Luhmann
Neulich auf der Autobahn zwischen Bielefeld und Oerlinghausen sah ich Niklas Luhmann, den berühmten Soziologen und Erfinder der Systemtheorie. Er fuhr in gemütlichem Tempo mit seinem alten Mercedes 200 Diesel, einem Modell aus den siebziger Jahren, auf dem rechten Fahrstreifen und schaute unbeirrt geradeaus. Offensichtlich hatte er nicht bemerkt, dass ich ihn beobachtete. Ich saß auf dem Beifahrersitz, neben meiner Freundin, von der ich sagen muss, dass sie eine viel sicherere Fahrerin ist, als ich es je sein könnte. Wir fuhren auf der mittleren Spur vorsichtig an dem braunen Mercedes vorbei, und während ich so aus dem Fenster schaute und vor mich hin träumte, erkannte ich die bedeutende Persönlichkeit im Wagen neben uns. Luhmann fuhr ausgesprochen ruhig und vorsichtig im konstanten Tempo von einhundert Kilometern pro Stunde und schaute weder nach links noch nach rechts. Er ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen, so schien es mir zumindest. Man könnte einwenden, dass ich mich möglicherweise getäuscht hätte. Vielleicht handelte es sich bei der Person in dem braunen Mercedes gar nicht um den berühmten Verfechter der modernsten Wahrnehmungstheorien. Was sollte ein solcher Mann an einem Dienstagvormittag auf der A2 denn auch für ein Ziel ansteuern? Wieso sollte ein so erfolgreicher Autor zahlreicher soziologischer Fachbücher und zudem der Erfinder eines vollkommen undurchsichtigen Zettelkastens in einem dermaßen alten und unattraktiven Auto fahren. Wenn man zudem noch bedenkt, dass er den Wagen selber steuerte, ohne einen Fahrer neben sich sitzen zu haben, so konnte man ins Grübeln kommen. Hätte der Umwerter aller Werte nicht zumindest einen Chauffeur verdient? Es ist ja bekannt, dass Luhmann einmal, zu Beginn der Neunziger Jahre, als sein Hauptwerk noch ungeschrieben war, einen Lehrstuhl in Süditalien annahm. Er tat dies jedoch nicht etwa wegen der besseren Besoldung dort unten oder gar wegen des besseren Wetters und der Möglichkeit, nach jedem erfüllten Arbeitstag zum Schwimmen in die Adria zu springen. Man hätte das annehmen können: der große Denker gibt sich nach vollendeter Systematisierung der modernen Gesellschaft einem ozeanischen Gefühl des Sich-Treiben-Lassens hin. Aber dieses Gefühl hatte schon Freud in seinem berühmten Brief an Romain Rolland als infantilen Urwunsch entlarvt. Luhmann, ein Mann von durchschnittlicher Größe, der im Alter höchster Weisheit zwar schon einen Bauch bekommen hatte, aber doch eher von asketischer Schlankheit war, hätte sich doch gut auf der sanften Dünung des Meeres treiben lassen können. Er wäre auf der Oberfläche geschwommen, zwischen Luft und Wasser, auf der Grenze einer leicht unterscheidbaren Differenz hätte er ohne weiteres jeden noch so verwundernswerten Gedanken an die binäre Codierung der Weltsysteme entwerfen können. Das wäre doch zumindest denkbar gewesen. Doch so war es nicht. Luhmann ging nach Italien, da man ihm dort eine Sekretärin zugesagt hatte. Ja, man könnte einwenden, er hätte doch auch einen Sekretär bei sich arbeiten lassen können, und die Beschränkung der von ihm in Italien geschaffenen Arbeitsstelle auf Bewerberinnen wäre eine unzumutbare Entscheidung gewesen, die auf ein überkommenes Rollenverhältnis hindeute. Dies wäre eine plausible Kritik, aber jedoch wirklich auch nur dann, wenn man die Entscheidung des großen Philosophen mit der Leitdifferenz Mann / Frau konfrontieren wollen würde, was ja nicht ganz fair wäre. Luhmann schien jedoch mittlerweile nicht mehr in Süditalien zu sein, denn sonst hätte ich ihn ja auch nicht auf der Autobahn so ganz ohne Chauffeur fahren gesehen. Seine sprichwörtliche Bescheidenheit kam eben auch in dieser fast anrührenden Szene auf der Autobahn deutlich zutage. Er fuhr seinen alten braunen Mercedes selbst, so wie er einmal eigenständig ein Forschungsprojekt beantragt hatte, an dem er alleine arbeiten wollte und für das er daher weder Gelder, noch Computer und schon gar keine wissenschaftlichen Assistenten brauchte. Zudem trug er keinen Hut, auch keinen teuren englischen, auf dem Kopf und hatte, wie immer wäre man fast gewillt zu sagen, einen einfachen blauen Pullover an, den er sommers wie winters zu einer einfachen grauen Hose trug, ob er nun mit seinem Hund im Wald von 7.30 bis 8.00 Uhr spazieren ging oder in seinem Arbeitszimmer seinen Zettelkasten von 9.00 bis 12.30 Uhr bearbeitete. "Mirjam", sagte ich daher plötzlich, denn ich wollte aus dem Ghetto meiner Gedanken ausbrechen und der Anblick des bescheidenen Wissenschaftlers hatte mich angerührt, "da hinten in dem Mercedes, den wir gerade überholt haben, sitzt Niklas Luhmann." Mirjam schaute nur kurz zu mir und legte besorgt die Stirn in Falten: "Aber Paul, Luhmann ist doch schon seit neun Jahren tot."
Zuletzt geändert von Paul Ost am 27.10.2006, 21:17, insgesamt 5-mal geändert.
Lieber Paul Ost,
ich bin nun kein Soziologe und kenne mich mit Luhmann nicht so aus- trotzdem hat mir Dein Text sehr gefallen. Zum einen vermutlich, weil ich Luhmann selbst noch gesehen habe -nicht auf der Autobahn, sondern in der Uni Bielefeld
- ich glaube jedenfalls, dass er es war, ansonsten gab es eine Person, die konstant so aussah wie er
. Zum anderen gefällt mir die Geschichte,weil ich mich dumpf zu erinnern glaube, dass Luhmann in seinem Werk ja auch das Wahrnehmbare thematisiert (oder täusche ich mich?) und darauf passt die Geschichte perfekt.
Liebe Grüße
Max
ich bin nun kein Soziologe und kenne mich mit Luhmann nicht so aus- trotzdem hat mir Dein Text sehr gefallen. Zum einen vermutlich, weil ich Luhmann selbst noch gesehen habe -nicht auf der Autobahn, sondern in der Uni Bielefeld
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Liebe Grüße
Max
Hallo Max,
Du hast ihn sogar gesehen! Wow! Ich habe ihn mir nur vorgestellt. Aber immer, wenn ich Mitfahrer aus OWL mitnehme, frage ich sie, wenn wir an Oerlinghausen vorbeifahren, ob sie den berühmtesten Unbekannten Ostwestfalens kennen.
Neulich sagte einer glatt: "Ja klar, unser ehemaliger Nachbar, der Niklas Luhmann." Von diesem Mitfahrer erfuhr ich, dass Luhmann angeblich zwei Schäferhunde gehabt haben soll (ziemlich viel Hund im Vergleich zu Schopenhauers Pudel) und dass er immer den Müll rausbringen musste (statistisch gesehen ist das auch eindeutig ein Männerjob).
Sonst ist der Text natürlich voller systemtheoretischer Anspielungen. Eine kleine Rache für zahllose Stunden, die ich mit Luhmanns Büchern verbringen musste/durfte.
Beste Grüße
Paul Ost
Du hast ihn sogar gesehen! Wow! Ich habe ihn mir nur vorgestellt. Aber immer, wenn ich Mitfahrer aus OWL mitnehme, frage ich sie, wenn wir an Oerlinghausen vorbeifahren, ob sie den berühmtesten Unbekannten Ostwestfalens kennen.
Neulich sagte einer glatt: "Ja klar, unser ehemaliger Nachbar, der Niklas Luhmann." Von diesem Mitfahrer erfuhr ich, dass Luhmann angeblich zwei Schäferhunde gehabt haben soll (ziemlich viel Hund im Vergleich zu Schopenhauers Pudel) und dass er immer den Müll rausbringen musste (statistisch gesehen ist das auch eindeutig ein Männerjob).
Sonst ist der Text natürlich voller systemtheoretischer Anspielungen. Eine kleine Rache für zahllose Stunden, die ich mit Luhmanns Büchern verbringen musste/durfte.
Beste Grüße
Paul Ost
Lieber Paul Ost,
hm, das mit den Anspielungen dachte ich mir (und ein, zwei habe ich auch erkannt), aber das Unheil ist, dass wir Mathematiker andere Götter haben - und es vermutlich einem Mathematiker strikt verboten ist Luhmann zu lsen
.
Danke, der Text war mir ein echter Lichtblick hier in der Prosaecke
Max
hm, das mit den Anspielungen dachte ich mir (und ein, zwei habe ich auch erkannt), aber das Unheil ist, dass wir Mathematiker andere Götter haben - und es vermutlich einem Mathematiker strikt verboten ist Luhmann zu lsen
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Danke, der Text war mir ein echter Lichtblick hier in der Prosaecke
Max
Lieber Paul, da ich schrecklich ungebildet bin, kannte ich den Namen Niklas Luhmann bisher nicht.
Ich hätte googlen können bevor ich deine Geschichte las, aber das habe ich nicht.
Obwohl ich sicher nicht den Genuss habe, sie in ihrer vollständigen Aussage zu verstehen, hat sie mich unterhalten, und keinesfalls gelangweilt. Ich habe sinnend gelächelt und finde die Erzählung sehr gelungen, stilitisch wie auch formal.
Der Schluss ist sogar köstlich .
Könnte sein du reichst Luhmann gedankenverloren die Hand
Liebe Grüße
Gerda
Ich hätte googlen können bevor ich deine Geschichte las, aber das habe ich nicht.
Obwohl ich sicher nicht den Genuss habe, sie in ihrer vollständigen Aussage zu verstehen, hat sie mich unterhalten, und keinesfalls gelangweilt. Ich habe sinnend gelächelt und finde die Erzählung sehr gelungen, stilitisch wie auch formal.
Der Schluss ist sogar köstlich .
Könnte sein du reichst Luhmann gedankenverloren die Hand

Liebe Grüße
Gerda
- Thomas Milser
- Beiträge: 6069
- Registriert: 14.05.2006
- Geschlecht:
Hi Paul.
Da es sich bei Luhmann offensichtlich nicht um unseren Nationaltorwart handelt, möchte ich mich inhaltllich Gerda anschließen. Dürfen es aber ein paar Anmerkungen zum Text sein?
Im ersten Absatz ist ein 'unbeirrt geradeaus' doppelt, das ziehen wir ab...
Rein logisch, wenn nicht gar logistisch: Wie kann ich auf dem Beifahrersitz (also rechts vom Fahrer) eines Autos auf dem Mittelstreifen (also rechts vom anderen Auto) jemand auf dessen Fahrerseite (also links) so genau erkennen? Ohne großes Kopfgedrehe und am eigenen Fahrer Vorbeigegucke stelle ich mir das schwierig vor, zumal, wenn das 'erkennen' zufällig ist. Vielleicht irre ich mich auch. Kam mir nur sofort seltsam vor, als ich mir die A2 aus der Zeit meiner Autofahrerschaft und der Pendelei nach Detmold vorstellte. Und rechts überholen? Tststs..... Dahinterklemmen und hupen ist viel schicker...(sagt einer, der immer nur mit 42 PS und 1,1 Liter - nein, nicht Wein, sondern Hubraum - unterwegs war)
wenn man die Entscheidung des großen Philosophen mit der Leitdifferenz Mann / Frau konfrontieren wollen würde ein bisschen doppeltgemoppelter Konjunktiv. Ein einfaches 'wollte' fände ich sprachlich eleganter.
Aber deine thematischen Ansätze und die Erzählweise mag ich wie immer sehr.
Gruß vom Tom.
Da es sich bei Luhmann offensichtlich nicht um unseren Nationaltorwart handelt, möchte ich mich inhaltllich Gerda anschließen. Dürfen es aber ein paar Anmerkungen zum Text sein?
Im ersten Absatz ist ein 'unbeirrt geradeaus' doppelt, das ziehen wir ab...
Rein logisch, wenn nicht gar logistisch: Wie kann ich auf dem Beifahrersitz (also rechts vom Fahrer) eines Autos auf dem Mittelstreifen (also rechts vom anderen Auto) jemand auf dessen Fahrerseite (also links) so genau erkennen? Ohne großes Kopfgedrehe und am eigenen Fahrer Vorbeigegucke stelle ich mir das schwierig vor, zumal, wenn das 'erkennen' zufällig ist. Vielleicht irre ich mich auch. Kam mir nur sofort seltsam vor, als ich mir die A2 aus der Zeit meiner Autofahrerschaft und der Pendelei nach Detmold vorstellte. Und rechts überholen? Tststs..... Dahinterklemmen und hupen ist viel schicker...(sagt einer, der immer nur mit 42 PS und 1,1 Liter - nein, nicht Wein, sondern Hubraum - unterwegs war)
wenn man die Entscheidung des großen Philosophen mit der Leitdifferenz Mann / Frau konfrontieren wollen würde ein bisschen doppeltgemoppelter Konjunktiv. Ein einfaches 'wollte' fände ich sprachlich eleganter.
Aber deine thematischen Ansätze und die Erzählweise mag ich wie immer sehr.
Gruß vom Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)
Lieber Thomas,
danke für den Hinweis auf die Wiederholung. Ich hab's gestrichen.
Was die Logistik anbetrifft. Ich bin ja lange nicht mehr mit Miriam gefahren (seufz), aber wenn ich auf dem Beifahrersitz sitze (rechts) und sie überholt ein anderes Auto, dann ist mir als Beifahrer der Fahrer des Autos, das überholt wird, doch näher, weil der der ja links sitzt. Die PS-Zahl ändert da nichts daran!
Grüße
Paul Ost
danke für den Hinweis auf die Wiederholung. Ich hab's gestrichen.
Was die Logistik anbetrifft. Ich bin ja lange nicht mehr mit Miriam gefahren (seufz), aber wenn ich auf dem Beifahrersitz sitze (rechts) und sie überholt ein anderes Auto, dann ist mir als Beifahrer der Fahrer des Autos, das überholt wird, doch näher, weil der der ja links sitzt. Die PS-Zahl ändert da nichts daran!
Grüße
Paul Ost
- Thomas Milser
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- Registriert: 14.05.2006
- Geschlecht:
Hab mich schon gewundert. Heute morgen stand da noch am Anfang, dass er auf dem linken Streifen fuhr... Und das würde meine 7-jährige Erfahrung als Autofahrer im Detmolder Land nur unterstützen... da kommt es schon mal vor, dass ein Neunzigjähriger (mt Filzhut) in Begleitung seiner Mutter vor einen grünen Ampel voll in die Eisen geht und bremst. Einmal ist sogar ein Opa aus seinem Wagen ausgestiegen, der an einer Kreuzung hielt, um mit seinem Hintermann im nächsten Auto zu reden. Leider hatte er die Handbremse vergessen, und der schwere Opel rollte ganz langsam führerlos über die Kreuzung in eine Hecke... was haben wir gelacht....
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)
hi paul, max und tom,
ja, eine plötzliche und ganz unerwartete wendung in dieser geschichte!
ich wollte mich schon mit den bahnbrechend innovativen luhmannschen theorien zu beschäftigen beginnen, um herauszufinden, auf welche weise sie das abbilden: mit 100 auf der linken spur, immer gradeaus und sich durch nichts und niemand aus der ruhe bringen lassen.
aber vielleicht ist gar nicht luhmann gemeint, sondern ...
ja, eine plötzliche und ganz unerwartete wendung in dieser geschichte!
ich wollte mich schon mit den bahnbrechend innovativen luhmannschen theorien zu beschäftigen beginnen, um herauszufinden, auf welche weise sie das abbilden: mit 100 auf der linken spur, immer gradeaus und sich durch nichts und niemand aus der ruhe bringen lassen.
aber vielleicht ist gar nicht luhmann gemeint, sondern ...
- Thomas Milser
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