb erleichtert fuhr sie herum. Vor Greta stand ein Mann. Er wirkte erstaunlich solide. Zu seinem weißen Hemd trug er eine graue Krawatte und ein schwarzes Jackett, sein Haar war ordentlich zurück gekämmt, und weder Hemd noch Krawatte, Jackett oder Haare wurden vom Wind bewegt, noch sah sie auf einem davon eine einzige Schneeflocke. "Guten Tag" sagte der Mann erneut und hielt ihr die Hand hin, die sie aus Höflichkeit ergriff. "Haben Sie Zeit für ein paar kurze Fragen? Es gibt auch etwas zu gewinnen!" Mit der rechten Hand machte er eine einladende Geste zum Tisch, während die linke in ihrem Rücken sie zwar nicht berührte, aber doch irgendwie mit unsichtbarer Kraft vorwärts schob.
"Liebe Puppe, fürcht' ihn nicht!" flüsterte ihr das Handy zu. Natürlich nicht. Warum denn auch? Handyvertreter gab es an jeder Ecke. Manche hatten einem etwas interessantes anzubieten, mit den anderen wurde man schon fertig.
Wer ihr derzeitiger Mobilfunkanbieter sein wollte der Mann nun erwartungsgemäß wissen und mit wie vielen Leuten sie regelmäßig mindestens eine Stunde lang telefoniere, wie sie es mit der Religion halte und ob sie täglich eher 5-10 oder 50-100 Kurznachrichten versende, ob sie viel ins Ausland telefoniere, wer ihr ärgster Feind sei und ob sie ihm bisweilen den Tod wünsche, ob ihr Gerät bisweilen Softwarefehler habe, wie oft und welche - solche Sachen eben. Die Antworten tippte er eifrig in einen Laptop, wobei er bisweilen lächelte, andere Male vor sich hin murmelte und die Stirn runzelte.
"Sie bezahlen derzeit viel zu viel" verkündete er schließlich. "Ich habe einen Tarif in meiner Liste, der auf Ihr individuelles Nutzungsverhalten zugeschnitten ist und nicht einmal die Hälfte kostet." Die Hälfte. Das konnte sich sehen lassen. Greta schaute interessiert. "Ja, mit deviltel ist das alles kein Problem - oh, ich sehe gerade, es kommt sogar noch besser! Wenn Sie jetzt einen Vertrag mit deviltel abschließen, tauschen wir Ihr altes Handy gegen ein brandneues um, garantiert störungsfrei und mit 24 Monaten Garantie!" Bei Greta schrillten sämtliche Alarmglocken. Das kannte man ja, dass einem von einem dubiosen Anbieter ein neues Handy für das alte angedreht wurde, das sich dann als wertloser Schrott entpuppte und man auf seiner Garantie sitzen blieb. Darüber hatte sie erst neulich etwas gelesen. "Ich bin mit meinem Tarif eigentlich ganz zufrieden" antwortete sie und hatte den Eindruck, einen Schatten über das Gesicht des Mannes huschen zu sehen. "Wie Sie wünschen" fuhr der gleich fort. "Aber ich habe da noch etwas für Sie: MyHell. Ein ganz neues soziales Netzwerk, speziell auf Jugendliche ausgelegt. Genauer gesagt: Auf richtig coole Jugendliche. Mit dem Netzwerk kann man sich das ganze nervige Hochladen sparen - alles, was auf deinem Handy gespeichert ist, kann automatisch von jedem Teilnehmer abgerufen werden. Wenn eine Ihrer Freundinnen ein Foto schießt, können Sie die erste sein, die es sieht - na, was sagen Sie dazu?" Hier mußte Greta nicht lange überlegen. Sie grauste es schon bei der bloßen Vorstellung. Allein dieser peinliche Liebesbrief an Marcel vorletzten Monat - zum Glück hatte sie den nie abgeschickt. "Nee, ich lade lieber hoch. So nervig ist das nun auch wieder nicht."
Wiederum ging etwas seltsames mit dem Blick des Mannes vor. Wäre das Schneegestöber nicht so dicht gewesen, hätte Greta geschworen, dass er sie einen Moment lang aus leeren weißen Augen ohne Pupille und Iris hasserfüllt angestarrt hatte. Doch ehe sie darüber auch nur erschrecken konnte, hatte er wieder sein verbindliches Lächeln aufgesetzt und sagte: "Was für ein kluges Mädchen du doch bist. Ich will ehrlich mit dir sein. Zufällig weiß ich, dass du auf deinem Handy ein gewisse Datei hast - du weißt schon, welche ich meine. Du findest sie vielleicht interessant, aber eigentlich kannst du damit doch gar nichts anfangen. Sie ist dir irrtümlich zugestellt worden - das weißt du auch - bringt dir keinen Nutzen, sondern hindert dich daran, mit deinen Freundinnen zu sprechen. Ich dagegen bin ein sehr einsamer Mann. Ich habe keine Freunde. Niemand ruft mich an und niemand schreibt mir eine Kurznachricht. Ich würde mich sehr freuen, wenn wenigstens mein Handy mit mir reden würde. Willst du mir die Datei nicht geben? Dein Handy würde wieder richtig funktionieren, und du würdest mich sehr, sehr glücklich machen." Greta, weit entfernt, sich von dem salbadernden Ton einlullen zu lassen, reagiert knallhart: "Und was kriege ich dafür?" fragte sie. "Eintausend neue Klingeltöne, freies SMSen auf Lebenszeit und ein Dutzend Spezialsmiles, die keiner deiner Freunde kennt." Greta staunte. Das Angebot war verlockend, gar keine Frage, und da scherte es sie im Moment wenig, wie ihr Handy heftig zu vibrieren, ja beinahe zu zittern begann. Nach kurzem Überlegen erwiderte sie: "Wenn die Datei so viel wert ist, kriege ich auf Ebay bestimmt noch mehr dafür. Sie können ja dann mitbieten."
Da ging in der Miene ihre Gegenübers wieder eine Wandlung vor, diesmal die vom Gesicht eines beflissenen und leicht devoten Straßenverkäufers zur hassverzerrten Fratze eines uralten und sehr, sehr bösen Wesens, das überdies keine Angst um seinen Blutdruck zu haben braucht. Seine Augen begannen zu glühen, die Brauen zogen sich zusammen, durch den Hut bohrten sich zwei Hörner; seine akkurat manikürte Hand verformte sich zu einer Klaue und stieß wie ein Raubvogel auf das Mobiltelefon zu. Dann schmerzte sie plötzlich, Luc lag mit dem Rücken im Schnee und hatte den vagen Eindruck, einen Salto beschrieben zu haben. "Kiai!" schrie Greta, rammte ihm den Fuß in die Magengrube und verschwand im Schneegestöber.
Griffabwehr. Sie lächelte. Das lernte man als Kleinkind für den Gelbgurt. Sie hatte braun. Es war zu dumm, dass man mit der Schwarzgurtprüfung warten mußte, bis man 18 war. Verdient hätte sie ihn längst.
"Gut gemacht - nun ist der Lümmel zahm. Jetzt aber fort - wir müssen gleich verschwinden."
Sie zog ihre Jacke enger zu, während sie weiter lief. Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass der Sturm stärker wurde. Sogar ganz rapide.
"Eile! Wenn du nicht eilest, werden wir's teuer büßen müssen!"
Ihr flog die Mütze vom Kopf. Das Heulen des Windes schwoll an und vertiefte sich zu etwas, was mehr nach dem Wutschrei eines Stieres klang. Eines sehr großen Stieres. Eine Bö traf ihre Hand und riss das Handy heraus. Greta wirbelte herum, traf es hinter sich etwa in ihrer Kopfhöhe mit der Ferse und fing es wieder auf. "So nicht, Alter" murmelte sie und stopfte es in ihre Jackentasche, die sie sorgfältig verschloß. Dann lauter: "So nicht! Und mit mir schon gar nicht!" Wie zur Antwort traf sie ein gewaltiger Wirbel und hob sie von den Füßen. Instinktiv machte sie eine Abrollbewegung, aber der erwartete Aufprall blieb aus. Erst nach einigen Sekunden begriff sie, dass sie nicht zu Boden geworfen, sondern in die Luft gewirbelt wurde. Ein Blitz leuchtete im einförmigen Gestöber auf und schlug tief unter ihr irgendwo ein. Dann grollte der Donner heran. "Gib mir die Seele, Menschenkind! Sonst reiße ich dich in Stücke!" Auf Gretas Stirn bildete sich eine steile Falte. Der komische Kauz auf ihrem iPhone mochte nerven, aber das hier ging zu weit. Hier ging es nicht ums Handy sondern ums Prinzip! Wie kam sie überhaupt dazu, durch die Gegend zu fliegen, weil es diesem Arschloch gefiel? Und reden würde sie mit so einem schon gar nicht mehr. Sie verschränkte die Arme und schaute demonstrativ zur Seite, soweit das, während man dauernd umher gewirbelt wurde, möglich war. Da plötzlich durchfuhr ein Ruck ihren rechten Arm. "Brrr!" rief jemand hinter ihr. "Hohoho! Was ist denn hier los?" Mit einem Schlag war der Schneesturm verschwunden. Greta war sich nicht sicher, ob sie darüber glücklich war. Sie baumelte nun mit dem rechten Ärmel am Geweih eines Rentiers, etwa 50 Meter über dem Erdboden. Ein Luftzug zerzauste ihr die Haare, eine schwarze Kutsche rauschte an ihr vorbei und verschwand mit unnatürlicher Geschwindigkeit am Horizont. "So ein Rowdy!" meldete sich die Stimme zurück. "Zum Glück habe ich mir das Nummernschild gemerkt. Das wird ein Nachspiel haben. Sie da, hätten Sie wohl die Güte, sich von meinem Zugren zu entfernen? Ich habe heute noch einige Termine." Greta, die sich gerade am Kopf des Tieres hochzog und dabei versuchte, dessen unwilliges Schnauben zu ignorieren, begriff nicht gleich, dass sie gemeint war. "Haaalloo! Sind Sie taub? Runter da, aber flott!" Sie wandte sich um. Ihr Gegenüber trug einen langen weißen Bart und eine rote Robe, saß auf einem Kutschbock und hatte einen Stapel hübscher Verpackungen hinter sich. Alles in allem sah er ziemlich nach Weihnachtsmann aus. Nur seine Aufforderung grenzte an Unhöflichkeit. Und langsam reichte es ihr. "Und wie bitte soll ich das machen?" schnauzte sie zurück "Oder verschenken Sie zum ersten Feiertag jetzt Genickbrücke?" "Wer herauf kommt, wird wohl wissen, wie er wieder herunterkommt. Was tun Sie sonst hier?" Greta zögerte keinen Augenblick mit der Antwort. In diesem Fall war Angriff zweifellos die beste Verteidigung. "Ich habe eine Reklamation" gab sie zurück. "Ich wollte einen neuen Karateanzug und das Slayeralbum >God hates us all<. Stattdessen haben Sie irgendeinen komischen Kerl auf mein Handy kopiert" Damit warf sie ihm das Telefon in den Schoß und genoß den verdutzten Blick des Weihnachtsmannes, als es zu sprechen begann. Dann machte sie es sich auf dem Rücken des Rentiers bequem, während ihr iPhone mit erstaunlicher Eloquenz den Hergang der Ereignisse erläuterte.
Der Weihnachtsmann grinste. "Da hat der Luc sich aber einen ziemlichen Patzer geleistet. Das kommt eben heraus, wenn man erst alles digitalisiert und dann mit illegal heruntergeladenen Programmen arbeitet, ohne weiter auf deren Quelle zu achten. Die Textverarbeitung mit dieser köstlichen Autokorrektur, die sie da unten benutzen, haben meine iElves geschrieben und gleich mit sehr unzulänglichem Kopierschutz online gestellt. Sie glauben nicht, was das für einen Quatsch aus deren Verträgen gemacht hat! Und bis Ihr Fall kam, haben sie es anscheinend nicht einmal bemerkt. Kein Wunder, wenn alles immer schneller gehen soll und keiner mehr in Ruhe gegenliest, ehe man das Originaldokument vernichtet. Die werden sich noch ganz schön ärgern, wenn sie sehen, dass ein großer Teil ihrer Anwerbearbeit aus den letzten Jahrzehnten dahin ist. Freut mich natürlich, dass wir Ihnen helfen konnten. Machen Sie sich keine Sorgen, wir kriegen Sie schon in Ihren Körper zurück" "Wie das denn?" fragte Greta. "Ah nun, im wesentlichen müssen wir die Erfüllung der Vertragsklausel nachträglich aufheben. So ein Eingriff in die Vergangenheit ist zwar nicht die feine Art, aber es ist ja Weihnachten, da wird der Leser schon ein Auge zudrücken und mitmachen. Wir müssen die Neufassung nur so hinbiegen, dass sie ihm gefällt." "Hä?" machte Greta. "Bei meiner Seele, ich verstehe euch nicht" erwiderte Faust. "Ach, macht euch da mal keine großen Gedanken, ich kümmere mich schon darum. Was mich aber noch interessieren würde: Warum haben Sie, Herr Faust, den Anbieter überhaupt gewechselt, wie man heute wohl so sagt? Was hat Sie dazu gebracht, sich auf einen Vertrag mit der Gegenseite einzulassen?" Eine kurze Weile herrschte Schweigen. "Letztlich war es wohl dies: Ich wollte erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält"
"Ah, das." sagte der Weihnachtsmann und fuhr sich durch seinen Bart. "Ja, das ist hart. Dafür hätte ich, als ich jung war, dem Teufel auch glatt meine Seele verkaufen können." "Nicht wahr?" seufzte Faust. "Jaja... Aber dann bin ich zum Glück selbst darauf gekommen." Und mit diesen Worten beugte er sich vor und flüsterte etwas in den Hörer, woraufhin der Bildschirm erst erbleichte, dann errötete und schließlich ein schallendes Lachen aus dem Lautsprecher drang.

Epilog
Denken wir uns ein Liebesidyll. Scheuen wir dabei nicht vor Klischees zurück: Beginnen wir mit einem Mann und einer schönen jungen Frau, setzen wir sie auf einer blühenden Wiese aus, in den Schatten eines Apfelbaumes, der, wenn es denn sein muß, ebenfalls blühe. Denken wir uns beide, vom Heuschnupfen verschont, unter diesem Apfelbaum ausgestreckt, er an den Stamm gelehnt, sie an seine Schulter. Es versteht sich von selbst, dass Vögel zwitschern und die Sonne scheint. Andererseits hätte auch ein Treffen im Mondschein unter klarem Sternnehimmel etwas für sich - sei's drum, denken Sie es, wie Sie wollen. Auch der aufrechteste Wille zum Idyll kann nicht überall gleich aufmerksam sein und so wird man die Mücke zu spät bemerken, die sich von einem nahen Grashalm erhebt, zu dem Paar herüber fliegt und ihren Rüssel genüßlich in die Stirn des Mannes versenkt. Der reißt die Augen auf, schlägt zu, die Mücke fliegt auf, er ruft ihr noch ein "Mistvieh!" hinterher und da merkt er erst, wie glücklich dieser Stich ihn getroffen hat. Beinahe hätte er etwas sehr Dummes gesagt.
Die Mücke aber, darum unbekümmert, verschwindet sirrend im Abendrot, ein klitzekleiner Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 31.01.2014, 22:14, insgesamt 6-mal geändert.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 28.12.2013, 09:05

Nun, ich bin überwältigt von dieser Geschichte. Nichts für kleine Kinder.
Luc ist eindeutig Luzifer, Satan, der Teufel. Greta ist ja Gretel, und so weiter.
Ein gelungenes Remake des alten Fausts.
Zuletzt geändert von Klimperer am 28.12.2013, 18:13, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Mnemosyne » 28.12.2013, 16:17

Danke! Freut mich, dass es dir gefällt! :)

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Beitragvon carl » 29.12.2013, 08:06

Klasse! Habs mit Genuss gelesen...
Frohe Weihnachten, nachträglich! C

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Beitragvon Mnemosyne » 29.12.2013, 16:14

Danke auch dir, Carl!

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Beitragvon Mucki » 30.12.2013, 17:44

Hi Merlin,

herrlich skurrile Geschichte. Eigentlich wollte ich sie nur anlesen, da ich keine Zeit hatte und sie so lang ist. Aber einmal angefangen, konnte ich nicht aufhören. *lach* Köstlich geschrieben. Am besten gefällt mir die Interaktion zwischen Se-Al und dem frechen Gnom. Das finde ich irre komisch. ,-)))

Saludos
Gabriella

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Beitragvon Mnemosyne » 01.01.2014, 22:44

Liebe Gabriella,
das kann ich gut verstehen, der Zeitmangel gehört seit einer Weile auch zu meinen ständigen Begleitern. Schön, dass du es trotzdem geschafft hast und noch schöner, dass du es auch gemocht hast. :)
(Und mit den Initialen NSA hat man natürlich bisweilen Probleme mit listigen kleinen geheimnisausplaudernden Gnomen ;) )
Liebe Grüße
Merlin

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Beitragvon Mnemosyne » 30.01.2014, 22:35

So, jetzt habe ich das ganze noch ein wenig überarbeitet. Vor allem sind zwei kleine Abschnitte neu dazu gekommen, die den Übergang etwas sanfter machen sollen. Interessierte finden sie zwischen den Überschriften "Einige hundert Jahre später" und "Zweiter Teil: Erde".

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Beitragvon Quoth » 31.01.2014, 21:07

Dein Verfahren erinnert mich an die famose BBC-Serie "Sherlock", wo die 100 Jahre alten Geschichten mit viel Computer und Digitalität - und sehr guten Schauspielern - auf gegenwärtig getrimmt werden.

Außerdem sah ich gerade jüngst eine Faust-Paraphrase von Claude Autant-Lara: "Marguérite de la Nuit" mit einem phantastischen Mephisto, von Yves Montand gespielt, sein hintersinniges Grinsen ist unvergesslich!

So, und jetzt zu Deinem Text. Er ist verdammt lang für ein Forum - und ich gestehe, ich habe ihn noch nicht zuende gelesen, will das aber tun. Deine jeweiligen Einzeleinfälle sind sehr hübsch - oder sagen wir: Unterschiedlich hübsch. Die böse Seite, die Hölle, ist Dir sehr viel besser gelungen als die gute (sie ist auch leichter - denk an Dante - was ist das Paradies verglichen mit dem Inferno?!). Also Gott zum Weihnachtsmann zu machen, das verkleinert ihn für meinen Geschmack allzu sehr. Eine wenigstens minimale Handlungsspannung vermisse ich, auch deshalb habe ich wohl noch nicht zuende gelesen. Es geht mir damit wie bei Krippenspielen, ich schlafe immer ein dabei, weil ich die Geschichte ja schon kenne ...

Ob Du Dir einen Gefallen tust, wenn Du am Anfang die Ausgangsszene als kitschiges Idyll selber denunzierst - ich finde, Du solltest den Mut haben, die Szene ohne solche Rückzugsmöglichkeiten zu entwickeln. So wie sie jetzt ist, berührt sie mich kaum.

Und "durchgewunken" ist doch wohl nicht Dein Ernst! Sinken, sank, gesunken ist korrekt, aber winken, wank, gewunken gibt es nicht. Und wo ich grad dabei bin: Meine Wüte - Güte; Ressorleiter - Ressortleiter; eingezeichnet gewewen - gewesen; ümssen - müssen. Nächstens mehr!

Quoth
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Beitragvon Mnemosyne » 31.01.2014, 22:03

Hallo Quoth,
und danke für deinen Kommentar. Die Serie kenne ich nicht - ich lebe seit ca. 3 Jahren recht glücklich ohne Fernsehempfang - aber sollte ich sie mal zu fassen bekommen, werde ich deiner Empfehlung folgen :) .
Aber: Wie kommst du darauf, der Weihnachtsmann solle Gott sein? Meiner Ansicht nach ist er der Weihnachtsmann, also sicherlich nicht auf der Seite des Teufels, aber weit entfernt von Allmacht und Allwissenheit.
Eine Anfangsszene, die nur dazu da ist, möglichst rasch vorbei zu sein, ist sicherlich Geschmackssache. Ich glaube, ich würde es so auch als Leser mögen (und ohne ironische Brechung brächte ich es wirklich nicht fertig, da fehlt mir wohl tatsächlich der Mut), aber Empathie mit den Beteiligten kommt so in der Tat nicht auf.
Dass Faust als Applet auf einem Handy landet, hätte ich für eher unvorhersehbar gehalten, ansonsten lebt der Text, wie du schreibst, eher von Einzeleinfällen als von Spannung. Ich wüßte gerade aber nicht, wie man das ändern könnte - hast du eine Idee?
Danke für die Hinweise auf Fehler, ich werde sie gleich mal korrigieren! (Außer "Meine Wüte", das ist Absicht - der Teufel kann ja schlecht seine "Güte" beschwören, er hat ja keine.)
Liebe Grüße
Merlin

P.S.: "gewunken" ist offenbar mittlerweile zulässig:
http://www.duden.de/rechtschreibung/gewunken
Aber ich finde es ähnlich unschön wie du und habe es entsprechend geändert.

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Beitragvon Quoth » 01.02.2014, 08:30

Hallo Merlin, ja, der Duden hat es aufgegeben, normativ sein zu wollen - was ich bedaure. In meiner Ausgabe von 2003 steht bei "gewunken" noch "gilt als standardsprachlich nicht korrekt".
Meine Wüte - ich habe es geahnt, wollte es aber von Dir bestätigt hören. Dabei finde ich Dein Verständnis des Bösen etwas schlicht. Zu dessen Hauptqualitäten gehört ja gerade die Unaufrichtigkeit! Natürlich schmückt sich ein wahrer Mephisto mit nichts so gern wie mit einer Güte - die er nicht hat, aber vortäuscht, vorheuchelt ...
Die Weihnachtsmannwelt behagt mir wenig. Dadurch wird die ehemals so starke Geschichte irgendwie ins Kinderprogramm gezogen. Dr. Faust wird gerne im Puppentheater gespielt - aber immer erst abends, wenn die Kleinen im Bett sind! Aber ich respektiere natürlich Deinen Wunsch, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben ...
Ja, wie der Geschichte etwas Spannung einblasen? Claude Autant-Lara lässt Faust 1956 als alten Mann auftreten, der sich in die Pariser Nachtclubsängerin Marguérite (Michèle Morgan) verliebt und nun nur noch eines möchte: Wieder jung sein! Dafür verpfändet er Yves Montand seine Seele. D.h. die alte Sage wird abgewandelt, ein neues Motiv unterlegt, das den Zuschauer "hereinholt" - denn wer möchte nicht wieder jung sein - allenfalls die, die es noch sind, und die sehen sich gern beneidet! - und schon fragt man sich: Wird das gutgehen? Also mittels eines Motivs lässt sich da eine Menge ausrichten - ein Hässlicher möchte schön, ein Armer reich, ein Schwarzer weiß, ein erfolgloser Autor ein Nobelpreisträger sein, und dafür würden sie alle gern ihr Seelenheil opfern!
Gruß Quoth
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Beitragvon Mnemosyne » 01.02.2014, 13:25

Lieber Quoth,
dieser Luc ist sicherlich eher eine Witzfigur als ein ernsthafter Versuch über das Wesen des Bösen - der fiele mir auch schwer, weil ich das Böse ganz sokratisch nur für einen Irrtum über das Gute, nicht für ein eigenes Wesen halte. Die Witzfigur tritt natürlich in der Anwerbearbeit als großzügig, freundlich und hilfsbereit auf (tut er ja später auch gegenüber Greta), aber im eigenen Hause darf er, denke ich, doch mal ganz er selbst sein. ;)
Motive haben die Handelnden - Luc will Fausts Seele, Faust kein Handy-Applet mehr sein und Greta, dass ihr Handy wieder funktioniert - aber im Fall von Greta ist das Motiv etwas zu bodenständig, um Raum zum Mitfiebern zu geben, mit Mephisto wird man vermutlich nicht mitgehen wollen und Fausts Lage ist zu lächerlich, um Mitleid zu erlauben. Ich fürchte aber, da läßt sich nicht viel dran machen, ohne dem Text seinen verspielt-komödiantischen Charakter zu nehmen. Vielleicht könnte ich Luc hier und da dem Erfolg noch etwas näher bringen, so dass zumindest kurzfristig fraglich wird, wie Greta sich entscheidet - derzeit trotzt sie seinen Versuchungen ja fast durchweg ziemlich souverän (worin andererseits, wie ich zumindest hoffe, wiederum eine gewisse Komik liegt).
Na, mal sehen. Danke jedenfalls für die Hinweise!
Viele Grüße
Merlin


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