Insel

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 18.09.2013, 20:55

Auf Chrisi, einer kleinen Insel vor der Küste Kretas, erlebte ich mein größtes Abenteuer.
Diotima, Monica und ich fuhren früh morgens mit einem kleinen Passagierschiff dorthin, spät nachmittags sollte das Schiff mit sämtlichen Passagieren an Bord wieder zurückfahren. Außer einer Familie, die auf der Insel eine Bar betrieb, durfte niemand dort übernachten. Die Insel steht unter Naturschutz.
Nach etwa einer Stunde Fahrt waren wir da. Direkt vor der Anlegestelle befand sich die erwähnte Bar, eine sehr einfache, rustikale Konstruktion. Wir ließen sie links liegen und marschierten geradeaus, um die andere Seite der Insel zu erreichen. Wir liefen über sandigen Boden und niedrige Wüstenvegetation. Ich fühlte mich wie auf einer Pirateninsel.
Nach kurzer Zeit waren wir am Ziel und ließen uns am Strand nieder. Diotima und Monica holten ihre Krimis heraus und fingen an zu lesen. Ich war ziemlich unschlüssig, auf einmal fasste ich einen seltsamen Entschluss: Ich würde um die Insel herumlaufen. Wir wussten, dass sie nicht sehr breit und nur einen Kilometer lang war, es hörte sich einfach an. Nach kurzer Überlegung kündige ich mein Vorhaben an, sie schauten mich amüsiert und skeptisch an, sie wussten, dass ich nicht der Mann bin, der Gefahr, Risiken und Abenteuer sucht. War ich auch nicht, nur das hier sah so einfach aus, es war sozusagen eine Möglichkeit, etwas Neues zu erleben, ohne die vertraute Umgebung zu verlassen, wie in einem Erlebnispark.
So begab ich mich auf diese Weltreise, wobei ich immer nur nach links, den Strand entlang zu gehen brauchte. »Bis nachher!«
Ich hatte Sandalen an, die nicht gut zum Marschieren geeignet waren, ich hätte sie aber ausziehen können. Mein erstes Ziel war ein Schiffswrack etwa dreihundert Meter entfernt. Als ich dort ankam, kam mir ein Pärchen entgegen, das offensichtlich bis dorthin gelaufen war und zurückkehrte. Niemand außer mir schien die gleiche Idee zu haben.
Ich lief und lief und lief, hatte keine Uhr dabei und fing an, etwas nervös zu werden. Ich wusste nicht, dass ein Kilometer so lang sein konnte. Ob ich mich verhört hatte? Ich sah schon die Spitze der Insel und irgendwann erreichte ich sie tatsächlich. Das Gehen auf dem feuchten Sand fiel mir immer schwerer. Jetzt brauchte ich nur noch um die Spitze herum den Weg immer nach links fortzusetzen. Da sah ich in der Ferne eine weiße Kapelle und richtete dorthin meine Schritte. Nach etwa zwanzig Minuten hatte ich sie erreicht, die kleine weiße Kapelle, wie sie überall in Griechenland anzutreffen sind. Die Tür stand offen, ich glaube sogar, dass es gar keine Tür gab. Ich trat ein. Drinnen gab es nur eine einsame Ikone, ich habe vergessen, ob eine Kerze davor brannte oder nicht. Neben der Kapelle stand ein kleiner Baum und an diesem hing eine Glocke, die ein leichter Wind sporadisch leise ertönen ließ, als ob er damit lustlos spielte.
Ich setzte meinen Weg fort, diesmal mitten durch die Insel, um Zeit zu sparen.
Ich wusste, dass es auf dieser Insel kein Wasser gab, hielt trotzdem nach Schlangen Ausschau ... Es gab schon Vegetation, aber alles sah trocken und verdorrt aus. Plötzlich kam aus dem Gebüsch rechts von mir lautes Geraschel ... Bevor ich meinen Schreck richtig wahrnehmen konnte, sprang ein Hase heraus und lief direkt vor meinen Füßen in das Gebüsch auf der anderen Seite, worin er augenblicklich verschwand. Ein Löwe hätte mich nicht mehr erschrecken können. Mit klopfendem Herzen ging ich weiter. Schwarze Vögel über mir schienen meine Angst bemerkt zu haben, sie begannen, immer tiefer über meinem Kopf zu fliegen. Ich bewaffnete mich mit einem Stock für alle Fälle. Die Vögel fingen an, laut zu schreien, aber Gott sei Dank verschwanden sie schnell wieder. Ich suchte wieder den Strand, der hier eher felsig war, aber flach. Da fiel mir etwas sehr Interessantes auf: Die Wellen hatten Meerwasser auf diese flachen Felsen getragen, das heißt, als sich die Wellen zurückzogen, war Salzwasser in den Mulden zurückgeblieben. Ich konnte direkt die Entstehung von Salz beobachten. Das Wasser in manchen Mulden war noch flüssig, je weiter die Mulden vom Meer entfernt waren, desto dickflüssiger wurde das Wasser, und da, wo kein frisches Wasser mehr hinkam, hatte sich unter der Mitwirkung der prallen Sonne weißes, reines Salz gebildet ... Ich dachte, genauso wie ich in diesem Augenblick müssen Menschen vor Tausenden von Jahren das Salz entdeckt haben. Ich nahm eine Handvoll davon mit, um es Diotima zu bringen.
Als ich endlich die Anlegestelle und die Bar erreichte, sah ich niemanden und beschloss, zu dem Strand zurück zu laufen, wo ich Diotima und Monica zurückgelassen hatte. Nur, ich verirrte mich ... Fast in Panik fing ich an zu rennen und als ich endlich die Stelle fand, war niemand mehr da ... Ohne anzuhalten lief ich wieder den Weg zurück und nach einer Zeit, die mir ewig vorkam, sah ich endlich von Weitem die Anlegestelle, das Schiff war schon da, alle Menschen waren an Bord, alle warteten nur noch auf mich ...

Das liegt über dreißig Jahre zurück. Vielleicht kehre ich eines Tages dorthin, vielleicht unternehme ich wieder den Versuch, die Insel zu umlaufen. Natürlich werde ich diesmal früher starten und zügiger gehen. Der Hase wird mich diesmal nicht mehr allzu sehr erschrecken.

Yorick

Beitragvon Yorick » 21.09.2013, 16:11

Zu spät, mein lieber Freund. Der alte Hase Angst ist längst zu Erde geworden, und auch die Vögel des Schreckens sind in dunklen Winkeln verendet. Was glaubst du heute zu finden auf der Insel? Dort ist nichts mehr außer den Gräbern der Frauen am Strand. Und eine verfallene Kapelle, in der fast einmal ein Mann etwas für sich gefunden hätte. Und vielleicht wäre er dann nicht mehr allein um eine Insel gewandert, hätte sich nicht verirrt, sondern hätte den Weg zu seinen Liebsten gefunden. Und wäre dort gewesen, an diesem Tag auf dieser Insel, die dann keine Insel mehr gewesen wäre, sondern ein Garten.

Was hast du mitgenommen von dieser Odysee, mein Freund? Ein Säckchen Salz? Das Salz des Lebens würde vielleicht ein Dichter sagen, um etwas Poesie in den bitteren Geschmack in der Kehle zu geben. Das Salz loben kann nur jemand, der keinen Durst verspürt. Aber dort war kein Wasser zu finden. Ist das nicht grausam? Umgeben vom endlosen Meer zu ertrinken? Weil wir mit unserem ängstlichen Geist die Quellen nicht finden, welche die Tiere so sorglos erspüren in den Rissen und Furchen der Erde? Du aber wanderst - wie vielleicht das Wrack zu wandern glaubt, wenn die Wellen daran vorbeiziehen vom offenen Meer.

Sind dir die anderen Männer begegnet auf deinem Marsch? Die ebenso wie du mit ausgreifendem Schritt die Strecke bewältigen wollten, das Ziel vor Augen? Nein? Wie auch, wandert doch jeder auf seiner Insel, auf seinem Eiland und sieht höchstens als Schatten den anderen Mann am fernen Ufer. Und selbst wenn doch jemand dir entgegen kommt, sich aus dem flimmernden Licht löst und du den einsamen Wanderer erkennst - was willst du teilen? Und so bleiben die meisten lieber König in der Einöde als Bettler im Paradies.

Und die Frauen, mein Freund? Genug sich selbst nach einer kurzen Wanderung. Es zerrt an unseren Heldenherzen, dass wir nun ebenfalls einfach in den Sand sinken könnten und es nichts zu erobern gibt außer diesen Raum des Hingegebenseins. Aber in dieser Stille schlägt unser Herz so laut als säßen wir mitten in einer schwingenden Glocke und mehr als der Mut treibt uns die Scham weg von diesem Ort, an dem wir keinen Frieden finden, weil keine Friede in uns ist. Und nie werden wir die Sehnsucht erfahren, die vielleicht in dem Blick lag, der uns fern als Punkt am Strand folgte, weil das Meer alles hinaussog in unerfüllbare Weiten. Auch sie träumen, den Traum den schon die Mütter in tiefer Ohnmacht träumten.

Die "goldene Insel", von den Griechen "Eselsinsel" genannt. Musst du da nicht auch lachen, mein Freund? Du sturer alter Bock, der unbedingt in seinen Käfig zurück will? Um es dem alten Angsthasen doch noch einmal zu zeigen, mit zackigem Marsch? Du erzählst eine traurige Geschichte, unbekannter Wanderer, und doch meine ich Oberon und Titania im Gebüsch kiechern zu hören. Und vielleicht steht ja doch noch die kleine Kapelle am Strand, und während draußen der Lärm der Brandung wütet brennt darin still eine Kerze im Nichts.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 03.11.2013, 01:29

Ich wollte immer dir antworten, ich habe es immer wieder verschoben.

Ich fand und finde deinen Kommentar besser als meine Geschichte.


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