Milch

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scarlett

Beitragvon scarlett » 25.10.2013, 21:06

Moment mal, was hast du da gerade gesagt, Mara?
Kein rotes Fleisch? Ok. Kein Weißmehl, kein Alkohol? Auch ok. Aber auf Milch und Käse verzichten? Never ever!

Lauthals brüllte Mona die letzten Worte ins Telefon.
Wie ein Tier im Käfig durchschnaubte sie das Wohnzimmer, hielt den Hörer fest umklammert und ans Ohr gepresst.

Jetzt beruhige dich doch, meine Güte, Mona, es gibt Schlimmeres.

Ja, natürlich, schlimmer geht immer, nicht wahr, hör doch auf mit diesem blöden Spruch. Du verstehst das nicht, Mara. Es geht ja hier nicht nur um ein einfaches Lebensmittel!

Worum denn dann, Mona? Das versteh ich in der Tat nicht.

Büffelmilch, flüsterte Mona jetzt.
Und sprach nach einer kurzen Pause weiter:
Mutters verzweifelte Versuche mich zu stillen, weißt du, quittierte ich mit Spucken und Schreien und totaler Verweigerung. Pulvermilch gab es damals bei uns noch nicht. Büffelmilch war somit die erste Milch, die ich verdünnt zu trinken bekam.
Fingerdick bildete sich der Rahm auf der gekochten Milch. Und wie der schmeckte! Als ich älter war, aß ich ihn auf frisches Brot gestrichen und mit Honig beträufelt.

Für den Urlaub am Schwarzen Meer, ich muss so fünf Jahre alt gewesen sein, hatten meine Eltern für teures Geld eine Packung Pulvermilch aus dem Westen organisiert. Damit das Kind seine Milch trinken kann. Aber ich trank sie nicht. Ich verweigerte und schrie so lange, bis Vater einen Bauern ausfindig gemacht hatte, von dem er mir jeden zweiten Abend einen Liter frische Kuhmilch brachte. Jedes Mal, wenn er sich mit der Milchkanne auf den einige Kilometer langen Weg machte, setzte ich mich auf einen Stuhl und wartete still so lange, bis er wieder zurück kam. Ich kannte den Weg nicht, den er ging, aber ich malte ihn mir aus. Und ich sah meinen Vater, der bei einbrechender Dunkelheit allein und nur für mich diesen Weg zwischen Büschen und verbranntem Gras entlanglief, um mir eine Milch zu bringen, in der ich alle Düfte der Landschaft und seine Gedanken zu finden glaubte.

Und dann Großmutters Katzen.
Ich konnte mich als Kind nicht sattsehen daran, wie sie ihre Milch schlabberten. Ich holte dann immer mein Stühlchen und setzte mich zu ihnen. Großmutter brachte auch mir ein großes Glas und musste, als ich es ausgetrunken hatte, immer meinen weißen Schnurrbart bewundern.
Und einmal sah ich zu, wie sie ein Kätzchen mit der Pipette aufpäppelte, das zu schwach war, um bei seiner Mutter zu trinken. Tröpfchenweise flößte sie ihm die weiße wunderbare Flüssigkeit ein, dank derer es schließlich überlebte. So wie ich jedes Kratzen im Hals mit heißer Milch und Honig, wenn die kalten Herbst- und Wintertage mal wieder stärker gewesen waren.
Und, Mara, niemals konnte ich mit Schokolade geködert werden, wiewohl es sie selten gab. Mit Käse hingegen schon.

Mara? Hallo? Bist du noch dran?

Alles gut, Mona, ja, ich bin noch dran. Und ich verstehe jetzt, glaub ich.

Milch, das ist auch verstofflichte Erinnerung für mich, Mara, und die muss genährt werden. Damit sie nicht zu mager wird und womöglich eines Tages ganz verschwindet. Deshalb kann ich darauf niemals verzichten.

Nachdem Mona aufgelegt hatte, ging sie in die Küche, nahm aus dem Kühlschrank eine Packung frische Vollmilch und öffnete sie. Na gut, dachte sie, muss ja vielleicht nicht immer und wie so oft früher gleich ein halber Liter oder mehr auf einmal sein. Sie schenkte sich ein Glas ein, wandte sich mit einem Prost Rheuma nach links, danach mit einem Prost Arthritis nach rechts und genoss die Milch in vollen Zügen.



/c/ mk, 10/13
Zuletzt geändert von scarlett am 26.10.2013, 11:49, insgesamt 1-mal geändert.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 26.10.2013, 10:15

Perfekt!

scarlett

Beitragvon scarlett » 26.10.2013, 10:18

oh carlos, mein text ist sicher nicht perfekt, aber es ist perfekt, dass ich ihn meinem immer noch zickenden handgelenk /ja, das auch!/ gestern abgerungen habe und darin einen guten teil frust bearbeiten konnte.

es freut mich sehr sehr, dass du ihn gelesen hast und dass er dir zusagt.

herzlich,
monika

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birke
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Beitragvon birke » 26.10.2013, 10:55

... in einem rutsch gelesen, sehr gelungen finde ich das, madame!!
die milch als essenz, als "verstofflichte erinnerung", im grunde als lebenselixier.

eine petitesse eventuell zum überdenken:

Worum denn dann, Mona? Das versteh ich in der Tat nicht.


hier könnte aus meiner sicht der zweite satz wegfallen ...

und hier scheint mir, als fehle ein verb??

So wie ich jedes Kratzen im Hals mit heißer Milch und Honig, wenn die kalten Herbst- und Wintertage mal wieder stärker gewesen waren.


mein kompliment für diesen text!

und alles liebe.

deine di

ps - wobei das mit den milchprodukten bei rheuma auch wohl unterschiedlich gesehen wird ... :smile:
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scarlett

Beitragvon scarlett » 26.10.2013, 11:02

danke, liebe di, auch für die anmerkungen.

die erste übernehm ich sofort, ja, da kann der zweite satz entfallen.

bei der zweiten anmerkung, da fehlt das verb nicht, es steht unmittelbar im satz davor ... überlebte. so wie ich /überlebte/ das kratzen im hals ... usw.
wobei mir dieses überleben des kätzchens auch wichtig als analogie zum baby ist, das ebenfalls durch die eingeflößte büffelmilch "überlebte", aber explizit will ich das nicht haben, deshalb hier das natürlich leicht ironisch gesagte überleben eines infektes ...

hab dank, für alles!

deine mo

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Beitragvon birke » 26.10.2013, 11:06

ja, verstehe! :smile:
deine di
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 26.10.2013, 11:07

Der wahre Alptraum bei einer solchen Neigung wäre Laktoseintoleranz (die ich zufällig habe, aber ich habe auch das Glück, dass mir Milch ohnehin nie geschmeckt hat - auch nicht in der Zeit, als ich Laktose noch vertragen konnte). Aber das nur nebenbei.
Was ich in dem Text nicht verstehe, ist die Bedeutung der "Brust-Verweigerung" am Anfang. Vielleicht muss ich ja nicht jedes Detail verstehen - aber ich hätte vermutet, dass ein Mensch, der eine so ausgeprägte Vorliebe für Milch entwickelt, ein genussvolles Stillkind gewesen sein müsse.

Grüße von Zefira
ps. Eben lese ich Deine letzte Antwort, die inzwischen hier erschienen ist. Ja, so wird es vielleicht verständlicher - aber ich empfinde die Brustverweigerung immer noch als nicht ganz rundes Detail. (Wobei natürlich nicht alles in einem solchen Text, der ja von Menschen mit Brüchen handelt, "rund" sein muss.)
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

scarlett

Beitragvon scarlett » 26.10.2013, 11:41

liebe zefira, hab dank fürs lesen und deine wortmeldung.

nun ja, was soll ich sagen, es gibt keine erklärung dafür, warum das kind kein stillkind war, tatsache ist, es wollte ums verrecken nicht! die verzweiflung der mutter, der frust muss immens gewesen sein, das baby hat sich förmlich angewidert immer wieder abgewandt- ob ihm die muttermilch einfach nicht geschmeckt hat? keine ahnung. war die mutter ungeschickt? keine ahnung, aber das kann ich mir in diesem konkreten fall nicht vorstellen.
tatsache ist, aber das nun ganz nebenbei und ot, dass selbst der versuch mit einer amme /ja, das gab es in siebenbürgen damals noch/ nichts gebracht hat.
die büffelmilch hingegen hat das kind von anfang an "gesoffen" :-)

ich fürchte, das muss im text einfach so stehen bleiben, weil es schlicht keine erklärung dafür gibt!
ich wüsste auch nicht, was ich "erfinden" könnte ... das nicht zu dramatisch oder überzogen daher käme. oder? was meinst du? ist es sooo wichtig oder kann der leser das letztlich so akzeptieren?

liebe grüße,
scarlett

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Beitragvon Zefira » 26.10.2013, 12:07

Es wird für mich irgendwie einleuchtender, wenn es, wie Du es eben getan hast, genauer beschrieben wird. Vielleicht solltest Du in diesem Punkt schon im Text etwas ausführlicher sein. Aber das ist nur meine Privatmeinung, selbstverständlich funktioniert es auch so, wie es jetzt da steht.
Mir gefällt die Geschichte (obwohl ich Milch hasse, mir wird regelrecht übel schon von dem Geruch, und wie gesagt vertrage ich sie ohnehin nicht mehr. Eis und Käse esse ich aber gerne).

Grüße von Zefira, die jetzt Appetit auf Eis hat ...
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(Ikkyu Sojun)

scarlett

Beitragvon scarlett » 26.10.2013, 12:11

danke, zefira, ich werde das dann nochmals überdenken und vielleicht tatsächlich noch etwas einfügen in den text an erklärungen. es darf mir nur nicht zu viel werden, ausufern ... und dazu besteht bei mir immer die tendenz ...

scarlett

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Beitragvon birke » 26.10.2013, 14:26

... ich weiß nicht, ob es tatsächlich weitere erklärungen braucht ...
ich füge dieses erlebnis/ ereignis so in den text, dass die protag. ihre eigene verweigerung (jedenfalls heute) als entbehrung empfindet - (oder ist das zu weit hergeholt??) und genau deshalb nun (und schon damals) eine vorliebe für milch entwickelt hat. (dazu passt für mich auch das bild mit dem kätzchen.) ...

:smile:
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pjesma

Beitragvon pjesma » 26.10.2013, 18:49

es gefällt mir diese verbindung von milch und erinnerung, es geht mir ähnlich :-)
(leider auch mit rheuma :-( )
lg, pjesma

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 26.10.2013, 19:05

Ich will hier nur nebenbei sagen, wie sehr ich von allen Kommentaren lerne: Es ist, für mich, ein permanenter Lernprozess!

Die Geschichte könnte für mich, so wie sie da steht, sofort in eine Anthologie übernommen werden. Wie viele, übrigens, in diesem Forum.

scarlett

Beitragvon scarlett » 27.10.2013, 11:19

liebe di, wenn das für dich so passt im text, ja, warum nicht?
sagen will ich dazu nichts weiter, wäre alles metaebene.
hab dank!

freut mich, pjesma, dass du was anfangen kannst mit dem text. danke fürs kundtun.
nun ja, und was das andere betrifft ... darf ich dir pn schreiben?
herzlich!

danke, carlos, ein mal mehr!

lg
scarlett


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